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[Seite der Druckausg.: 7]


GENERELLE ARBEITSMARKTPOLITISCHE OPTIONEN


Die Vorstellung „uns geht die Arbeit aus" ist so abwegig wie die Vorstellung, daß viele Menschen keine unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse mehr haben. Es gibt genügend Arbeitsmöglichkeiten. Arbeit muß nur besser organisiert werden. Das klingt einfach; nach Jahrzehnten der Verwerfungen und der Fehlentwicklungen sind Umsteuerungen in einem Ausmaß notwendig, die bisher nur in Ansätzen angedacht sind. Nach 16 Jahren Kohl-Regierung sind die Deutschen von weitreichenden politischen Innovationen entwöhnt. Für ein erfolgreiches Bündnis für Arbeit gilt: Innovationstempo und Innovationsintensität müssen steigen.

Das Thema „Arbeit für alle" muß von Kultur- und Fortschrittspessimismus freigehalten werden. Solch ein Pessimismus kommt vor allem dann auf, wenn durch normative Vorgaben oder ein empirisch nicht begründetes Vorverständnis wirksame Lösungselemente tabuisiert werden. Die folgende Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Arbeitslosenquote in Prozent der Erwerbspersonen für ausgewählte Länder anhand der von der OECD ermittelten standardisierten und damit vergleichbaren Ziffern.

Tabelle 1

Standardisierte Arbeitslosenquoten für ausgewählte Länder
(1992 und 1997)

Land/Jahr

1992

1997

Deutschland

6,8

10,0

Vereinigte Staaten

7,5

4,9

Japan

2,2

3,4

Großbritannien

10,1

7,0

Frankreich

10,4

12,4

Italien

9,0

12,1

Niederlande

5,6

5,2

Dänemark

9,2

5,5

Neuseeland

10,3

6,7

Quelle: OECD Economic Outlook 64, Dezember 1998, Annex Tab. 22.

Klammert man Japan aus, so sind unter den westlichen Industriestaaten die USA der unbestrittene Maßstab für den Beschäftigungserfolg: Die Arbeitslosigkeit ist dort um 40 Prozent niedriger als in Deutschland, obwohl in den USA, wie aus Tabelle 3 ersichtlich, knapp 48 Prozent der Bevölkerung einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in Deutschland dagegen nur etwa 41 Prozent. Zugleich ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland seit 1992 um über 7 Prozent gefallen, in den USA jedoch um 10 Prozent gestiegen. [ Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 199 8 /99, Tab.1 im Tabellenteil A. Internationale Tabellen.] Eine höhere Erwerbsbeteiligung und ein höheres Arbeitsvolumen im Verhältnis zur Bevölkerung geht also Hand in Hand mit niedrigerer Arbeitslosigkeit als in Deutschland. Im Umkehrschluß zeigen die Zahlen für Deutschland, Frankreich (gut 38 Prozent Erwerbstätige) und Italien (nur etwa 35 Prozent Erwerbstätige), daß niedrige Erwerbsbeteiligung Hand in Hand geht mit hoher und

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steigender Arbeitslosigkeit. Die Hypothese, Arbeit sei nur begrenzt vorhanden und Arbeitsrationierung und -umverteilung seien dringlich, widerspricht empirischen Ergebnissen.

Dort, wo die Menschen mehr arbeiten, gibt es weniger Arbeitslosigkeit und nicht umgekehrt! Diese Erkenntnisse schließen sich nahtlos an den Trend der letzten zwanzig Jahre an: Die Zahl der Erwerbstätigen ist heute in Deutschland (West), Frankreich und Italien nicht höher als im Jahre 1980, in den USA dagegen ist sie um 30 Prozent gestiegen.

Bezogen auf die Zahl der Einwohner hatte die USA 1997 zwölf Prozent mehr Erwerbstätige als Deutschland. Wegen der durchschnittlich längeren Arbeitszeit war die Zahl der Arbeitsstunden pro Einwohner, also die relative Menge an bezahlter Arbeit, sogar um 35 Prozent höher als in Deutschland. Da die USA auch ein um 32 Prozent höheres BIP je Einwohner erwirtschaften, wurde das höhere Einkommen nicht mit geringerer Produktivität erkauft. [ Relationsziffern berechnet nach Daten bei H.P. Klös: Arbeitsmarktentwicklung im Spiegel international vergleichbarer Empirie. Kann Deutschland vom Ausland lernen?, Tabelle 4, S. 34, IW-Trends I/98.] Nimmt man den seit 30 Jahren anhaltenden starken Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen in den USA mit hinzu, dann geht dort die Arbeit offenbar nicht aus.

Wer die Verkürzung der Arbeitszeit bzw. die Umverteilung von Arbeit für die wesentliche Antwort auf die Arbeitslosigkeit hält, sollte sich zunächst mit diesen Fakten auseinandersetzen.

Der Preis für diese Entwicklung war in den USA ein weitgehender Verzicht auf die Erhöhung der realen Lohnniveaus. Von 1980 bis 1997 veränderte sich der reale Stundenlohn in der verarbeitenden Industrie wie in Tabelle 2 dargestellt:

Tabelle 2

Prozentuale Veränderung der realen Stundenlöhne* in ausgewählten Industrieländern zwischen 1980 und 1997

Vereinigte Staaten

- 7%

Niederlande

+11%

Italien

+13%

Dänemark

+18%

Frankreich

+19%

Großbritannien

+30%

Westdeutschland

+31%

* Auf Nationalwährungsbasis in der Verarbeitenden Industrie.
Quelle: Chr. Schröder: Industrielle Arbeitskosten im internationalen Vergleich. Tab. 3, S. 95, IW-Trends 2/98.

Es ist also keineswegs so, daß steigendes Beschäftigungsvolumen steigende Reallöhne erfordert. Statistisch gesehen hatten durchweg die Staaten mit langsamerem Reallohnanstieg höhere Beschäftigungserfolge. Dieser statistische Zusammenhang gilt nur auf längere Sicht, und er soll in seiner kausalen Erklärungskraft nicht überfordert werden, aber er widerlegt zu-

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mindest die gegenteilige Behauptung. Erst in den letzten Jahren, mit faktisch wiedergewonnener Vollbeschäftigung, verzeichneten die USA wieder einen stärkeren Reallohnanstieg.

An dieser Stelle muß ein sorgfältiges gedankliches Sortieren beginnen. Stimmt die in der deutschen Diskussion zumeist implizit gesetzte Prämisse, die Menge an möglicher bezahlter Arbeit sei begrenzt, und deshalb sei Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik vor allem Umverteilungspolitik? Oder wird sie dadurch falsifiziert, daß westliche Marktwirtschaften bei in etwa gleichem Entwickungsstand eine sehr unterschiedliche Beschäftigungsintensität haben?

In Tabelle 3 ergibt eine Reihung wichtiger Industriestaaten nach der Erwerbstätigenquote folgendes Bild:

Tabelle 3

Erwerbstätigenquoten für ausgewählte Industrieländer (1997)


Erwerbstätige 1997
in % der Bevölkerung

Wachstum der Erwerbs
tätigenzahl seit 1991 in %

Dänemark

50,4

+2,6

Vereinigte Staaten

48,4

+10,1

Großbritannien

45,6

+2,5

Deutschland

41,3

- 7,3

Niederlande

40,6

+9,5

Frankreich

38,4

- 0,6

Italien

34,9

- 5,1

Quelle: Berechnet nach: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1998/99, Anh. V., Tab. 1.

Die Vereinigten Staaten und Großbritannien

  • haben in den letzten Jahren ihre Steuersysteme reformiert und für Unternehmen wie Private bei breiterer Bemessungsgrundlage wesentlich niedrigere Steuersätze eingeführt;
  • haben insbesondere für den Fall der Arbeitslosigkeit eine deutlich schlechter ausgebaute soziale Sicherung;
  • haben deutlich flexiblere Arbeitsmärkte;
  • haben ihre Wirtschaft insgesamt deutlich stärker dereguliert;
  • weisen relativ starke Einkommensdifferenzierungen auf, wobei allerdings auf den niedrigen Arbeitseinkommen wenig Steuern und Sozialabgaben lasten.

Deutschland, Frankreich und Italien

  • haben Steuersysteme mit hohen Abgabesätzen und schmaler Bemessungsgrundlage;
  • haben eine wesentlich besser ausgebaute soziale Absicherung mit vergleichsweise hohen Einkommensersatzleistungen für Arbeitslose und Nichterwerbstätige;
  • haben eine ausgeprägte Tradition der Frühpensionierung;
  • haben insgesamt deutlich stärker regulierte Wirtschaften und
  • weisen eine geringere Einkommensdifferenzierung auf, wobei jedoch auf den niedrigen Einkommen vergleichsweise hohe Steuern und Sozialabgaben lasten.

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Die Niederlande haben seit Anfang der achtziger Jahre u.a.

  • ihr sehr ausgebautes Sozialsystem wesentlich modifiziert und dabei stark in die sozialen Besitzstände der Arbeitslosen und Frühpensionäre eingegriffen,
  • in erheblichem Umfang Steuersätze gesenkt;
  • ihre Wirtschaft dereguliert;
  • allerdings auch Teilzeitarbeit massiv gefördert und
  • Beschäftigungshemmnisse abgebaut.

Dennoch ist das Arbeitsvolumen kaum gestiegen.

Dänemark, das ebenfalls große Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit hatte, ist zwar der skandinavischen Tradition eines hohen Staatsanteils und hoher Sozialleistungen bislang treu geblieben, hat aber die Regularien am Arbeitsmarkt wesentlich geändert, indem

  • Entlassungen sehr leicht möglich sind, und
  • jeder Arbeitslose die Pflicht hat, unabhängig von seiner Ausbildung eine ihm vom Arbeitsamt zugewiesene Stelle auch zu übernehmen, falls er nicht seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verlieren will.

Dies führte zu einem ähnlich starken Erfolg beim Abbau der Arbeitslosigkeit wie in den Niederlanden.

Fazit: In einer beweglichen Volkswirtschaft gibt es keine natürliche Obergrenze für die Nachfrage nach bezahlter Arbeit. Scheinbare Obergrenzen dieser Art sind vielmehr Folge einer falschen Ordnungspolitik. Die Nachfrage nach Arbeit, die nur zu bestimmten Konditionen angeboten wird, ist allerdings begrenzt. Es besteht grundsätzlich die Option zwischen zwei strategischen Alternativen:

  1. Dauerhaft mehr Beschäftigung durch ordungspolitische Reformen.
  2. Linderung der Folgen einer zu geringen Nachfrage nach bezahlter Arbeit durch Umverteilungsmaßnahmen wie Arbeitszeitverkürzung oder Frühpensionierung.

Beide Strategien sind nicht wie Öl und Wasser. Sie können – in gewissen Grenzen – auch gemischt werden. Je nach Freiheitsgrad des ordungspolitischen Denkens und Handelns ergeben sich unterschiedliche strategische Optionen, die Beschäftigungsmenge tatsächlich auszudehnen, oder lediglich durch Arbeitsumverteilung die Folgen eines mangelhaften Beschäftigungsvolumens zu mildern.

Eine Untersuchung der beschäftgungspolitisch erfolgreichen und weniger erfolgreichen Länder führt zu folgenden Ansätzen für eine dauerhafte Erhöhung des Beschäftigungsniveaus:

  • Wachstumspolitik ist immer auch Beschäftigungspolitik. Egal, ob die Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums bei 2 Prozent, 3 Prozent oder einem anderen Wert anzusetzen ist – es gilt immer: je höher der Wachstumspfad und je gleichmäßiger das Wirtschaftswachstum, desto mehr Beschäftigung gibt es.
  • Hohe Mindestlöhne, niedrige Lohnspreizung, hoher Lohnanstieg und geringe Möglichkeiten der Unternehmen zu flexiblen und kostengünstigen Anpassungen der Beschäftigung nach oben und unten machen das Wachstum arbeitsparender. Es werden weniger Arbeitskräfte – oft zu Überstunden – beschäftigt. Die statistische Arbeits-

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    produktivität steigt, aber nicht durch Wachstum und Investitionen, sondern durch Einsparung zu teurer und zu unproduktiver Arbeitsplätze.

  • Hohe Abgabesätze auf Arbeitseinkommen und Gewinne wirken wachstumshemmend, weil sie die Kosten des Faktoreinsatzes erhöhen und die Anreize für Arbeit und unternehmerisches Handeln senken. Dies gilt für Sozialabgaben und Steuern gleichermaßen. Wachstumsfreundliche niedrige Steuersätze des Staates führen nicht zu Einnahmelücken, wenn die Bemessungsgrundlage breit genug ist, sondern – im Gegenteil – zu Mehreinnahmen, teils wegen des höheren Wachstums und höheren Beschäftigungsgrades, teils wegen der vergleichsweisen Unattraktivität von Steuervermeidungsstrategien.
  • Alle staatlichen Regulierungen wirtschaftlicher Aktivität haben unabhängig vom verfolgten Hauptzweck stets auch Nebenwirkungen auf Verhalten von Arbeitnehmern und Unternehmen. In der Summe sind diese Nebenwirkungen mit Gewichten zu vergleichen, mit denen man einen Läufer beschwert. Fortwährende Deregulierung muß deshalb unverzichtbare Regulierungstätigkeit des Staates ergänzen.
  • Ein Sozialsystem kann beschäftigungshemmend sein, wenn und soweit es den Erwerbsimpuls im Übermaß senkt: Die Aufnahme einer bezahlten Tätigkeit – auch im Niedriglohnsektor – muß in jeder Lebenslage, die nicht durch Ausbildung, Krankheit, Alter oder Sorge für die Kinder Erwerbstätigkeit ausschließt, die materielle Lebenssitaution fühlbar verbessern. Die muß einerseits sichergestellt werden durch entsprechende Gestaltung der Sozialtransfers bei Erwerbslosigkeit, andererseits durch weitestgehende Befreiung niedriger und mittlerer Arbeitseinkommen von Einkommensteuern und Sozialabgaben.

Damit ist die Agenda für ein Bündnis für Arbeit, das auf mehr Beschäftigung anstelle einer Umverteilung des Mangels setzt, grundsätzlich beschrieben. Eine Umsetzung ist schwierig und greift in hohem Maße in soziale Besitzstände und tradierte Denkgewohnheiten ein. Erfolge werden sich nur sehr langfristig einstellen, weil sie Verhaltensänderungen voraussetzen, die erst erlernt werden müssen. Die Härten werden dagegen unmittelbar spürbar sein. Dies bedeutet einen hohen Anspruch an langfristiges Denken und Sachorientierung in der praktischen Politik.

Auf der Tagesordnung steht eine Synthese zwischen dem kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Gesellschaftsmodell. Wenn man die notwendigen Änderungen für falsch oder dem Bürger politisch nicht zumutbar hält, wird sich die Beschäftigungslücke zwischen Amerika und den großen Ländern Kontinentaleuropas weiter öffnen anstatt schließen.

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© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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