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Die Funktionsweise des amerikanischen Arbeitsmarktes



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Hohe Flexibilität - hohe Unsicherheit

Die hohe Beschäftigungsintensität des amerikanischen Wirtschaftswachstums ergibt sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Elemente des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Dieses ist geprägt durch eine individualistische Lebensphilosophie. Das Individuum ist verantwortlich für seine wirtschaftliche Existenz und der Staat greift so wenig wie möglich in das Wirtschaftsgeschehen ein. Die für die Arbeitsmarktentwicklung entscheidenden Faktoren sind das dezentrale Lohnfindungssystem mit dem Betrieb als vorherrschender Verhandlungsebene, die starke Lohnspreizung, die niedrige Abgabenbelastung der Arbeitseinkommen, die geringe und meistens nur zeitlich befristete soziale Absicherung, die hohe Arbeitsmarktflexibilität in einem quasi weitgehend deregulierten Beschäftigungssystem sowie eine weitgehend der privaten Initiative überlassenen beruflichen Aus- und Weiterbildung. Das amerikanische Flexibilitätssyndrom wird von folgenden institutionellen und kulturellen Vorgaben geprägt:

  • Die private Vertragsfreiheit genießt einen hohen Stellenwert. Durch den Staat wird nur wenig vorgegeben, so daß die Regelung der Arbeitsbeziehungen in großem Umfang den Verhandlungsparteien überlassen bleibt. Da der gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr niedrig ist - im privaten Wirtschaftssektor sind nur etwa 10% der Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft - werden die Arbeitsverträge meist individuell ausgehandelt.
  • Die dezentralen Tarifverhandlungen ermöglichen Vereinbarungen, die insbesondere in ungünstigen Wirtschaftslagen den wirtschaftlichen Gegebenheiten einzelner Unternehmen besser gerecht werden können. So kann z. B. vereinbart werden, daß Neueingestellte niedrigere Einstiegslöhne erhalten.
  • Räumlich sowie berufsübergreifend besteht eine hohe Mobilität. Die Bereitschaft, wegen eines Arbeitsplatzes umzuziehen, ist groß, was durch den wenig reglementierten Wohnungsmarkt begünstigt wird. Die berufliche Mobilität ist auch deshalb hoch, weil eine vorübergehende nicht der Ausbildung entsprechende Tätigkeit nicht als Manko im Berufsverlauf angesehen wird.
  • Die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten liegt, insbesondere aufgrund der hohen Fluktuationsraten, unter dem europäischen Niveau. Sie ist allerdings seit den 70er Jahren mehr oder weniger gleich geblieben. Mit Ausnahme von Australien haben die USA im Durchschnitt die kürzesten Beschäftigungsverhältnisse aller OECD-Länder. Allerdings ist auch hier eine gewisse Polarisierung festzustellen: Kurzzeitige Beschäftigungsverhältnisse von bis zu einem Jahr machen etwa ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse aus (in Deutschland 16%). Bei den längerdauernden Beschäftigungen hingegen liegen die Anteile für USA und Deutschland nahe beieinander (5 - 10 Jahre: USA 20%, D 17 %; 10 - 20 Jahre: USA 17%, D 18%). Kündigungen bzw. Arbeitsplatzwechsel werden im übrigen nicht wie in Deutschland als ein Makel im persönlichen Lebenslauf angesehen.
  • Es gibt kein allgemein gültiges Kündigungsschutzgesetz. Für etwa zwei Drittel aller Beschäftigten in den Vereinigten Staaten gilt, daß ihre unbefristeten Arbeitsverhältnisse aus „gutem, ehrlichen Grund" (just cause) jederzeit aufgelöst werden können. Allerdings wirken Gesetze wie das grundsätzliche Verbot von Diskriminierung [ Ein Bundesgesetz verbietet Ungleichbehandlung (discrimination) aufgrund der ethnischen Herkunft, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, vorheriger Nationalität, Behinderung oder Alter. Bei Entlassungen ist es für die Unternehmen oft schwer nachzuweisen, daß sie nicht gegen eines der eben genannten Diskriminierungskriterien verstoßen haben. Arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen können am besten vermieden werden, wenn nach dem Grundsatz des „last in - first out" verfahren wird. ] , tarifvertragliche Regelungen und nicht zuletzt das Richterrecht einer generellen Kündigungsfreiheit entgegen.
  • Die Arbeitslosenunterstützung beträgt nur einen Bruchteil (20 - 40%) des vorherigen Nettolohnes. Mit ihr ist nicht automatisch ein staatlicher Krankenversicherungsschutz verbunden. Der Druck auf Arbeitslose ist deshalb groß, möglichst schnell wieder eine neue Beschäftigung zu finden.
  • Es gibt in der Regel kein institutionalisiertes Berufsausbildungswesen und nur eine geringe innerbetriebliche Weiterbildung. Jugendliche Arbeitskräfte müssen sich ihre beruflichen Fertigkeiten und Fähigkeiten erst über mehrere verschiedenartige Beschäftigungsverhältnisse erwerben. Ansonsten werden Ausbildungsaktivitäten der Initiative von Betrieben und Arbeitnehmern überlassen.
  • Die Freiheit der Berufsausübung ist durch staatliche Regulierungen (objektive Zugangsbeschränkungen) kaum eingeschränkt.

Insgesamt führen diese Rahmenbedingungen dazu, daß das amerikanische Beschäftigungssystem viel lohnreagibler als das europäische ist und daß die Anpassung des Arbeitsvolumens stärker über Einstellungen und Entlassungen als über eine Veränderung der betrieblichen Arbeitszeiten (Überstunden, Kurzarbeit) erfolgt. Der amerikanische Arbeitsmarkt verlangt deshalb von jedem einzelnen Arbeitnehmer eine große Flexibilität. Verbunden damit ist selbst bei günstiger Beschäftigungslage eine hohe Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Arbeitsplatzes. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden für viele immer wieder neu verteilt. Diejenigen, die z.B. aufgrund der Rationalisierungswelle in Großunternehmen ihren Arbeitsplatz verlieren, finden zwar vergleichsweise schnell wieder eine Beschäftigung, doch sind bei einem erzwungenen Arbeitsplatzwechsel oft merkliche Einkommenseinbußen und geringere soziale Absicherung (z. B. Krankheitsschutz) hinzunehmen.

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Arbeitsmarktpolitik: Druck auf Arbeitslose

Die USA geben im Vergleich zu anderen Industriestaaten neben Japan am wenigsten für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aus - gerechnet als Anteil am Sozialprodukt. Für 1994/95 lag ihr Anteil bei 0,55 Prozent, mit fallender Tendenz (zum Vergleich Deutschland: 3,5%). Von den Maßnahmekosten entfielen etwa 60 Prozent auf sogenannte passive Maßnahmen, wie die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung. Diese Lohnersatzzahlungen bei Arbeitslosigkeit sind vergleichsweise gering und von kurzer Dauer. Sie belaufen sich im Durchschnitt auf 35 Prozent des letzten Lohnes bei erheblichen Schwankungen zwischen den Staaten: von 27,5 Prozent in Kalifornien bis 49,5 Prozent in Hawaii. Arbeitslosengeld wird für maximal 26 Wochen gezahlt. Unter bestimmten Bedingungen sind Verlängerungen um weitere 13 Wochen möglich.

Der verbleibende „aktive" Teil der Arbeitsmarktpolitik zielt darauf ab, über Vermittlung, Beratung und Bildungsprogramme (meist von relativ kurzer Dauer) eine möglichst schnelle Wiederbeschäftigung von denjenigen Entlassenen zu erreichen, deren Wiederbeschäftigungschancen gering sind. Zu diesem Zweck wurde 1993 das „Worker Profiling and Reemployment Services System" verabschiedet. Danach müssen die Träger der Arbeitslosenversicherung den Arbeitslosen, die Gefahr laufen, länger arbeitslos zu bleiben, Dienstleistungen zur Wiederbeschäftigung in Form von Beratung, Information, Tests und Job-Clubs anbieten. Arbeitslose müssen sich einem solchen „profiling" unterziehen, um Lohnersatzleistungen zu erhalten.

Der ebenfalls 1993 verabschiedete „School-to-Work Opportunities Act" sieht eine Reihe von Fördermaßnahmen für den Übergang von der Schule in das Arbeitsleben vor. Dies gilt vor allem für Armutsgebiete. Das Programm - und seine früheren Versionen - baut stark auf der Mitarbeit lokaler Entscheidungsträger auf und beabsichtigt sowohl eine bessere Angleichung der Schulausbildung an die Erfordernisse der Arbeitsplätze als auch eine allgemeine Erhöhung der beruflichen Bildungsstandards.

Zu erwähnen ist auch das sogenannte „Job Corps": Besonders benachteiligte Jugendliche - ca. 60.000 pro Jahr - werden in Ganztagszentren untergebracht und einem strikten Reglement unterworfen. Inhaltlich reicht das jährliche Kursprogramm von der Vermittlung von Grundkenntnissen bis zu Sozialverhalten. Allerdings sind die Kosten relativ hoch: 15.000 Dollar pro Jahr und Teilnehmer.

Eine „Aktivierung" der Erwerbslosen soll auch über die Sozialhilfe erfolgen. Die Sozialhilfe für Alleinerziehende (AFDC, das größte „welfare"-programm der USA mit rund 5 Mill. Leistungsbeziehern) wird seit Mitte 1997 als „passive" Transferleistung nur noch für maximal zwei Jahre gewährt. Sozialhilfeempfänger können bereits nach zwei Monaten zu Gemeindearbeiten herangezogen werden. Bei Arbeitsverweigerung wird die Hilfe gekürzt. Nach zwei Jahren werden Zahlungen lediglich im Zusammenhang mit der Teilnahme an einem Arbeits- oder Ausbildungsprogramm geleistet. Um zu garantieren, daß solche Arbeits- und Ausbildungsplätze auch tatsächlich zur Verfügung stehen, soll einerseits das bereits 1988 bestehende Arbeits- und Ausbildungsprogramm für Sozialhilfeempfänger (JOBS - Job Opportunities and Basic Skills) ausgebaut sowie ein zusätzliches Arbeitsbeschaffungsprogramm eingerichtet werden. AFDC und JOBS wurden inzwischen zu TANF (Temporary Assistance for Needy Families) verschmolzen. Beide Programme lassen den Einzelstaaten große Spielräume bei der Ausgestaltung. Daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger seit 1993 um rund ein Drittel gesunken ist, hängt allerdings in erster Linie mit der guten Wirtschaftslage zusammen, erst in zweiter Linie mit den neuen Bestimmungen seit 1996. Es besteht die Befürchtung, daß bei einem Konjunktureinbruch die Armutsbevölkerung wieder zunehmen wird, und zwar auch deshalb, weil viele dann nicht einmal mehr Sozialhilfe erhalten.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Arbeitsmarktpolitik stark von passiven Unterstützungsleistungen geprägt ist, die wegen ihrer niedrigen Höhe und Dauer einen Druck zur Wiederbeschäftigung ausüben. Bei einer Entlassung ist der betroffene Arbeitnehmer bestrebt - ja auch gezwungen - möglichst schnell wieder eine neue Stelle anzutreten, notfalls eine schlechter bezahlte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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