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Wirtschaft: Konjunkturabschwung und makroökonomische Ungleichgewichte

Seit den 50er Jahren ist Kolumbien eines der wirtschaftlich stabilsten Länder Lateinamerikas, da es gelang, makroökonomische Stabilität mit nachhaltigem Wachstum zu verbinden. Während die 80er Jahre für Lateinamerika insgesamt als „verlorene Dekade" bewertet wurden, wuchs die kolumbianische Wirtschaft in dieser Zeit mit (akkumuliert) 43,6 Prozent am stärksten auf dem Kontinent. Zwischen 1980 und 1995 stieg nur das Prokopfeinkommen Chiles schneller als das Kolumbiens. Kluges makroökonomisches Management und eine stabile Wirtschaftspolitik erlaubten Kolumbiens wirtschaftlicher Performance, auch nach dem Liberalisierungsprozeß Anfang der 90er Jahre in der lateinamerikanischen Wirtschaftsentwicklung einen vierten Platz nach Argentinien, Chile und Peru zu erreichen. Und dies trotz des sich verschärfenden uneingestandenen Bürgerkriegs, trotz Anomie und Gewalt im Lande.

Mit dem Abschwung seit 1996, dem zunehmendem Abwertungsdruck auf den kolumbianischen Peso, mit steigendem Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizit sowie mit der von fast allen Wirtschaftsinstituten für 1999 prognostizierten Rezession mit wachsenden Arbeitslosenraten und höheren Zinsen wird die wirtschaftliche Entwicklung Kolumbiens der letzten Jahrzehnte kritischer gesehen. So wird konstatiert, die positive Entwicklung zwischen 1975 und 1996 sei vor allem auf günstige externe Konjunkturimpulse legaler (Öl- und Kohleexport, hohe Kaffeepreise) und illegaler Art (Drogenhandel) zurückzuführen. Mit niedrigen Spar- und Investitionsraten habe das Land sich daran gewöhnt, über seine produktiven Verhältnisse zu leben und eine Kultur der Spekulation und des Konsums entwickelt. Die wirtschaftliche Öffnung in der Regierungszeit des Präsidenten Gaviria zu Beginn der 90er Jahre habe dann die bisher verdeckten Strukturschwächen der kolumbianischen Wirtschaft offengelegt und die Einkommens- und Vermögenskonzentration weiter verstärkt:

Fünf Wirtschaftsgruppen kontrollieren (je nach Quelle) 15% bis 30% des BIP, fünf Finanzgruppen ca. 92% der Aktiva des Finanzsektors, 1,3% der Eigentümer besitzen mehr als 48% des Bodens, vier Gruppen sind Eigentümer von 80% der Kommunikationsmedien. Nach Angaben des Statistischen Amtes (DANE) bezogen 1997 die unteren 50% der Haushalte nur noch 9,5% (1992: 20,9%), die oberen 10% dagegen etwas mehr als 58% der Einkommen (1992: 33%). Nach Berechnungen des Forschungsinstituts der Gewerkschaft CGTD verschlechterte sich der Gini-Koeffizient von 0.430 im Jahre 1992 auf 0.721 im Jahre 1997. Selbst wenn solche Berechnung im Vergleich der Daten von Statistischem Amt (DANE) oder Weltbank, die den Gini-Koeffizienten mit 0.53 bis 0.56 angeben, interessengeleitet scheint, hat Kolumbien mit Brasilien und Venezuela die ungünstigste Einkommensverteilung Lateinamerikas.

Kein anderes lateinamerikanisches Land realisierte so umfangreiche Strukturreformen in so kurzer Zeit wie Kolumbien zwischen 1991 und 1994: Außenhandel und Finanzsystem wurden liberalisiert, Sozialversicherung, Arbeitsmarkt, Gesundheitssektor, Justiz- und staatliche Einnahme- und Ausgabe-Systeme reformiert. Die Zollbarrieren, die 1990 durchschnittlich noch 45% betrugen, wurden bis 1994 auf 10% gesenkt, Auslandsinvestitionen erheblich erleichtert. Der wirtschaftliche Öffnungsprozeß bewirkte Wachstumsraten von über 5% und eine erhebliche Zunahme der Auslandsinvestitionen seit 1991.

Die neue Verfassung von 1991 verstärkte Dezentralisierungsprozesse, erhöhte aber zugleich die Ausgabeverpflichtungen des Staates in Form von Transfers an die dezentralisierten Körperschaften, unterschiedlichen Subventionen der reformierten Sozialversicherungsysteme, Gründung neuer öffentlicher Institutionen und die Angleichung der Lohn- und Gehaltsniveaus der Beschäftigten im Justiz- und Militärsektor.

Seit 1993 wuchsen sowohl das Handelsdefizit, zunächst wegen des modernisierungsbedingt zunehmenden Imports von Ausrüstungsgütern bei geringerer Steigerung der Exporte, als auch das Leistungsbilanzdefizit (6,6% - 7% des BIP im Jahre 1998), das damit nach Brasilien den zweithöchsten Wert des Kontinents (Lateinamerika 4,2% des BIP) erreichte.

Externe und interne Ursachen des Abschwungs : Wirtschaftsperformance 1998/99

Die mit einem zunächst prognostizierten Wachstum von 4,3% für 1998 verbundenen Hoffnungen auf eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Erholungstendenzen aus dem Jahre 1997 (Wachstum: 3,1%) nach dem Abschwung von 1996 (2%) wurden mit einem inzwischen für 1998 erwarteten Wachstum von nunmehr 1,8% enttäuscht. (Alle Zahlen für 1998 sind noch vorläufiger Natur.) Für 1999 wird die Talsohle der Rezession mit 0 - 1,5% Wachstum erwartet.

Der Abschwung hat interne und externe Ursachen: Der Preisverfall (zwischen 39% und 19%) wichtiger kolumbianischer Exportgüter wie Öl, Kohle, Kaffee und Nickel im letzten Jahr verschlechterte, trotz Erhöhung der Produktion von Öl und Kohle, die Leistungsbilanz des Landes. Die südostasiatische und später die russische Krise reduzierten den Zugang zu internationalem Kapital und die Perspektiven der Weltwirtschaft. Sie erhöhten auch den Abwertungsdruck auf die lateinamerikanischen Währungen insgesamt, bewirkten weiteren Preisverfall wichtiger kolumbianischer Exportgüter und verschärften somit die Konkurrenzsituation für verarbeitete Exporte des Landes. Eine wichtige Lektion des Jahres 1998 ist für Lateinamerika, daß die Außenverwundbarkeit trotz der Strukturreformen der 90er Jahre hoch bleibt.

Nach Schätzungen des Wirtschaftsinstituts FEDESARROLLO (vom September 1998) verringern sich die kolumbianischen Exporte im Jahre 1998 um ca. 4%, allerdings reduzieren sich - wegen des Wirtschaftsabschwungs und der Pesoabwertung - auch die Importe um ca. 1%. Wegen der sinkenden Auslandsinvestitionen und geringerer Einnahmen durch Privatisierungen von Staatsbetrieben verschlechterte sich ebenfalls die Kapitalbilanz. Die Auslandsschuld Kolumbiens erhöhte sich auf 31 Milliarden US $ und damit 35,3% des BIP (Nettoaußenschuld: 23 Milliarden, 26% des BIP). Die internationalen Reserven fielen um 1,7 Milliarden US $ auf etwa 8,5 Milliarden gegen Ende des Jahres, was einer Importdeckung von 5,6 Monaten entspricht.

Binnenursachen des Wirtschaftsabschwunges sind vor allem die steigenden, zeitweise über 20% hohen Realzinsen, u.a. als Folge der crowding out-Effekte des steigenden Haushaltsdefizits (die Angaben für das konsolidierte Haushaltsdefizit variieren zwischen 4,3 bis 3,9% des BIP und 4,9 - 5% des BIP für den Haushalt der Zentralregierung), zum Teil auch als Folge des Kampfs gegen den Abwertungsdruck des Peso.

Der Finanzsektor, der durch die Liberalisierungsprozesse, Privatisierung von Banken und durch starke Auslandsinvestitionen in der ersten Hälfte der 90er Jahre mit durchschnittlich fast 10% am schnellsten wuchs, ist mit fast 14% Minuswachstum 1998 der vom Wirtschaftseinbruch am stärksten betroffene Sektor. Die Illiquidität der Wirtschaft, eine weiter sinkende Sparrate (ca. 10%), der Rückgang der Kreditnachfrage und die hohen Zinsen führten zu einer Finanzkrise, die die Regierung nur durch Sondersubventionen und Ausrufung des „ökonomischen Notstandes" im November1998 glaubte bekämpfen zu können. Finanziert wurde das Subventionsprogramm durch eine Art Tobin-Steuer auf alle Finanztransaktionen in Höhe von 2 Promille.

Die Industrie wuchs 1998 um etwa 2% und arbeitete lediglich mit etwas weniger als 70% ihrer Kapazitäten. Mit ca. 18% befindet sich ihr Anteil am Gesamtprodukt wieder etwa auf dem Niveau der beginnenden 50er Jahre. Die Produktion des Agrarsektors (ohne Kaffee) ging 1998 um 4,7% zurück. Seine nun schon mehrjährige Agonie ist durch zunehmende Landbesitzkonzentration, die sich verschärfende Gewaltsituation auf dem Lande und Naturphänomene wie El Niño (1997) und La Niña (1998) verursacht. Daß Kolumbien 1998 noch ein leichtes Wachstum zu verzeichnen hatte, lag vor allem am Bergbausektor, Öl und Kohle, der trotz der niedrigen Weltmarktpreise (8,00 - 10,65 US $ pro barrel für Öl) und trotz der häufigen Pipeline-Zerstörungen durch die Guerilla um 16% wuchs. Nach dem gänzlich erfolglosen OPEC-Treffen vom November 1998 steht jedoch zu erwarten, daß der Sektor 1999 nicht im gleichen Maße zum Wirtschaftswachstum beitragen kann.

Neben dem Finanz- war der Bausektor von der Krise am stärksten betroffen. Sein Minuswachstum wird auf bis zu 9% geschätzt. Seine Performance hatte auch die stärksten Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Mit 15,9% Arbeitslosenrate ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt die schlechteste seit 22 Jahren. Die sogenannte verdeckte Arbeitslosigkeit oder „Unterbeschäftigung" stieg auf 20,7% der ökonomisch aktiven und 29,1% der beschäftigten Bevölkerung. Am stärksten betroffen sind junge Menschen mit Sekundarschulausbildung, Frauen und die ländliche Bevölkerung.

Bei den geringen Wachstumserwartungen für 1999 und angesichts der Notwendigkeit, sowohl auf zentraler als auch auf dezentraler Ebene das Haushaltsdefizit zu reduzieren, ist eine Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten beiden Jahren kaum zu erwarten. Die Regierung hat zwar den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit neben dem Friedensprozeß zu ihrer Priorität erklärt und ein Programm zur Unterstützung des sozialen Wohnungsbaus und von Steuerermäßigungen für Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, u.a.m. aufgelegt. Dennoch werden wegen der Reduzierung der Staatsausgaben und der Restrukturierungen bzw. Zusammenlegungen öffentlicher Institutionen, verbunden mit Entlassungen im öffentlichen Sektor, keine Beschäftigungsimpulse vom Staatssektor ausgehen. Manche Experten rechnen vielmehr mit Entlassungen von 30.000 - 150.000 Personen.

Welche Anpassungspolitik zur Beseitigung der Ungleichgewichte?

Neben internationalen Rahmenbedingungen und Fortschritten im begonnenen Friedensprozeß ist die Reduktion der Defizite in der Leistungsbilanz und im Staatshaushalt entscheidend für die Beseitigung der makroökonomischen Ungleichgewichte Kolumbiens und damit für einen erneuten Aufschwung ab dem Jahre 2000. Gestritten wird unter kolumbianischen Wirtschaftsexperten über die Vorrangigkeit der Beseitigung der externen Ungleichgewichte (Leistungsbilanzdefizit) durch eine erneute Abwertung oder der internen qua Reduktion des Haushaltsdefizits.

Die Befürworter der ersten Position empfehlen neben der Verschiebung des Wechselkursbandes flankierende Kontrollen der Kapitalbewegungen, eine Revision der Außenzölle zwecks Senkung der Importe, Exportsubventionen und gezielte staatliche Politiken zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit von Industrie und Landwirtschaft. Ein vorrangiges Bemühen um Senkung des Handelsbilanzdefizites sei prozyklisch und treffe vor allem die unteren Schichten.

Aus der Sicht der Regierung ist trotz Brasilienkrise nach der Senkung der Wechselkursbandbreite vom September 1998 der Außenwert des Peso wieder im Gleichgewicht. Für sie wie für den IMF hat die Senkung des Haushaltsdefizits Priorität:

Die Staatsausgaben stiegen zwischen 1990 und 1998 um mehr als 60%. Von den 45 Billionen Kolumbianischen Peso des Haushalts werden nur 17.8 durch Steuereinnahmen, 19.1 durch Binnen-, 5.2 Bio durch Außenverschuldung, der Rest durch Transfers der zunehmend unterfinanzierten Staatsbetriebe (4.1), Privatisierungen (2.5) und Lizenzen finanziert (ca 1.550 kol.-$ = 1 US-$). Auf der Ausgabenseite sind mehr als 20% als „Dezentralisierungstransfers" durch Verfassungsverpflichtungen von 1991 und über 30% durch den Schuldendienst gebunden. Hinzu kommt der jährlich steigende Aufwand für „Verteidigung und Sicherheit", der 1999 auf 5 Bill. Peso geschätzt wird (1990: 423 Mrd.).

Andererseits gehört Kolumbien mit einer Steuerquote von 12.6 % des BIP (für die Zentralregierung) zu den Ländern Lateinamerikas mit dem geringsten Steueraufkommen bzw. mit der geringsten Steuerlast. Siebzig Gesetze begründen Steuervergünstigungen, -ausnahmen bzw. Sonderregelungen, so eine kürzlich erschienene Studie. Nach Angaben der nationalen Steuer- und Zollbehörde (DIAN) werden 30% der Einkommens- und 32% der Mehrwertsteuer hinterzogen. Angesichts dieser Situation und wegen der relativ geringen Möglichkeiten, sich auf den internationalen Kapitalmärkten zu bedienen, legte die Regierung Ende 1998 ein „Anpassungspaket" auf, mehr, um die Staatseinnahmen zu erhöhen, als um die Staatsausgaben zu senken.

Die dem Parlament vorgelegte Steuerreform sieht den Abbau von Steuerausnahmeregelungen vor und eine Verbreiterung der Mehrwertssteuerbasis, allerdings bei Beibehaltung unterschiedlicher Mehrwertsteuertarife. Ferner sollen eine verstärkte Bekämpfung und Bestrafung des Schmuggels, - etwa 22% der Steuereinkünfte resultieren aus Zolleinnahmen -, die höhere Bestrafung von Steuerumgehung und -hinterziehung und eine Verbesserung der Steuereintreibungssysteme die Einnahmen stärken. In einem zweiten Gesetzespaket schlug die Regierung eine auf zwei Jahre begrenzte mit 10% verzinste „Vermögenssteuer" als „Bonus der Solidarität für den Frieden" vor, die in einen „Friedensfonds" einfließen und mit denen Investitionen zugunsten des Friedensprozesses finanziert werden sollen. Diese eigenwillige Konstruktion ergab sich aus der Unmöglichkeit, im Parlament eine ursprünglich vorgesehene „normale" Vermögenssteuer durchzusetzen.

Die bisher nicht sichtbaren Erfolge beim Versuch der Beschneidung der Staatsausgaben wie auch die Aufweichung des Steuerreformpakets im Parlament lassen für 1999 eher eine Anpassungspolitik „a la colombiana" erwarten, d.h. politischer, dem Druck vieler Interessengruppen nachgebender Pragmatismus statt einer raschen, die makroökonomischen Ungleichgewichte verbessernden, zielorientierten Fiskalpolitik verbunden mit Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit kolumbianischer Exporte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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