News of the Arbeitskreis |
23. August 1939 |
Regierungserklärung in ernster Stunde
In der Sitzung des britischen Kabinetts, die gestern stattfand und länger als drei Stunden dauerte, wurde folgende Regierungserklärung beschlossen und der Presse übergeben: "Das Kabinett hat in seiner heutigen Sitzung die internationale Situation in allen Einzelheiten erwogen. Ausser den Berichten über die militärischen Vorgänge in Deutschland hat das Kabinett von dem Bericht Kenntnis genommen, dass ein Nichtangriffspakt zwischen der deutschen und der Sowjetregierung vor dem Abschluss steht. Ohne Zögern hat das Kabinett beschlossen, dass ein solches Ereignis in keiner Weise den Verpflichtungen gegenüber Polen im Wege stehe, die wiederholt öffentlich erklärt wurden und zu deren Erfüllung die Regierung entschlossen ist." Nach der Feststellung, dass das Parlament einberufen wurde, besondere Massnahmen ergriffen werden sollen und die militärischen Reserven einberufen werden und dass Massnahmen hinsichtlich des Exports wichtiger Materialien ergriffen werden sollen, fährt die Erklärung fort: "Während diese Massnahmen ergriffen werden, die die Regierung für nötig hält, bleibt sie der Meinung, dass sich nichts in den Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Polen ergeben hat, das die Anwendung von Gewalt rechtfertigen würde, die einen europäischen Krieg in allen seinen tragischen Konsequenzen zur Folge hätte. Wie der Ministerpräsident oft gesagt hat, gibt es wirklich keine Probleme in Europa, die man nicht friedlich lösen könnte, wenn nur die Bedingungen des Vertrauens wiederhergestellt werden könnten. Die Regierung Seiner Majestät ist nach wie vor bereit, bei der Schaffung solcher Bedingungen zu helfen, aber wenn, trotz all ihrer Bemühungen, andere darauf bestehen Gewalt anzuwenden, dann ist sie bereit und entschlossen, bis zum äussersten Widerstand zu leisten."
Das Parlament, das sich bis Anfang Oktober vertagt hatte, ist für morgen einberufen worden. Das Unterhaus wird um 2.45 Uhr zusammentreten. Chamberlain wird eine Rede halten. Nach ihm werden die Führer der Opposition sprechen. Im Oberhaus wird vermutlich Lord Halifax[1] sprechen.
Ribbentrop auf dem Weg nach Moskau
Gestern ist Ribbentrop[2] in Hitlers Privatflugzeug in Berlin eingetroffen und hat sich von dort nach Königsberg begeben, von wo aus er nach Moskau weiterfliegt. Ribbentrop soll heute in Moskau landen. In seiner Begleitung befinden sich zahlreiche Mitarbeiter, vor allem Dr. Gaus,[3] der Unterstaatssekretär, und der Dolmetscher des Aussenministeriums, Schmidt[4] .
Das Echo der Moskauer Schwenkung
Obwohl nach dem Sturz Litwinows[5], dem Besuch des russischen Geschäftsträgers beim "Tag der Kunst" in München und nach dem Verlauf der Moskauer Paktverhandlungen mit einer neuen Wendung der Moskauer Aussenpolitik zu rechnen war, hat die Meldung von Ribbentrops Reise nach Moskau in der Weltpresse als ungeheure Überraschung gewirkt. Die Nazizeitungen jubeln über den angeblichen Zusammenbruch der "Einkreisungspolitik". Der "Angriff"[6] feiert die "Wiederherstellung der gesunden deutsch-russischen Freundschaft". Die Moskauer "Prawda", die eben noch das Dritte Reich kritisierte, widmet sich jetzt mit grosser Schärfe der Kritik Japans. Die japanische Presse äussert bittere Enttäuschung über den unzuverlässigen Berliner Alliierten. Die italienischen Zeitungen erklären den Frieden für gerettet. Die polnische Presse erklärt, Polen könne auch ohne Russland standhalten, und erklärt, dass England, Frankreich und Polen siegen werden. Die übrige europäische Presse äussert meistens, dass die plötzliche Wendung noch nicht ganz glaublich erscheine. Die "Neue Zürcher Zeitung"[7] meint, dass die "ideologisch verwandten Systeme" des Nazismus und Bolschewismus nun offenbar auch politisch zusammenarbeiten wollen. Molotow[8] soll den Botschaftern Englands und Frankreichs erklärt haben, dass der Weiterführung der
Generalstabsbesprechungen und einem Pakt-Abschluss mit England und Frankreich nichts im Wege stehe. Die englischen Zeitungen, die gestern teils Überraschung, teils Skepsis äusserten, weisen heute auf den grossen Ernst der Lage hin. Bemerkenswert ist die Äusserung des der Regierung nahestehenden "Daily Telegraph"[9]: "Wenn man sich vorstellen könnte, dass Britannien angesichts der gegenwärtigen Herausforderung denen seinen Rücken kehren könnte, denen es Unterstützung versprach und die es für die Abwehrfront geworben hat, dann würde sein Kredit und Einfluss für alle Zeiten sinken. Europa wäre verloren, aber nicht mehr verloren als das Britische Weltreich wäre."
Henderson[10] zu Hitler?
Heute früh verbreitet die Havas-Agentur[11] eine Meldung, dass der englische Botschafter in Berlin, Sir Neville Henderson, Hitler heute besuchen und ihm eine Botschaft Chamberlains[12] überbringen werde.
Roosevelt[13] beruft Kongress
Aus Washington kommt die Meldung, dass Roosevelt den Kongress zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammenberufen werde, um die Aufhebung des Neutralitätsgesetzes zu verlangen.
Die Vereinigung der Lokomotivführer und Heizer hat gestern bei einer Versammlung in Hampstaed beschlossen, am Wochenende wegen Lohnforderungen, über die schon lange verhandelt wurde, einen Streik auszurufen. Die Nationalunion der Eisenbahner, die siebenmal stärker ist, hat sich gegen den Streik erklärt.
Franzosen verlassen Deutschland
Die in Deutschland lebenden Franzosen sind von ihren Konsulaten zum Verlassen des Landes aufgefordert worden.
Daladier[14] konferiert mit Gamelin[15]
Der französische Ministerpräsident Daladier hat gestern mit dem Generalstabchef Gamelin eine wichtige Unterredung gehabt. Obwohl die Unterredung geheim war, wird angenommen, dass ernste militärische Massnahmen, besonders die Einberufung der Reserven (wie in England) beschlossen wurden. Nach den letzten Meldungen soll Deutschland 2 Millionen Mann unter Waffen haben.
Editorische Anmerkungen 1 - Lord Halifax: Siehe SM vom 16. Nov. 1939, Anm. 4 2 - Ribbentrop: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 4 3 - Friedrich Gaus (1881 - 1955), seit 1907 im Auswärtigen Dienst, 1919 Leiter der Rechts-kommission der Friedensdelegation in Versailles, seit 1939 Unterstaatssekretär. 4 - Schmidt, Dolmetscher im Reichsaußenministerium. Mehr nicht ermittelt. 5 - Sturz Litwinows: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 2 6 - "Der Angriff": Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 5 7 - "Neue Zürcher Zeitung": Siehe SM 10, 15. Mai 1940, Anm. 18 8 - Molotow: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 10 9 - "Daily Telegraph": Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 30 10 - Henderson: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 22 11 - Havas-Agentur: Nachrichtenagentur, gegründet 1835 von Charles Louis Havas (1783 - 1858), aufgelöst 1940, Nachfolgeagentur wurde 1944 die AFP / Agence France Press. 12 - Chamberlain: Siehe SM vom 21. Sept. 1939, Anm. 1 13 - Roosevelt: Siehe SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 32 14 - Daladier:SM vom 26. Aug. 1939, Anm. 25 15 - Gamelin: SM 8, 18. Apr. 1940, Anm. 9 |