E r i n n e r n
Entgegen landläufiger Meinung fußt Erinnern nicht nur in der Vergangenheit, sondern gleichermaßen in der Gegenwart. Denn die Gegenstände wie auch die Art und Weise des Erinnerns sind Ausdruck des aktuellen Selbstverständnisses des Menschen und von der augenblicklichen politischen Kultur mit geprägt. Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik geben daher einen unmittelbaren Einblick in Selbstsicht und Wertmaßstäbe einer Gesellschaft.
Nur wer sich seiner Identität bewusst ist und weiß, woher er kommt und wie er geworden ist, wird in der Lage sein, die Anforderungen ständigen Wandels in Gegenwart und Zukunft in einer angemessenen Weise zu bestehen. Geschichtliche Arbeit und Erinnern verstehen wir in der Friedrich-Ebert-Stiftung insofern nie als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung für verantwortungsbewusstes politisches Handeln.
In diesem Sinne hat die Friedrich-Ebert-Stiftung als älteste politische Stiftung seit Jahrzehnten der historischen Selbstverortung als Basis für Politik ein ganz besonderes Augenmerk gewidmet und stärker als andere Stiftungen finanzielle Mittel in ihrem Historischen Forschungszentrum gebunden.
Die Stiftung hat sich von Anfang an der Pflege der Tradition der sozialdemokratischen Bewegung (Partei und Gewerkschaften) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewidmet, deren gedrucktes und ungedrucktes Erbe sie in der Bibliothek und im Archiv der sozialen Demokratie, im Karl-Marx-Haus und in der Forschungsabteilung hütet und in Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen einer breiteren Öffentlichkeit näher bringt.
Tradition haben wir aber immer auch in einem weiteren Sinne verstanden und auf die gesamte neuere, nicht nur deutsche Geschichte bezogen. Einen besonderen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet deshalb seit den 60er Jahren die aktive Geschichts- und Erinnerungsarbeit mit Bezug auf die beiden deutschen Diktaturen und den Widerstand als Moment der moralisch-politischen Legitimierung heutiger demokratischer Politik.
Das geschieht auf vielfältige Weise - in Zeitzeugenarbeit und Gedenkstättenbesuchen, in Totengedenken und öffentlichen Kranzniederlegungen, in historisch-politischen Gesprächskreisen und in Ausstellungen, in Vorträgen und Podiumsdiskussionen sowie in größeren Forschungsprojekten. So setzen wir uns in mannigfachen Formen mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus sowie mit der SED-Diktatur ebenso auseinander wie mit Rechtextremismus und Neonazis.
Erinnern hat auch jeweils die Funktion, ältere unterdrückte oder nichtrealisierte demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte wachzurufen und zu vergegenwärtigen. Diese Funktion kommt in einem Land mit vielen historischen Brüchen eine besondere Bedeutung zu. So ist 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs daran zu erinnern, das die junge deutsche Demokratie nach 1945 durchaus an demokratische Traditionen anknüpfen konnte. Die westlichen Sieger, die ja gleichzeitig auch Befreier waren, erinnerten die Deutschen gerade an die demokratischen Freiheitstraditionen, die seit dem Hambacher Fest von 1832 und der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichte angelegt waren. Erinnern bedeutet in diesem Sinne: Klärung der historischen Grundlagen und der demokratischen Antriebskräfte unserer Vergangenheit; Offenlegen der antidemokratischen Gegenkräfte, deren genaue Kenntnis für die Verteidigung der Demokratie notwendig ist; Freilegen von Ansätzen historischer und sozialer Gestaltung der Gesellschaft und ihrer zivilgesellschaftlichen Kräfte.
Neben der historischen Forschung bietet die Friedrich-Ebert-Stiftung umfangreiche Angebote der außerschulischen Bildung, die sich mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts und der Fundierung des demokratischen Gemeinwesens befassen. Viele Landesbüros und politische Akademien haben sich erinnerungspolitische Schwerpunkte gesetzt: Die "Gesellschaft für Politische Bildung e.V. Frankenwarte" in Würzburg führt regelmäßige Seminare mit der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem durch, das FES-Büro Leipzig veranstaltet jährlich das so genannte Bautzen-Forum, bei dem die Aufarbeitung der DDR-Diktatur wie auch die Notwendigkeit der politischen, rechtlichen und psychischen Hilfen für die Opfer der DDR-Diktatur im Mittelpunkt stehen. Einen weiteren Schwerpunkt dieser Arbeit bilden verschiedene Online-Angebote aus der Bibliothek der FES, z.B. die "Netz-Quellen" für Schüler, Studierende und Lehrer mit Themen wie "Rechtsextremismus", "Deutsch-polnische Beziehungen" und "Zwangsmigrationen und Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts". Auch die äußerst erfolgreichen Themenmodule "Geschichte - Erinnerung - Demokratie" und "Rechtsextremismus" der OnlineAkademie gehören hierzu.
"Wehret den Anfängen!" und "Nie wieder!" sind die zentralen Botschaften, die wir aus der Erinnerung an die Verwerfungen und Katastrophen der jüngeren deutschen Vergangenheit ableiten und für Gegenwart und Zukunft wach halten.
_________________
Prof. Dr. Dieter Dowe
Leiter des Historischen Forschungszentrums
der Friedrich-Ebert-Stiftung
|