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[Seite der Druckausg.: 13]


RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DAS BÜNDNIS IN DEUTSCHLAND


Zunächst muß man sich vor Augen führen, daß die hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik das Ergebnis von 20 Jahren Fehlentwicklung ist. In dieser Zeit hat sich ein ausgeprägt gespaltener Arbeitsmarkt herausgebildet. Er ist eines zentralen arbeitsmarktpolitischen Probleme. Während in den meisten Regionen für gut qualifizierte Arbeitnehmer nahezu Vollbeschäftigung herrscht, konzentriert sich die Unterbeschäftigung auf Arbeitnehmer mit niedrigen Qualifikationen und auf bestimmte Regionen. Aus dieser Einseitigkeit der Zusammensetzung und der Verteilung der Arbeitslosigkeit folgt, daß alle globalen nachfrageorientierten Strategien nur begrenzte Effekte haben können. In den Vollbeschäftigungsbereichen werden relativ rasch Engpässe entstehen. Lange bevor Vollbeschäftigung bei niedrig Qualifizierten möglich wird, müßte die Inflation zurückkehren mit der Folge, daß wirtschaftliches Wachstum durch eine restriktive Geldpolitik abgewürgt werden müßte. Dieser Hinweis besagt natürlich nicht, daß die Möglichkeiten der Nachfragepolitik nicht voll – d.h. bis an die Grenze steigender Preise – ausgeschöpft werden sollten.

Die engen Grenzen einer Nachfragepolitik können durch spezifische stabilitäts- und an der Expansion des Arbeitsvolumens orientierte Verhaltensweisen verbessert werden. Würden die Gewerkschaften einer mehrjährigen Strategie zustimmen, bei der die Lohnsteigerung hinter den Produktivitätssteigerungen zurückbleiben, dann ergäben sich – im Rahmen eines impliziten Paktes mit der Zentralbank – für die Zentralbank größere beschäftigungsorientierte Handlungsspielräume. Die Sorge gegenüber einem Wiederaufleben der Inflation wäre gering und die Expansion des Arbeitsvolumens möglich.

Diese Strategie empfiehlt sich schon deshalb, weil die Produktivitätsunterschiede größer sind als die Lohndifferenzen. Ein rein marktwirtschaftlicher Weg „zurück zu Vollbeschäftigung" würde vor allem in Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten bei nur langfristig zu erwartenden Erfolgen extreme Lohnspreizungen erfordern, die in einer sozialen Marktwirtschaft nicht akzeptabel sind. Der amerikanische Weg zur Vollbeschäftigung mit seinen Ungleichheitsfolgen wird für die Bundesrepublik so nicht gangbar sein. Ein längerer Wachstums- und Entwicklungsprozeß wird daher erforderlich.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Erwerbstätige in unserer Gesellschaft erwirtschaften Bruttoeinkommen für vier zentrale Aufgaben:

  • An der Spitze steht der Wunsch, einen angemessen Konsum inkl. einer angemessenen privaten Vermögensbildung.
  • Aus Bruttoeinkommen müssen Beiträge für die Alterssicherung und
  • für die staatlichen Kollektivgüter erwirtschaftet werden.
  • Schließlich müssen die Kosten für Kinder und ihre Erziehung aufgebracht werden.

Die wirtschaftliche Entwicklung hat dazu geführt, daß der technische Fortschritt, nicht zuletzt gestützt auf massive staatliche Anreize, zu einer ständigen Verschärfung des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt für Niedrigqualifizierte geführt hat. Technischer Fortschritt ersetzt vor allem Arbeitskräfte mit niedrigen Qualifikationen. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen führt dies bei Vollbeschäftigung zu Lohnniveaus, die es nicht mehr ermöglichen, einen angemessenen Mindestkonsum, Finanzierung der eigenen Alterssicherung, Deckungsbeiträge für die staatlichen Kollektivgüter und die Aufwendungen für Kindererziehung zu erwirtschaften. Sollen die Ungleichheitsfolgen vermieden werden, dann wären Erwerbs-

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tätige mit niedrigem Lohneinkommen zu entlasten. Dies könnte bedeuten, ihnen keine Deckungsbeiträge für die staatlichen Kollektivgüter und keine, oder nur geringe Deckungsbeiträge für die eigene Alterssicherung abzuverlangen. Als groben Zielwert könnte die Politik anpeilen, alle Einkommen bis 2.500 DM brutto p.M. so zu entlasten, daß die Senkung der Bruttolöhne zu einer kräftigen Ausweitung der Nachfrage nach einfacher Arbeit in allen Sektoren der Volkswirtschaft führt. Das Einkommen würde dann überwiegend dem eigenen Konsum dienen. Der Familienlastenausgleich kann zusätzlich die Kosten für Kinder deutlich absenken.

Niemand kann exakt vorausberechnen wie hoch die Entlastungen sein müssen. Tatsächlich wird es auch garnicht gelingen, die erforderlichen finanziellen Umschichtungen zu Gunsten der niedrig Qualifizierten in kurzen Fristen vorzunehmen. Der Umschichtungs-, Investitions- und Anpassungsprozeß wird in keinem Fall in einer Legislaturperiode zu bewältigen sein. Im ungünstigen Fall – bei geringen Reaktionen auf den Märkten und geringem Finanzierungsvolumen – sind 10 Jahre anzupeilen.

Zur Finanzierung eines Rückwegs zur Vollbeschäftigung und der Entkopplung von Brutto- und Nettoeinkommen bei Niedrigqualifizierten sind Steuererhöhungen und Abgabenerhöhungen angesichts der schon erreichten Belastungen kaum vorstellbar. Der Rückweg zur Vollbeschäftigung auf diesem Wege setzt einen massiven Subventionsabbau voraus. Als Steinbrüche im riesigen Subventionsgebirge an Finanzhilfen des Bundes sowie Steuervergünstigungen des Bundes und der Länder können gelten:

  • Abbau von Mobilitätssubventionen, d.h. Abbau der Subventionen für den öffentlichen Personennahverkehr und Mehrbelastung der Autofahrer, damit sie die volkswirtschaftlichen Kosten ihrer Mobilität tragen, inkl. der Kosten für Staus, die durch Stauabgaben verringert werden könnten;
  • Abbau von sektoralen Subventionen,
  • insbesondere der Subventionen und Steuerausfälle im Immobilien- und Wohnungssektor;
  • stärkere Belastung der Erwerbstätigen ohne Kinder.

Es liegt auf der Hand, daß eine Umschichtung mit diesen Zielsetzungen Größenordnungen erreicht, die weit höher sind als die jetzige Steuerreform. Ein solcher Solidarpakt, der weit über das Bündnis für Arbeit hinausgeht, setzt eine breite Diskussion und einen Konsens voraus. Der Einsicht, daß die „Arbeitslosigkeit das Problem Nr. 1" ist, müssen der Dimension der Aufgabe angemessene Veränderungen folgen, die über bisher angedachten Konzepte und Modelle hinausgehen. Allerdings entsteht mittel- und langfristig auch für diejenigen, die im Übergang belastet werden, der Vorteil, daß die volkswirtschaftlichen und sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit abschmelzen. Es entsteht mehr wirtschaftliches Wachstum, für die zusätzlich Beschäftigten entstehen Learning-by-doing-Effekte. Diesen positiven Langfristfolgen stehen wahrscheinlich mehr Belastungen für breite Schichten während einer Phase von bis zu sechs Übergangsjahren gegenüber. Als Nettogewinn verringern sich – wahrscheinlich nur mit einer Zeitverzögerung – die Kosten der Arbeitslosigkeit. Was jetzt Not tut, ist eine breite Diskussion, die ins Bewußtsein hebt, wie groß die Verwerfungen sind, die sich in den letzten Jahren aufgebaut und aufgestaut haben. Veränderungen der Größenordnungen, die durch und für einige Millionen zusätzliche Arbeitsplätze erforderlich werden, sind nicht über Nacht möglich, weil natürlich in allen betroffenen Sektoren Anpassungs- und Übergangsfristen erforderlich sind. Die Bundesrepublik steht vor einem Jahrzehnt des Umbaus ihres Sozialsystems, des Umbaus des Subventionssystems und des Umbaus des Arbeitsmarktes. Am Ende

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dieses Jahrzehnts kann eine Gesellschaft mit mehr Gleichheit, höherem Bruttosozialprodukt, höherem Wachstum und damit auch mehr Einkommen und Wohlfahrt für breite Schichten stehen.

[Seite der Druckausg.: 16 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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