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Zusammenfassung

Während der 90er Jahre ist die Arbeitslosigkeit in den USA im Zuge kräftigen Wirtschaftswachstums drastisch gesunken, während sie in Deutschland und anderen EU-Ländern zu immer neuen Höhen anstieg. Das eigentliche amerikanische „Beschäftigungswunder" datiert jedoch weiter zurück. Seit Anfang der 70er Jahre, als sich das wirtschaftliche Wachstum OECD-weit deutlich verlangsamte, verzeichneten die USA einen Anstieg der Beschäftigung um 1,5 - 2 Prozent pro Jahr. In Deutschland und der übrigen EU lag die Zuwachsrate bei etwa einem halben Prozent.

Der krasse Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Beschäftigungsentwicklung kann nicht mit Unterschieden im Wirtschaftswachstum erklärt werden. Entscheidend ist vielmehr, daß das Wirtschaftswachstum in den USA viel beschäftigungsintensiver verlief als in Europa. Dies impliziert freilich auch ein wesentlich geringeres gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum, dem wiederum ein geringerer Spielraum für Lohnerhöhungen entspricht. In der Tat stagnieren die Reallöhne in den USA seit mehr als 20 Jahren, während sie in Deutschland deutlich anstiegen.

Stagnierende Produktivität und Reallöhne sind in den USA allerdings das Ergebnis äußerst disparater Entwicklungen. Der Industriesektor verzeichnete insgesamt markante Produktivitätsfortschritte, ihnen entsprach ein Rückgang der Beschäftigung. Die großen Beschäftigungszuwächse fanden ausnahmslos im Dienstleistungsektor statt, der in vielen Bereichen kaum Möglichkeiten für Produktivitätsfortschritte bietet.

Hinter der Stagnation des durchschnittlichen Reallohnes verbirgt sich eine zunehmende Lohnspreizung: Zuwächse in den oberen Lohngruppen und markante Kürzungen bei den niedrigen Löhnen. Diese Tendenz zur Polarisierung spiegelt sich auch in der Struktur der neuen Jobs wieder: Zunahme bei den gutbezahlten und den schlechtbezahlten Jobs, Aushöhlung der Mitte. Ganz anders in Deutschland: Hier verringerte sich der Abstand zwischen hohen und niedrigen Löhnen, die Zahl der Jobs wuchs signifikant nur in den 80ern und ging seither wieder zurück.

Sowohl der Anstieg der Beschäftigung als auch die starke Lohnspreizung gehen darauf zurück, daß sich Angebot und Nachfrage auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt relativ frei entfalten können. Das relativ hohe Bevölkerungswachstum (Babyboom, Einwanderung) führte dem Markt viele neue Arbeitskräfte zu. Mangels alternativer Einkommensquellen (geringe soziale Absicherung) blieb ihnen keine andere Wahl, als die Jobangebote der Wirtschaft zu akzeptieren, auch wenn ihnen die Bedingungen nicht gefielen. Die Wirtschaft hingegen wurde weder durch Gewerkschaften noch durch staatliche Vorschriften in nennenswerter Weise daran gehindert, ihre Lohnangebote der Lage auf dem Arbeitsmarkt (nach unten) anzupassen. Ihre Bereitschaft, bei Bedarf schnell neue Kräfte einzustellen, wurde durch die Möglichkeit problemloser späterer Entlassung gefördert. Die Verfügbarkeit billiger Arbeitskraft verringerte einerseits bei den Unternehmen den Anreiz zur Produktivitätssteigerung und machte andererseits viele einfache Dienstleistungen marktfähig.

Gleichzeitig konnte sich auf dem relativ ungeregelten Arbeitsmarkt auch ein Leistungswettbewerb entfalten, der in den oberen Lohnklassen den Preis für qualitativ hochwertige Arbeitsleistung deutlich steigen ließ. Der Anstieg der Kaufkraft in den hohen Einkommensklassen ließ seinerseits den Markt sowohl für einfache und relativ schlecht bezahlte als auch für hochwertige und hochbezahlte persönliche Dienstleistungen expandieren. So entstand ein sich selbst verstärkender Entwicklungspfad, der sich deutlich von dem deutschen Pfad der teueren, auf einem stark regulierten Markt angebotenen Arbeit, der begrenzten Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen und der hohen Produktivitätszuwächse unterscheidet.

Eine Konsequenz des amerikanischen Entwicklungspfades ist die Entkopplung der Einkommen eines beträchtlichen Teils der Arbeitnehmerschaft von der Zunahme des nationalen Wohlstands. Aufgrund der ungebremsten Lohnkonkurrenz in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes gerieten auch viele Vollzeitbeschäftigte an und selbst unter die offizielle Armutsgrenze. Zur Einkommensarmut gesellt sich dabei fast durchwegs der Mangel an Krankenversicherung. Besonders hart trifft all dies Arbeitnehmer mit Kindern.

Gemildert wird die arbeitsmarktbedingte Armut durch den Aufstieg in höhere Lohnklassen, den ein Teil der Betroffenen immer wieder schafft, durch Knappheitserscheinungen auf dem Arbeitsmarkt im Zuge des langanhaltenden Wirtschaftswachstums der 90er Jahre und durch die Einführung einer negativen Einkommssteuer für Niedriglohnbezieher (earned income tax credit).

Ein weiterer Effekt des amerikanischen Arbeitsmarkt-Regimes ist die hohe soziale Unsicherheit, die auch die Bezieher höherer Einkommen trifft. Abstieg in niedrigere Lohngruppen - oft im Zusammenhang mit Entlassungen - ist ein häufiges Phänomen. Dies beeinträchtigt erheblich die Perspektiven der finanziellen Lebensplanung.

Die US-Erfahrungen deuten darauf hin, daß eine stärkere Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auch in Deutschland zu einer signifikanten Ausweitung der Beschäftigung führen würde - und zwar bei gegebenem Wirtschaftswachstum. Dies würde aber auch hier einen Niedriglohnsektor hervorbringen, der von der gesamtwirtschaftlichen Einkommensentwicklung weitgehend abgekoppelt bliebe. Es würde auch eine Abkehr vom deutschen Entwicklungspfad durchgängig hoher Produktivitätszuwächse, basierend auf hoher durchschnittlicher Qualifikation des Faktors Arbeit, einleiten. Die sozialen Kosten ließen sich durch „Kombilohn"-Elemente und steuerfinanzierte Absicherung für Alter und Krankheit abschwächen. Aber das grundsätzliche Dilemma bliebe.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1999

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