FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:



Der bewaffnete Konflikt: Akteure, Ursachen, Chancen

Der bewaffnete Konflikt hat seine Wurzeln in der teilweise lang zurückliegenden Vergangenheit. Schon das letzte Jahrhundert war geprägt durch Konflikte zwischen den beiden großen Parteien Kolumbiens, den Liberalen und den Konservativen, den ältesten Parteien des Kontinents. Besonders dramatische Formen nahmen die Auseinandersetzungen in der Zeit der sogenannten „violencia" (1948 - 58) vor allem in ländlichen Gebieten an. Parteitreue stand damals über Bürgerrechten, der Nationenbildungsprozeß Kolumbiens wurde dadurch verlangsamt, das Gewaltmonopol des Staates aufgegeben.

In gewisser Weise bezahlt Kolumbien derzeit den Preis für die ungenügende Aufarbeitung seiner Eliten sowohl der Probleme der „violencia", einer der weltweit größten Bauernmobilisierungen des 20. Jahrhunderts (E. J. Hobsbawm), als auch der anschließenden Zeit der „Nationalen Front" (Frente Nacional: 1958-86), in der sich die beiden großen Parteien ohne parlamentarische Opposition und unter Ausschluß anderer sozialer Bewegungen Macht und Posten teilten. Für alle Länder kommt früher oder später der Zeitpunkt, an dem sie den „peinlichen" und schuldvollen verdrängten Teil ihrer Vergangenheit annehmen müssen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die Kirche Kolumbiens und andere Teile der Gesellschaft haben ihre Verantwortung für die Vergangenheit jedoch bisher kaum akzeptiert. So ist Kolumbien das einzige größere Land Lateinamerikas, in dem nie eine Umverteilung des Landes, eine Agrarreform, durchgeführt wurde.

Theoretisch könnte man annehmen, wenn die Ursachen eines gesellschaftlichen bewaffneten Konfliktes erkannt seien, so ließen sich auch Lösungen in Form von Reformen erarbeiten. Die Ursachen des bewaffneten Konflikts sind aber mit der Zeit diffuser geworden, neuere Phänomene überlagern und vermischen sich mit den „ursprünglichen" Ursachen und bilden so neue Kontexte der Konfliktbewältigung. Zwar sind die ursprünglichen Motive sozialer Gerechtigkeit, Land-, Einkommens- und Vermögensverteilung oder stärkere Teilnahme an politischer Macht weiter vorhanden. Dennoch scheinen die Guerillagruppen heute größeren Wert auf die Kontrolle der von ihnen beherrschten ländlichen und kleinstädtischen Territorien und auf die Etablierung ihrer Autorität über deren Bevölkerung zu legen. Berechtigte Ansprüche auf mehr justicia social (soziale Gerechtigkeit) verbinden sich mit militärischen Motiven, sozialer Aussonderung und Wirkungen jahrzehntelangen Kampfes in abgelegenen Regionen des Landes. Schwierigkeiten der Integration in die Moderne, Fragmentierung und mangelnde Legitimität der offiziellen politischen Repräsentanten, zunehmende Unklarheiten - als soziale Wirkung des Drogenhandels - über die Grenzen zwischen Legalem und Illegalem sowie ein nur oberflächliches Wurzelwerk nationaler Identität sind zu einem heterogenen Kontext anachronistischer und „postmoderner", desinstitutionalisierter Konfliktursachen geworden.

Ursprünglich aus rein wahlkampftaktischen Gesichtspunkten - denn in Friedensfragen hatte der liberale Gegenkandidat Horacio Serpa größere Glaubwürdigkeit und ausgeprägteres Profil - versprach der spätere konservative Präsident Andrés Pastrana nach dem für ihn enttäuschend ausgegangenen ersten Wahlgang ein baldiges Treffen mit dem inzwischen schon legendenumwobenen 70jährigen Führer der größten Guerilla Kolumbiens, FARC - EP, Manuel Marulanda Vélez, alias „Tirofijo" (Sicherer Schuß) nach seinem Wahlsieg. Andrés Pastrana, fließend englisch sprechender Expräsidentensohn, schien der Guerilla als Vertreter der kolumbianischen „Oligarchie", des Establishments, der geeignete Gesprächspartner. Ihre entsprechenden Äußerungen und Zeichen trugen zu seinem Sieg bei.

Page Top

Konfliktmüdigkeit der Kolumbianer

Ein erstes Treffen zwischen Pastrana und Manuel Marulanda am 9. Juni 1998 und der formelle Beginn der Gespräche zwischen FARC und Regierung am 7. Januar 1999, 50 Jahre und 11 Monate nach der Ermordung des liberalen Volkstribuns Jorge Eliecer Gaitan, weckten große Friedens-Hoffnungen in der kolumbianischen Bevölkerung. Nach 200.000 Gewaltopfern der durch die Ermordung Gaitan‘s ausgelösten „violencia" (1948-58), die in ihren Formen an den europäischen Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts erinnerte, und nach ca. 500.000 Gewaltopfern in den letzten 25 Jahren ist die Bereitschaft zu einem Friedensschluß auch mit Zugeständnissen der politisch und wirtschaftlich dominierenden Schichten Kolumbiens größer als je zuvor. Auch die offenere Haltung der US-Administration, die bisher Kolumbien lediglich unter Gesichtspunkten der Drogenbekämpfung sah und jegliches Gespräch mit „Narco-Terroristen" ablehnte, jetzt aber Verhandlungen als Option innerhalb ihrer Anti-Drogenpolitik anerkennt, kann als günstige Voraussetzung gewertet werden. Fortschritte im Friedensprozeß werden deshalb im laufenden Jahr der Maßstab zur Beurteilung der Regierung Pastrana auch in der Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik werden.

Die zunehmende Desinstitutionalisierung des bewaffneten Konflikts in den letzten Jahren hat mehrere Gründe. Hierzu gehört beispielsweise die Vervielfachung der sogenannten „Fronten" der Guerilla, der Zonen und Regionen des bewaffneten Konflikts. Auch die Tatsache, daß die Akteure seit Jahren ohne die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung agieren, sowie über 1 Million von durch Gewalt Vertriebenen (desplazados) und die zunehmende militärische Macht und Verselbständigung der von großen Landbesitzern, Drogenhändlern und Teilen des Militärs ins Leben gerufenen „Paramilitärs" haben dazu beigetragen. Bedeutsam waren schließlich die Unfähigkeit des Militärs, gegen die Guerilla Erfolge zu erringen, seine Delegation der „Schmutzarbeit" an die Paramilitärs sowie seine Verwicklungen in Drogenhandel und terroristische Aktionen gegen die Zivilbevölkerung.

Als positiven Aspekt dieser Desinstitutionalisierung mag man die Tatsache betrachten, daß sie eine Polarisierung der Bevölkerung verhinderte. Im Unterschied zur mittelamerikanischen Situation ist der größte Teil der kolumbianischen Bevölkerung, in den Städten wie in den von der „violencia" betroffenen ländlichen Zonen, massiv gegen die Konfrontation. Sie identifiziert sich nicht mit den bewaffneten Protagonisten.

Über Jahre bewirkten der Terrorismus des Narcotráfico (Drogenhandel) und die mit ihm verbundene Korruption und Desorientierung nur zaghafte und unorganisierte Ausdrucksformen der öffentlichen Opposition gegen die Gewalt. Dies hat sich geändert: Die zahlreichen Netze und Friedensinitiativen der zivilen Gesellschaft, die klare Haltung der Kirche oder die erneuten öffentlichen Debatten über Reformen manifestieren den Friedenswillen der kolumbianischen Bevölkerung.

Window of opportunities

Mehrere Faktoren scheinen dafür zu sprechen, daß sich derzeit ein größeres window of opportunity für den Friedensprozeß geöffnet hat als in Zeiten früherer Friedensversuche. Anders als während der breit angelegten klugen Friedensbemühungen der Regierung Belisario Betancur (1982-86) ist heute die zivile Gesellschaft Kolumbiens stärker formiert und artikuliert. Dafür sprechen u.a. der in der Geschichte Kolumbiens einmalige Vorgang von 2,8 Millionen Stimmen für eine unabhängige Kandidatin, Noemi Sanin, im ersten Wahlgang für die Präsidentschaft am 31. Mai 1998 und die ebenfalls einmalig hohe Wahlbeteiligung im zweiten Durchgang, die Präsident Pastrana, trotz knappen Wahlausgangs, die höchste Stimmenzahl eines Präsidenten in der Geschichte des Landes bescherte.

Die Amtszeit Präsident Sampers (1994-98), die bewußt oder unbewußt akzeptierte Teilfinanzierung seines Wahlkampfs durch das Cali-Drogenkartell und seine klientelistische Machterhaltungspolitik dienten Teilen der kolumbianischen Gesellschaft gewissermaßen als Spiegel ihrer eigenen politischen Apathie sowie der Verstrickung und stillen Komplizenschaft mit den finanziellen Wohltaten der Drogengelder und den Praktiken des Klientelismus und der Korruption. Das Paria-Image Kolumbiens im Ausland und die Krise seines politischen Systems wurden in der Öffentlichkeit bewußter wahrgenommen. Ein Gefühl von „so kann es nicht weitergehen" erfaßte auch größere Teile der „stillen Teilhaber" bzw. Nutznießer in den politischen und wirtschaftlichen Eliten Kolumbiens.

Seit der Überwindung der Militärdiktatur Rojas Pinilla durch eine dauerhafte Große Koalition (Frente Nacional) der beiden Parteien Kolumbiens überließ die politische Klasse der Armee militärische Aufgaben unter der Bedingung, daß sich die Militärs ihrerseits nicht in die Politik einmischten. Verstärkt durch den Kalten Krieg führte diese Praxis zu einer zunehmenden Autonomie der Militärs, damit ihrer Sicht und ihrer Behandlung des bewaffneten Konflikts im Lande. Die sozialen Probleme, die über lange Zeit die Guerilla am Leben hielten, sah man lediglich unter dem Gesichtspunkt von Subversion und Delinquenz. Erst Präsident Gaviria (1990-94) erlaubte sich, einen zivilen Verteidigungsminister einzusetzen. Dennoch war es dem Militär möglich, weiterhin relativ unabhängig gegenüber der Guerilla zu agieren. So konnten beispielsweise die Bemühungen Präsident Sampers um die Eröffnung eines Friedensprozesses im Jahre 1995 durch das Militär konterkariert werden, indem dieses sich weigerte, eine Kommune zu entmilitarisieren, in der die Friedensgespräche stattfinden sollten.

Das Militär schien die Guerilla zu brauchen, um die Erhöhung seines Haushalts, seiner Privilegien, der Beförderungsgeschwindigkeit und seiner Pensionen zu sichern. Interessanterweise bewirkten die Haushaltserhöhungen den Niedergang der Effektivität des Militärs in der Guerillabekämpfung. Von heute - je nach Quelle - 157.000 bis 135.000 Mann sind offiziell 50.000 Soldaten - unabhängige Experten sprechen von maximal 30.000 - im Kampfeinsatz bzw. einsatzfähig. Eine nicht endende Serie von Niederlagen gegenüber der Guerilla, vor allem den FARC, seit April 1996, die, wenn auch verspätete, Entscheidung der USA, ihre Militärhilfe von Reformen und Säuberungsprozessen innerhalb des Militärs abhängig zu machen, aber auch die erfolgreiche Reform der nationalen Polizei veränderten die Haltung ihrer von der Regierung Pastrana erneut ausgewechselten Führung. Ohne die zwangsweise eingestandene eigene Unfähigkeit und kriminelle Verstrickung sowie den daraus folgenden Druck von außen und innen wäre die Führung kaum bereit gewesen, die von den FARC zur Bedingung eines Friedensdialogs erhobene und von Präsident Pastrana verfügte Entmilitarisierung von fünf Kommunen auf einem 42.000 qkm großen Gebiet (also etwas mehr als der Fläche Baden-Württembergs) hinzunehmen und die beginnenden Friedensverhandlungen - zumindest offiziell - zu unterstützen.

Die Haltung der USA

Nach der „Deszertifizierung" Kolumbiens, dem Entzug des US-Visums und damit der Einreisemöglichkeiten (außer zur UNO) für den damaligen Präsidenten Samper durch die USA, erschien der Wahlsieg Andrés Pastranas Vertretern der US-Administration und des Kongresses der USA als ein Kolumbien nicht zugetrauter Prozeß der Selbstreinigung.

Ein kurzer Besuch Pastranas bei Präsident Clinton kurz nach der Amtsübernahme im August und der erste offizielle Staatsbesuch eines kolumbianischen Präsidenten seit über 20 Jahren im Weißen Haus im Oktober 1998 öffneten und modifizierten die Haltung der US-Administration und des Kongresses gegen den Widerstand der sog. „Falken": Bisher wurde Kolumbien ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung des Drogenhandels und -anbaus, vor allem durch „Fumigation" (Sprühangriffe und Entlaubungsaktionen) gesehen. Die Guerilla, besonders die FARC, galten als „Narcoterroristen", mit denen jedes Gespräch abgelehnt wurde. Nun erkannte man, daß Verhandlungen mit der FARC, die große Teile des Drogenanbaugebietes beherrschen, eine neue Option der Drogenbekämpfungspolitik sein könnten. Man überwand sich, die von Pastrana vorgesehene Entmilitarisierung der Verhandlungszone und die Anerkennung der Guerilla als „politische Kraft" und nicht nur als Delinquenten, mit denen der kolumbianische Staat nicht verhandeln könnte, zu billigen. Die Freilassung von vier entführten amerikanischen Ornithologen, die von den FARC für camouflierte amerikanische Sicherheitsagenten gehalten worden waren, einerseits, der Entzug der Visa mehrerer kolumbianischer Offiziere wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen durch die US-Behörden im Mai andererseits führten gar zu einem ersten Treffen zwischen Vertretern der US-Administration und den FARC Mitte Dezember in Costa Rica.

Die Internationalisierung des Konflikts im Sinne internationaler Präsenz und Unterstützung vor allem der USA, aber auch von Fidel Castro und dem neuen venezolanischen Präsidenten Oberst Hugo Chavez erlauben den beginnenden Verhandlungen höhere Transparenz und eröffnen weitere Optionen.

Und die Guerilla...?

Gemeinsam ist den beiden Gruppen FARC und ELN, daß sie „Verhandlungen mit und im Krieg" führen wollen, ohne daß absehbar wäre, daß einmal die Waffen übergeben würden, wie im Falle der M19 und anderer Guerillagruppen Anfang der 90er Jahre. Die Ermordung von Ex-Guerrilleros, die ins zivile Leben zurückgekehrt waren, und von bald 3000 Kadern eines früheren politischen Arms der FARC, der Partei „Union Patriotica", durch Paramilitärs, Militärs und gedungene Mörder ist Teil der Begründung. „Nur unsere Gewehre sind Garant, daß mögliche Vereinbarungen auch von Seiten des Staates eingehalten werden", meint der zweite Mann und militärische Führer der FARC, Jorge Briceño alias „Mono Jojoy".

Gemeinsam sind beiden Guerillagruppen auch ihre territorialen Interessen. Der ELN sprach von einer Dezentralisierung des Landes im Sinne einer Kantonalisierung nach dem Beispiel der Schweiz. Ziel dabei ist es, daß bestimmte Teile des Landes, in denen die Guerilla ohnehin das Sagen hat, später auch von ihr regiert und verwaltet werden.

Gemeinsam scheint bisher auch die Unklarheit der politischen Ziele beider Gruppen (FARC und ELN). Soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie sind Orientierungen, die zumindest verbal von der ganzen Gesellschaft geteilt werden. Die im 10-Punkte-Programm der FARC genannten Ziele sind entweder vage, wie Ausrottung der Korruption und der Armut, oder prosaisch bis nur mäßig relevant, wie beispielsweise die Forderung nach einem Einkammersystem oder den Direktwahlen des Rechnungshofvorsitzenden und des „Procurador" (Anwalt des Staates).

Die mit großem Interesse erwartete Rede von „Tirofijo" („Kopf" der FARC) zur Eröffnung der Vorverhandlungen am 7. Januar 1999 in San Vicente del Caguán, die in Abwesenheit des Autors verlesen wurde, überraschte in ihrer Einfachheit und zeigte die Welt eines Mannes, der seit Jahrzehnten in den Bergen Kolumbiens lebt und kämpft: eine Geschichte der Legitimation der FARC als bäuerliche Bewegung gegen die ungerechtfertigten Angriffe der Militärs und des kolumbianischen Staates, das Klischee vom Internationalen Währungsfonds als Institutionalisierung des Bösen in der Geschichte, die Vorstellung, lediglich die Erhöhung des Militärhaushaltes und die Schaffung von Contra-Guerilla-Bataillonen hätten nötige soziale Investitionen verhindert. Kein Wort über eigene Fehler oder die Entführung und Ermordung von zivilen Personen. Lediglich der „Wandel in den Strukturen des Staates" wurde als Ziel genannt, keine weiteren Vorstellungen über ein zukünftiges Kolumbien umschrieben.

Die zehn Verhandlungsthemen, die die Regierung am 11. Januar vorschlug und die auf die FARC eingehen, sind ein wenig konkreter, obgleich auch in dieser nach Wahlkampf klingenden Agenda Präzisierungen fehlen. Über die Möglichkeiten eines Waffenstillstands oder über das Verhältnis von staatlicher Autorität zu lokaler und regionaler Autorität in den von der Guerilla beherrschten Gebieten wird nichts gesagt.

Verhandelt werden soll über 1) bedingungslose Respektierung der Menschenrechte, 2) Überwindung der Armut und Ungleichheit durch eine Wirtschaftsreform, 3) gesetzliche Garantien für Minderheiten und Opposition, 4) Substitution des Drogenanbaus durch soziale Investitionen, 5) Respektierung des ökologischen Erbes der Nation, 6) Ausrottung des Drogenhandels und Bestrafung der Korrupten, 7) neue Formen der Agrarreform, 8) Kampf gegen die Paramilitärs durch den Staat, 9) Verifizierung des Friedensprozesses und ein Entwicklungsplan mit internationaler Unterstützung und 10) Ratifizierung aller Vereinbarungen mit der Guerilla durch eine verfassungsgebende Versammlung.

Wichtigstes Ziel der FARC ist der Austausch (canje) der inzwischen fast 500 gefangenen Guerilleros gegen die über 300 in Guerilla-Hand befindlichen Militärs. Hierzu müßte vom Kongreß ein Gesetz verabschiedet werden, das von manchen Experten als nicht verfassungskonform abgelehnt wird und alle „Risiken" der Anerkennung der Guerilla als „Kriegspartei" birgt.

Unterschiedlich sind die Verhandlungswege, die beide Guerillagruppen wählten: Während der ELN mit seinem „Himmelspforten"-Treffen vom Juli 1998 in Mainz und Würzburg und - zusammen mit dem EPL - geplanten Versammlungen am 13. Februar, 13. April und 13. Juni 1999 zunächst mit der „Zivilen Gesellschaft" ins Gespräch kommen will, bevor er mit der Regierung verhandelt, haben die FARC den institutionelleren Weg der direkten Verhandlungen mit der Regierung gewählt. Später dann wollen auch sie stärker mit der zivilen Gesellschaft sprechen. Gemeinsam ist beiden die Absicht der späteren Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.

Unterschiedlich ist vor allem der Ausgangspunkt beider Gruppen zu Beginn der Vorverhandlungen: Während der ELN, finanziell und militärisch ohnehin schwächer, intellektuell jedoch mit größerem Potential, durch die Angriffe der Paramilitärs angeschlagen erscheint, gehen die FARC militärisch stärker denn je in die Verhandlungen. Ihre Sprache ist „triumphalistisch" bis arrogant: Pastrana sei ein neoliberaler Kronprinz des Establishments, man werde sehen, wie lange er seine Hosen anbehalten könne; komme es nicht zum verlangten Austausch zwischen den inhaftierten Guerilleros und den von der Guerilla gefangenen Militärs, so werde man eben Politiker entführen; sollte der Verhandlungsweg erfolglos sein, so übernehme man die großen Städte, die, mit Ausnahme von Cali und Medellín, ohnehin heute schon von Guerilleros umzingelt seien.

Präsident Pastrana hat einen schweren Weg vor sich: Er ist persönlich und politisch große Risiken eingegangen. Kritiker aus Militär und Establishment werfen ihm vor, er habe die Agenda der FARC übernommen, seine Verhandlungsstrategie sei weich und improvisiert, er verschenke Kolumbien an eine FARC, die sowohl militärisch als auch von der Verhandlungserfahrung her zu stark sei. Bislang hat der Präsident jedoch Mut und Geschick bewiesen. Er erreichte die (wenn auch nur bedingte) Unterstützung durch die USA und eine internationaler Präsenz im Verhandlungsprozeß, und er konnte die Opposition, das Parlament, das wirtschaftliche Establishment und die dezentralen territorialen Körperschaften durch die Wahl seiner Verhandlungsführer einbinden. Darüber hinaus scheint die „Chemie" zwischen ihm und „Tirofijo" zu stimmen. Pastrana versucht, die Guerilla dazu zu bringen, dem Volk ihre wahren Absichten mitzuteilen.

Im Gegensatz zu vielen seiner Kritiker weiß er, daß diesmal, anders als früher, nicht Demobilisierung, Entwaffnung und Reintegration der Guerilla am Ende erfolgreicher Verhandlungen stehen werden. Vielmehr geht es um eine noch zu bestimmende Fusion der beiden Kolumbien mit Elementen starker regionaler Autonomie mit möglicher Vereinigung in neu zu bildenden Streitkräften, um Legalisierung und Investitionen der Guerilla-Vermögen und neue Wege in der Drogenanbau-Bekämpfung durch Produktsubstitution u.v.a.m.

Zumindest einige seiner Berater wissen, daß Kolumbien, um zu überleben und um in einer globalisierten Welt konkurrenzfähig zu werden, eines neuen „Gesellschaftsvertrages" bedarf. Der begonnene schwierige Verhandlungsweg eröffnet dem Land dazu Chancen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

Previous Page TOC Next Page