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Gewinner und Verlierer

„Low pay is better than no pay" wird in den USA der Kritik entgegengehalten, daß das „Beschäftigungswunder" vor allem aus der Schaffung von anspruchslosen, relativ unproduktiven und schlecht bezahlten Jobs bestehe. So gesehen wären natürlich alle diejenigen, die sonst keine oder weniger Arbeit hätten, „Gewinner". Andererseits bedeutet ein arbeitsintensiver, mit geringen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächsen einhergehender Wachstumspfad natürlich für die Beschäftigten insgesamt einen geringeren Spielraum für Lohnzuwächse als ein Wachstumspfad mit hohen Produktivitätszuwächsen nach deutschem Muster. So gesehen wären die „Verlierer" des deutschen Modells die vielen Arbeitslosen und die „Verlierer" des US-Modells die Masse der Beschäftigten, die gleichsam zur Solidarität mit den potentiell Arbeitslosen gezwungen werden.

Die Realität ist freilich komplexer; denn die geringen durchschnittlichen Produktivitätszuwächse in USA, die nur geringe durchschnittliche Lohnzuwächse gestatten, sind das Ergebnis von recht unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Sparten des Arbeitsmarktes. Und entsprechend unterschiedlich verliefen auch die Lohnentwicklungen zwischen diesen Sparten.

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Stagnierende bis rückläufige Reallöhne in USA, steigende in Deutschland

Die USA verzeichnen im letzten 10-Jahres-Zeitraum, für den die OECD Daten bekanntgab, einen Rückgang des durchschnittlichen Reallohns um 3 Prozent, Deutschland hingegen einen Zuwachs um 21 Prozent. Aber in beiden Ländern gab es deutliche Unterschiede je nach Beschäftigtengruppe. So stieg der Reallohn in den USA für die Frauen und für die besser Verdienenden. In Deutschland sind es - im Gegensatz zu den USA - die schlechter Verdienenden, die weitaus höhere Reallohnsteigerungen als der Durschnitt verzeichneten (s. Tabelle 2)


Tabelle 2:

Reallohnentwicklung in USA und Deutschland (W) während der letztverfügbaren 10 Jahre


Insgesamt

Männer

Frauen

Niedrig bezahlt (erstes Dezil)

Hoch bezahlt (neuntes Dezil)

Deutschland (W)

21,0

19,7

26,1

59,6

21,5

USA

-3,1

-6,3

3,7

-7,2

3,1



Anmerkung: Die Dezile beziehen sich auf die jeweiligen Lohnobergrenzen der betreffenden Dezile, wobei die Dezile aus der Rangordnung der Einkommen der Beschäftigten gebildet werden. Beispielsweise verdienen 10% der Beschäftigten weniger als D1, die Lohnobergrenze des ersten Dezils. Die obersten 10% in der Einkommenskala verdienen mindestens oder mehr als D9, die Lohnobergrenze des neunten Dezils.

Quelle: OECD (1997): Employment Outlook, Paris, S. 7




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Zunehmende Lohnspreizung in den USA, anhaltend geringe Lohndisparitäten in Deutschland

Teilt man die Beschäftigten entsprechend ihren Arbeitseinkommen in zehn Lohnklassen (Dezile) ein, so läßt sich die Lohnspreizung durch den Abstand des reichsten Dezils (mit der Verdienstuntergrenze D 9) vom Medianeinkommen (markiert durch die Verdienstobergrenze des fünften Dezils) sowie den Abstand des ärmsten Dezils (mit der Verdienstobergrenze D 1) vom Medianeinkommen darstellen. Wie Tabelle 3 zeigt, weisen die USA eine im Vergleich zu Deutschland sehr hohe und im Zeitverlauf noch dazu steigende Lohnspreizung auf. Die reichsten 10 Prozent der Arbeitnehmer setzten sich seit 1983 ganz deutlich vom Durchschnitt ab. Die ärmsten fielen noch weiter zurück.


Tabelle 3:

Lohndifferenzierung in den USA und in Deutschland (West)


Relativer Abstand des höchsten Dezils (D9) vom Medianeinkommen (D5)

D9/D5

Relativer Abstand des niedrigsten Dezils (D1) vom Medianeinkommen

D1/D5


1983

1993

1995

1983

1993

1995

USA

1,78

2,03

2,10

0,52

0,48

0,47

D (W)

1,63

1,61


0,59

0,69


Quelle: OECD (1996): Employment Outlook, S. 62

Anmerkungen:
1) D9 ist das Einkommen, das von 10% der Arbeitnehmer erreicht oder überschritten wird.
2) Der Wert des Medianeinkommens (D5) entspricht der üblichen Definition des Medians in statistischen Lehrbüchern. Er ist durch die Eigenschaft definiert, daß mindestens 50 % aller Arbeitnehmer ein Lohneinkommen beziehen, welches unterhalb des Medians liegt oder diesem genau entspricht und mindestens 50 % aller Arbeitnehmer ein Lohneinkommen beziehen, welches oberhalb des Medians liegt oder diesem genau entspricht.
3) D1 ist das Einkommen, das von 10 % der Arbeitnehmer gerade noch erreicht oder unterschritten wird.
4) Beispiel als Lesehilfe: In Deutschland verdienen die 10 % der Arbeitnehmer mit den höchsten Lohneinkommen mindestens 61 % mehr als das Medianeinkommen. Die 10 % mit den geringsten Lohneinkommen verdienen maximal 69 % des Medianeinkommens.






Für die Jahre nach 1995 zeigen Untersuchungen, daß die Lohnspreizung nach unten nicht weiter zugenommen hat, sondern sich nur nach oben weiter geöffnet hat. Dies hängt mit der guten Konjunkturlage zusammen.

Vor dem Hintergrund der kontinuierlich steigenden Beschäftigtenzahlen in den USA bedeutet die Zunahme der Lohnspreizung, daß die Beschäftigung sowohl in den unteren als auch in den oberen Einkommensklassen überproportional zugenommen hat: Die Dezile von 1983 wurden so stark mit Neuzugängen aufgefüllt, daß die fällige Neueinteilung in zahlenmäßig gleichstarke Klassen die Einkommensgrenzen der untersten Dezile nach unten und die der obersten Dezile nach oben verschoben hat.

Das Auseinanderdriften der Löhne setzte Anfang der 80er Jahre ein: Im obersten Lohndezil ergab sich von 1980-1995 eine Steigerung von 11%, während die Löhne im untersten Dezil um 4% fielen. Der mittlere Lohn (Median) sank ebenfalls um fast 4%. Diese Ungleichentwicklung zeigt sich auch, wenn man nicht individuelle, sondern Haushaltseinkommen betrachtet.

Die zunehmende Lohnspreizung hat ihren Grund nicht nur in der unterschiedlichen Lohnentwicklung für die unterschiedlichen Arten von Beschäftigung, sondern auch in den Veränderungen der Beschäftigungsstruktur. Beschäftigungswachstum fand sowohl in Berufen mit geringer Qualifikationsanforderung bzw. in Wirtschaftszweigen, die durch unterdurchschnittliche Löhne gekennzeichnet sind, statt als auch in solchen mit überdurchschnittlichen Qualifikationsanforderungen und Verdienstmöglichkeiten (siehe Tabellen 4 und 5).

Generell konzentriert sich das Beschäftigungswachstum auf den Dienstleistungsbereich, der in sich sehr heterogen ist und Sektoren wie „Banken, Versicherungen, Immobilien" oder „Großhandel", aber auch Bereiche wie „Einzelhandel" oder „sonstige Dienstleistungen" umfaßt. Auf letzteren Sektor entfällt 60 Prozent des gesamten amerikanischen Beschäftigungswachstums von 1983 - 1993. Auch in diesem Sektor finden sich Aktivitäten, in denen teilweise erheblich über dem Durchschnitt liegende Löhne gezahlt werden, z.B. „unternehmensbezogene Dienstleistungen", deren Beschäftigung 20 Prozent der „sonstigen Dienstleistungen" ausmacht, das Gesundheitswesen (30%), Bildungswesen (6%) oder Rechtsberufe (3%). Fast die Hälfte der Beschäftigten des Zuwachses in den „sonstigen Dienstleistungen" hat Berufe, die in die obere Hälfte der Einkommenshierarchie gehören. Aber im gleichen Sektor finden sich auch Niedriglohngruppen wie bei „persönlichen Dienstleistungen" (ca. 4% Anteil) oder „Reparaturwerkstätten" (5%).

Tabelle 4:

Beschäftigungsveränderung 1983-1993 von Arbeitnehmern nach Berufsgruppen und Wirtschaftsabteilungen in den USA (in 1000)und durchschnittlicher Wochenverdienst 1993 (Median, in US-Dollar)

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Quelle: Monthly Labor Review June 1995, S. 48, Nov. 1995, S. 61, June 1996, S. 30


Tabelle 5:

Beschäftigung nach Berufsgruppen 1986, 1996 und Vorausschätzung bis 2006 in %

Quelle: US Department of Labor (1997): Monthly Labor Review, Nr. 11, S. 59


Die zunehmende Lohnungleichheit hängt im übrigen nicht mit einer zunehmenden Ungleichheit in der Verteilung des Arbeitsvolumens zusammen. Bereits oben wurde berichtet, daß es in den USA keine Zunahme der Teilzeitbeschäftigung gab. Und der überwiegende Teil der Teilzeitbeschäftigten gibt an, freiwillig Teilzeit zu arbeiten, also keine Vollzeittätigkeit zu suchen. Auch die Zahl derjenigen, die mehr als ein Beschäftigungsverhältnis innehaben (multiple jobholders), hat seit den achtziger Jahren kaum zugenommen. Ihr Anteil blieb bei rund 6% weitgehend konstant. Bei über der Hälfte der „multiple jobholder" handelt es sich im übrigen um Personen, die eine Nebentätigkeit zusätzlich zu ihrer Vollzeitbeschäftigung ausüben. Mehrfachbeschäftigung ist außerdem bei höherer Qualifikation stärker verbreitet ist als bei Geringqualifizierten. So lag 1995 der Anteil der Arbeitskräfte mit Mehrfachtätigkeiten bei den Geringqualifizierten (less than high school) bei 3,3%, aber bei den Hochschul- und Fachhochschulabsolventen bei 8-9%.

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Lohneinbußen für Männer in mittleren Einkommensklassen

Für Männer im mittleren und unteren Einkommenssegment sind die durchschnittlichen Stundenlöhne zurückgegangen. Für die Frauen gilt dies nur in den unteren Einkommensdezilen. In der oberen Einkommenskategorie konnten sie ihre Einkommen erheblich verbessern, was zu einer insgesamt geringeren Lohndisparität zwischen den Geschlechtern beigetragen hat. Für Frauen allein betrachtet hat sich hingegen die Lohndisparität erheblich vergrößert.

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Polarisierung der Einkommen zwischen Bildungsebenen und „ethnischen" Gruppen

Eine zunehmende Polarisierung zeigt sich auch, wenn man die Lohnentwicklung nach Bildungsebenen oder ethnischer Herkunft der Beschäftigten vergleicht. Der Lohnabstand zwischen den unterschiedlichen Bildungsebenen erhöhte sich ebenso wie die Einkommensunterschiede zwischen Weißen und Afro-Amerikanern. Eine detaillierte Aufgliederung der Verdienste nach Berufen würde die sehr unterschiedliche Einkommensentwicklung ebenfalls widerspiegeln.

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Zunehmende Ungleichverteilung der Vermögen

Die Ungleichverteilung hat dramatisch zugenommen bei den Vermögen: Ein Fünftel der Amerikaner verfügt inzwischen über 85% aller Vermögen. In der Zeit von 1983 bis 1992 gingen 99% (!) aller neu entstandenen Vermögen an das obere Fünftel, während die unteren Einkommensbezieher Einbußen von 24% hinnehmen mußten.

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Abnehmende soziale Sicherheit

Bei den unteren Einkommensbeziehern oder bei Teilzeitbeschäftigten werden nicht nur geringere Löhne gezahlt, sondern auch niedrigere betriebliche Sozialleistungen gewährt und die Arbeitsplatzsicherheit ist geringer. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß von jeher auch bei den mittleren und besseren Jobs die Arbeitskonditionen schlechter sind als in Deutschland oder generell in Westeuropa. So beträgt der durchschnittliche Urlaub nur etwa 2 Wochen, 40 Millionen Amerikaner haben weder eine private noch eine staatliche Krankenversicherung. Der Anteil der Amerikaner, der über den Arbeitgeber krankenversichert ist, geht zurück. Die staatliche Rentenversicherung für Arbeitnehmer zahlt erheblich niedrigere Lohnersatzleistungen (1995: maximal 1.200 $ monatlich), so daß eine betriebliche oder private Versicherung hinzukommen muß.

Was neben der Lohnentwicklung zur Verunsicherung der amerikanischen Arbeitnehmer beiträgt, sind die häufig hinzunehmenden Einkommenseinbußen bei einem erzwungenen Arbeitsplatzwechsel. Viele Amerikaner sind nach Freisetzungen wegen mangelnder sozialer Absicherung gezwungen, zunächst möglichst schnell eine neue Beschäftigung aufzunehmen - auch eine weit weniger gut bezahlte. Als besonders kritisch erweist sich der mangelnde Krankheitsschutz bei Entlassung, da die Krankenversicherung meist über den Arbeitgeber erfolgt. Eine private Versicherung ist teuer oder hat eine Reihe von Ausschlußklauseln. Etwa 15% aller nach einer Freisetzung wiederbeschäftigten Arbeitnehmer hat nicht mehr den bisherigen Krankenversicherungsschutz durch den neuen Arbeitgeber.

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Zunehmende Armut

Die Entwicklung zu größeren Lohndisparitäten ging einher mit einer steigenden Zahl von Haushalten, deren Einkommen unterhalb der staatlich fixierten Armutsgrenze (für eine vierköpfige Familie 1996 etwa 16 000 Dollar jährlich) liegt. 1982 betrug die Zahl der betroffenen Amerikaner 34,4 Millionen. Bis 1993 stieg sie auf den bisherigen Maximalwert von 39,3 Millionen an. Dies entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von 15,1 Prozent. Ein Drittel der Armen sind Kinder. Neuere Daten zeigen, daß die Realeinkommen mit der besseren Wirtschaftslage wieder steigen und daß der Anteil der Amerikaner mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze seit 1994 erstmals wieder langsam zurückging. Ob dies eine dauerhafte Trendumkehr bedeutet, bleibt abzuwarten, bis die nächste Rezession kommt.

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Soziale Mobilität

Einem Teil der „working poor" gelingt es, aus dem niedrigen Lohnniveau im Laufe der Zeit aufzusteigen. So gehören zu den Niedriglohnbeziehern z. B. viele Jugendliche, die nur vorübergehend jobben. Dennoch: nach Untersuchungen der OECD sind ca. zwei Fünftel aller Geringverdiener nach 6 Jahren immer noch im unteren Lohnsegment (bis zu 0,65 des Medianverdienstes). Frauen und Geringqualifizierte tragen das höchste Risiko, im untersten Lohnsegment zu verbleiben. Auch das Bureau of Labor Statistics kommt auf eine hohe Persistenz der Armut bei den betroffenen Personengruppen.

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Kombieinkommen

Der Lohn stellt nur eine Form des Einkommens dar. Werden Löhne über Transfereinkommen aufgebessert, dann verbessert sich auch die wirtschaftliche Situation der betroffenen Arbeitnehmer. In den USA geschieht dies in gewissen Grenzen durch Sozialtransfers wie „Aid to Families with Dependent Children" (AFDC, jetzt TANF = Temporary Assistance to Needy Families), einem Programm, welches sich vor allem an alleinerziehende Mütter wendet, und durch die staatlichen Lebensmittelcoupons (food stamps) für bedürftige Amerikaner. Aus deutscher Sicht interessant ist weiterhin der „Earned Income Tax Credit" (EITC), eine Art negativer Einkommenssteuer, die es in den USA seit 1975 gibt. Geringverdiener brauchen bis zu einer bestimmten Lohnobergrenze nicht nur keine Steuer zu bezahlen, sondern erhalten auch einen Lohnzuschuß vom Finanzamt, wenn bei der jährlichen Steuererklärung bestimmte Lohngrenzen nicht überschritten wurden. 1996 erhöhte sich durch den EITC das Jahreseinkommen von 18 Millionen Haushalten um durchschnittlich 1.400 Dollar im Jahr. Auf jeden Fall verringert sich bei Berücksichtigung der oben genannten Transfers auch die Zahl der Amerikaner unterhalb des Armutseinkommens. Man schätzt, daß dadurch deren Anteil um zwei bis drei Prozentpunkte niedriger liegt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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