Sozialistische Mitteilungen
News for German Socialists in England

16. November 1939


This newsletter is issued for German Socialists living in England and fighting against Hitlerism and dictatorship of any kind. It is for their information and for the support of their struggle for freedom, democracy and civilisation that the following news are published.[1]

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Wiederwahl Attlees

Die sozialistische Parlamentsfraktion waehlte gestern in einer Sitzung im Unterhause einstimmig R.C. Attlee erneut zum Vorsitzenden und Fuehrer der Opposition. Ebenso wurde Arthur Greenwood[2] einstimmig zu seinem Stellvertreter gewaehlt.[3]

Die englischen Kriegsziele

In letzter Zeit haben sich der britische Aussenminister Lord Halifax[4], der fruehere englische Gesandte in Berlin, Sir Neville Henderson, und der Fuehrer der Labour-Party, Attlee, ueber die Kriegsziele in Reden geaeussert. Halifax betonte, dass ein fuer allemal Europa vor neuen Angriffen, wie sie zu diesem Kriege gefuehrt haben, bewahrt werden muesse. Henderson wies erneut darauf hin, dass der Krieg sich nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen das Hitlersche Kriegs- und Angriffssystem richtet. Attlee forderte, dass man mit einer vertrauenswuerdigen deutschen Regierung einen gerechten Frieden schliessen solle. Diese deutsche Regierung werde ihren guten Willen nicht nur durch Worte, sondern durch Taten beweisen muessen und als erste Tat die Raeumung der besetzten polnischen und tschechischen Gebiete zu vollziehen haben. Attlee entwickelte weiter einen Friedensplan, der einen foederativen Zusammenschluss der Staaten Mittel- und Osteuropas und eine gerechte Verteilung der Weltrohstoffe vorsieht.

In einer Rundfunkansprache am vergangenen Sonntag aeusserte sich Winston Churchill ueber die Durchfuehrung des Krieges und sagte u.a., wenn der Winter ohne ein groesseres Ereignis voruebergehe, haben die Alliierten den Krieg schon halb gewonnen. In jedem Falle aber werde der Krieg so lange gefuehrt werden, bis der Feind genug habe. Churchill richtete seine Angriffe vor allem gegen Hitler, Goering und Ribbentrop.[5]

Friedensmanoever gescheitert

Wahrscheinlich unter dem Druck des Dritten Reiches, das seine Truppen an der hollaendischen und belgischen Grenze zusammenzog, [haben] der Koenig von Belgien[6] und die Koenigin von Holland[7] ein Friedensmanifest erlassen, das nach London, Paris und Berlin gesandt wurde und zur Einstellung der Feindseligkeiten aufforderte, bevor der Krieg furchtbare Formen annehme. Die englische und franzoesische Regierung haben darauf erwidert, dass sie zu Friedensverhandlungen unter der Bedingung bereit seien, dass die deutschen Truppen aus Polen und der Tschechoslowakei zurueckgezogen wuerden. Die Hitler-Regierung hat nach Bekanntwerden dieser Erklaerung eine ablehnende Antwort gesandt. Gestern empfing Ribbentrop den hollaendischen Gesandten in Berlin und erklaerte ihm, die Staatsoberhaeupter von Grossbritannien und Frankreich wuerden den Tag bereuen, an dem sie ihre "unverschaemte Antwort" auf den hollaendisch-belgischen Friedensvorschlag gesandt haetten. Ribbentrop sagte, Deutschland werde jetzt einen "wirklich furchtbaren Krieg" beginnen.

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Heimkehr der Finnen

Gestern traf die finnische Delegation, die in Moskau ueber die Forderungen der Sowjetregierung an Finnland verhandelt hatte, wieder in Helsingfors ein. In einer Konferenz, die unter dem Vorsitz des Staatspraesidenten Kallio[8] stattfand und laenger als vier Stunden dauerte, wurde ueber die Verhandlungen und ihren Abbruch berichtet. Finanzminister Tanner[9], der sozialdemokratische Teilnehmer an den Verhandlungen (der in der Zarenzeit einmal dem politischen Fluechtling Stalin das Leben gerettet hatte)[10], erklaerte in einem Interview, die Verhandlungen waeren nicht endgueltig abgebrochen, aber es sei unbekannt, wann sie wieder aufgenommen wuerden. Die finnische Delegation werde vielleicht nach Moskau zurueckreisen, um eine geeignete Basis fuer die Fortfuehrung der Verhandlungen zu finden.

Die vorgestrige Meldung, dass ein Sowjetflugzeug ueber finnischem Gebiet abgeschossen wurde, ist inzwischen dementiert worden. Dafuer zeugten aber die gestrigen Abendsendungen des Moskauer Rundfunks von einer bedenklichen Verschaerfung der Situation. Der Moskauer Rundfunksprecher beschuldigte die finnische Regierung, dass sie die Anti-Sowjetpropaganda ermutige und falsche Informationen ueber die Sowjetunion verbreite. Weiter wurde im Moskauer Sender erklaert, die Soldaten der finnischen Armee muessten auf die Frage, gegen wen sie kaempfen wuerden, erwidern, "gegen Russland". Die herrschenden Klassen Finnlands, wurde behauptet, wuenschten keine Verstaendigung mit der Sowjetunion und traeumten von einer Ausdehnung Finnlands bis zum Ural. Schliesslich wurde England als Anstifter des finnischen Widerstandes bezeichnet.

All das zeigt eine auffaellige Gleichschaltung der sowjetrussischen Propaganda mit der Hitlerschen.

Hitler-Krieg mit Sowjetflugblaettern

Der Pariser Korrespondent des "Daily Telegraph" meldet, dass endgueltig festgestellt wurde, dass die Sowjetflugblaetter, die am 7. November in der Gegend von Paris abgeworfen wurden, von einem Nazi-Flieger stammten. Die Flugblaetter, die eine franzoesische Uebersetzung der juengsten Erklaerung der "Komintern" enthielten, wurden in Paketen abgeworfen, die mit Metallbaendern befestigt waren. Auf den aufgefundenen Metallbaendern befand sich der Stempel "Cyclop D.R.P. Hamburg". man nimmt an, dass die Flugblaetter in Moskau gedruckt wurden und von da nach Hamburg geschickt wurden, wo man sie verpackte und einem Nazi-Flieger zum Abwurf ueber Frankreich uebergab.

Fluechtlinge zum Verteidigungsdienst

Die britische Regierung hat bekanntgegeben, dass sich zum Verteidigungsdienst auch Auslaender melden koennen, darunter auch Deutsche und Oesterreicher, wenn sie von den Tribunalen fuer freundliche Auslaender erklaert wurden und aller Restriktionen enthoben wurden. Fluechtlinge koennen die Meldung bei Captain Bernard Davidson[11], Bloomsbury House, Bloomsbury Street, London W.C. 1, vollziehen. Tschechoslowakische Fluechtlinge koennen die Meldung erst vollziehen, wenn sie die Tribunale passiert haben. Ihre Meldung ist nach 5, Mecklenburgh Square, London W.C. 1, zu richten.

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Auswanderung oder Rueckwanderung?

Bei der Eroeffnung der Tagung des Inter-Governmental Refugee Committee (Evian-Komitee)[12] in Washington hielt Praesident Roosevelt eine Begruessungsrede, in der [er] u.a. sagte, er glaube, dass nach diesem Kriege noch zehn oder zwanzig Millionen neue Fluechtlinge ein neues Leben in fremden Laendern werden beginnen wollen. Als Roosevelt auf einer Pressekonferenz gebeten wurde, diese Aeusserung zu erlaeutern, lehnte er das ab. Die Mitglieder des Evian-Komitees vertreten im Gegensatz zu Roosevelt die Auffassung, dass sich die Zahl der Fluechtlinge nach dem Kriege vermindern werde, [da] die politischen Fluechtlinge zum grossen Teil in ihre Heimatlaender werden zurueckkehren koennen.

In englischen Kreisen ist man der Auffassung, dass sich das Fluechtlingsproblem durch den Krieg grundlegend gewandelt habe, da anstelle der Auswanderungsfrage jetzt die Frage der Beschaeftigung der in England befindlichen Fluechtlinge und ihrer spaeteren Rueckwanderung getreten sei.

Reorganisierung des Czech Refugee Trust Fund

Im Hinblick auf die veraenderte Lage der Fluechtlinge ist eine Umorganisierung des Czech Refugee Trust Fund geplant, die auch dadurch bedingt ist, dass dieses Komitee jetzt oeffentliche Gelder verwaltet. Die Betreuung der Fluechtlinge soll vor allem im Hinblick auf ihre berufliche Eignung fuer die Landwirtschaft, die Industrie oder freie Berufe erfolgen. Auch fuer die Neugestaltung der inneren Organisation und Selbstverwaltung liegen Plaene vor, die gegenwaertig Gegenstand von Beratungen sind.

Sitzung der Internationale verschoben

Die Sitzung der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, die, wie wir in unseren Mitteilungen am 5. November meldeten, am 18.d.M. in London stattfinden sollte, ist inzwischen verlegt worden. Sie wird zu einem spaeteren Zeitpunkt und wahrscheinlich an einem anderen Orte stattfinden.

Das Echo der Deutschland-Berichte

Das Erscheinen der vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sitz Paris, herausgegebenen "Deutschland-Berichte" in englischer, franzoesischer und deutscher Sprache, das wir in unseren Mitteilungen vom 5. November ankuendigten, hat inzwischen ueberall ein lebhaftes Echo gefunden. Bezeichnend war ein langer Bericht des Pariser Korrespondenten des "Daily Telegraph", der am 11. November erschienen ist und die Bedeutung der "Deutschland-Berichte", die ohne propagandistische Absicht ueber die tatsaechlichen Verhaeltnisse im Hitler-Reich berichten, unter Anfuehrung zahlreicher Zitate wuerdigte.

Wir weisen noch einmal darauf hin, dass die "Deutschland-Berichte" jetzt wieder allmonatlich erscheinen werden, dass die englische Ausgabe "Germany Reports" eine vollstaendige Uebersetzung der Berichte bringt und dass Bestellungen direkt an Dr. Rinner, 30, Rue des Ecoles, Paris 5e, zu richten sind.

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Die Bierkeller-Bombe

Der Eindruck, dass das "Bomben-Attentat" am 9. November [gemeint: 8. November] im Muenchener Buergerbraeu, wo Hitler anlaesslich des 16. Jahrestages seines Muenchener Putsches eine Rede gehalten hatte, ein zweiter Reichstagsbrand war, verstaerkt sich immer mehr. Die seltsame Tatsache, dass Hitler erst im letzten Augenblick die Rede uebernahm, die eigentlich Hess[13] halten sollte, dass die Rede aussergewoehnlich kurz war und die Bombe erst eine Viertelstunde nach Hitlers Weggang explodierte und nur unbedeutende Pg's[14] umbrachte, erscheint hoechst verdaechtig. In skandinavischen Zeitungen ist inzwischen eine photographische Aufnahme erschienen, die Hitler bei Beendigung der Rede im Bierkeller zeigt. Dort sieht man, dass die das Rednerpult umringenden SA-Leute begeistert die Haende emporstrecken, waehrend die Wuerdentraeger des Dritten Reichs, die Hitler zu Fuessen sitzen, bewegungslos zusehen, so als ob sie auf etwas warteten. Es gibt dafuer nur zwei Deutungen: Entweder warten sie auf das Losgehen der Bombe oder auf Hitlers eiligen Abschied. In jedem Falle wissen sie von der Bombe, im Gegensatz zu den SA-Leuten. Trotz grossartiger Ankuendigungen und Belohnungen hat die Gestapo bisher noch nichts ueber die Taeter herausfinden koennen. Neutrale Beobachter sind der Ansicht, dass es sich um eine Komoedie gehandelt hat, die dazu bestimmt war, die Nazis und die Bevoelkerung zur Foerderung der Kriegsstimmung aufzuputschen. In manchen auslaendischen Blaettern wird freilich auch der Vermutung Ausdruck gegeben, dass es sich um den Versuch gewisser Kreise um Goering und die Reichswehr gehandelt habe, sich Hitlers zu entledigen, um dann eine Regierung zu bilden, die mit den Westmaechten Frieden schliessen koennte und sich vielleicht zum Kampfe gegen die Sowjetunion anbieten wuerde. Man wird nicht fehl gehen in der Annahme, dass es sich bei der zweiten Version um eine Kombination handelt, die von einer gewissen monarchistischen Propaganda, die gegenwaertig im Ausland ziemlich stark ist, fuer ihre Zwecke benuetzt wird.

Zwischenfaelle in Prag

Die heutigen englischen Blaetter melden, dass es gestern mittag in Prag zu Studentenkundgebungen gekommen ist, die infolge des Todes eines tschechischen Studenten, der bei den Kundgebungen am 28. Oktober verletzt worden war, entstanden. Die Kundgebungen begannen am Grabe des Unbekannten Soldaten und setzten sich vor dem Nationaltheater, dem Parlament und der Universitaet fort. In der Gegend des Parlaments und der Universitaet griffen SS-Leute ein und trieben die Demonstranten auseinander. Am Karlsplatz, wo eine neue Kundgebung stattfand, ging Polizei gegen die Menge vor.

Nach der Meldung der British United Press[15] waren an den Kundgebungen 200 tschechische Studenten beteiligt. Aus ihrer Mitte wurde fortgesetzt der Ruf "Freiheit!" laut.




Published by the London Representative of the German Social
Democratic Party, 33, Fernside Avenue, London N.W. 7






Editorische Anmerkungen


1 - Zum Untertitel ("News for ...") und zum Aufdruck ("This news-letter ... of any kind.") vgl. Einleitung. Der zweite Satz des obigen Aufdrucks ("It is for ... are published.") erscheint in allen folgenden Ausgaben der SM nicht mehr.

2 - Arthur Greenwood (1880 - 1954), Volkswirt, 1922 MP (Labour) bis zu seinem Tod, 1929-1931 Minister für Gesundheit, 1940-1942 Minister ohne Geschäftsbereich im britischen Kriegskabinett, 1945-1947 Minister in der Attlee-Regierung.

3 - = Deputy Leader and Acting Chairman.

4 - "Lord Halifax": Edward Frederick Lindley Wood, Earl of H. (1881 - 1959), 1910-1925 konservat. Abgeordneter im Unterhaus, 1925-1931 Vizekönig in Indien, 1938-1940 Außenminister, 1940-1946 brit. Botschafter in den USA.

5 - Hermann Göring (1893 - 1946), 1928 ff. NSDAP-MdR, 1933 ff. preußischer Ministerpräsident und Reichsluftfahrtminister, 1935 ff. Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Entzog sich der Hinrichtung aufgrund des Nürnberger Urteils durch Freitod.

6 - = Leopold III. (1901 - 1983), 1934-1944 und 1950/1951 belgischer Koenig, 1945 ff. im Exil, 1951 Abdankung.

7 - = Wilhelmina (1880 - 1962), 1890-1948 Königin der Niederlande, 1940-1945 im Exil in GB, 1948 Thronverzicht.

8 - Kyösti Kallio (1873 - 1940), Politiker der finnischen Bauernpartei, 1937-1940 Staatspräsident.

9 - Väinö Alfred Tanner (1881 - 1966), Rechtsanwalt, nach dem I. Weltkrieg Führer der finnischen Sozialdemokratie, 1926-1927 Ministerpräsident, 1937-1939 Finanzminister, 1.12.1939 - 27.3.1940 Außenminister, 1940-1944 weitere Ministerämter, 1945-1948 im Gefängnis wegen seiner Beteiligung an der finnischen Kriegserklärung von 1941 gegen Russland, 1949 begnadigt (gegen Proteste von kommunistischer Seite), später wieder Sitz im Reichstag und zeitweise Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Finnlands.

10 - Auf welches Ereignis hier Bezug genommen wird, wurde nicht ermittelt. Die Autobiographie Tanners, von ihm während seiner Gefängnishaft (s. o.) geschrieben und später veröffentlicht, konnte nicht eingesehen werden. Stalin (übrigens zum ersten Mal im Ausland) hatte 1905 an einem "Nationalkonvent" der Bolschewiken im finnischen Tammersfors teilgenommen. Als er zum zweiten Mal Finnland besuchte, war das bereits in der nachzaristischen Zeit (kurz nach der Oktoberrevolution 1917). Als Volkskommissar für Nationalitätenfragen proklamierte er damals die Unabhängigkeit Finnlands von Russland.

11 - Zu Bernard Davidson konnten keine biographischen Angaben ermittelt werden.

12 - Im März 1938 hatte Präs. Roosevelt 32 Regierungen zu einer Internationalen Flüchtlingskonferenz eingeladen, die dann im Juli 1938 im französischen Evian bei Genf stattfand und an der auch Vertreter von Flüchtlingsorganisationen teilnahmen. Die Konferenz, die über die Lage der Flüchtlinge in der Welt beriet, hatte die Einsetzung eines permanenten "Intergovernmental Committee for Refugees" zur Folge, das die Arbeit der Konferenz (Hilfe für die Flüchtlinge) fortsetzen sollte.

13 - Rudolf Hess (1894 - 1987), Teilnehmer des Hitlerputsches von 1923, gemeinsame Festungshaft mit Hitler, 1933 ff. "Stellvertreter des Führers" und Reichsminister ohne Geschäftsbereich, 1941 (vor dem deutschen Überfall auf die SU) Flug nach Schottland wg. "Friedensverhandlungen" mit GB, 1946 vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt.

14 - Pg's = Parteigenossen.

15 - Die Nachrichtenagentur British United Press gehörte in dieser Zeit zur amerikanischen United Press, die wiederum Vorläuferin der United Press International (UPI) war.



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