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[Seite der Druckausg.: 7]



II. Arbeitslosigkeit


Im Zeichen der auflebenden Wirtschaft brachte das Jahr 2001 auch ein Ende des schon mehrjährigen Rückgangs der Beschäftigung. Die als Durchschnitt ausgedrückte Arbeitslosigkeit sank leicht. Im Vergleich zum erreichten Zuwachs des BIP (3,6 %), der Industrieproduktion (8 %), der Bauproduktion (12 %) usw. ist der Rückgang der Beschäftigung (2001 um 0,5 %) sehr gering und soll deshalb im Folgenden besonders analysiert werden. Ein positives Wirtschaftswachstum besteht schon zwei Jahre (im Jahr 2000 um 2,9 %, 2001 um 3,6 %), die Dynamik zeigt steigende Tendenz. So wird für 2002 ein Wachstum um 3,8 bis 4 % erwartet. Die Arbeitslosigkeit bewegt sich dabei mit 8,5 % mehr oder weniger auf dem "EU-Durchschnitt". Es droht die Gefahr, dass diese hohe Arbeitslosigkeit wie in einigen EU-Ländern ein chronisches Stadium erreicht. Für einige Regionen Tschechiens trifft das schon heute zu, dort beträgt die Arbeitslosigkeit in den letzten drei Jahren mehr als 12 %, in den Vorjahren mit sehr niedriger Arbeitslosenrate war sie mehr als doppelt so hoch wie der tschechische Durchschnitt, d. h. höher als 8 %.

Abb. 1

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Diese Krisenregionen erfuhren neben weiteren Mikro-Regionen auch in den letzten Jahren keine Erleichterung durch die Revitalisierungsprogramme der Regierung, Förderungen des Baus von Gewerbegebieten usw. Die hohe Arbeitslosigkeit und ihre negativen Folgen führen dazu, dass viele Menschen für sich keine Perspektive mehr sehen, aber auch nicht die Möglichkeit erwägen, wegen einer Arbeit in andere Regionen umzuziehen, sondern zu ihren Sozialleistungen nur Gelegenheitsarbeiten suchen.

Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit deutet darauf hin, dass der Anstieg von früher 4 % auf heute 9 % in den Jahren der Rezession (1997 bis 1999) offensichtlich nicht nur Teil einer zyklischen Entwicklung ist, sondern schon strukturellen Charakter angenommen hat. Dafür gibt es mehrere Ursachen:

  • Neuinvestitionen mit höherer Arbeitsproduktivität führen an vielen Orten zu einer "technologischen" Arbeitslosigkeit,

  • im Vergleich zu den Sozialleistungen niedrige Löhne führen an vielen Orten zu einer relativ hohen Arbeitslosigkeit der "Abwartenden",

  • weiterhin werden Arbeitsplätze bei der Restrukturierung von Unternehmen abgebaut, eine regionale Revitalisierung fehlt, die Folge ist eine chronische strukturelle Arbeitslosigkeit usw.

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Die angedeuteten differenzierten Prozesse bei der Arbeitslosigkeit werden von einer relativ hohen Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer begleitet. Die Verringerung der Zahl von erteilten Arbeitsgenehmigungen für Ausländer wurde durch erhöhte Aktivitäten von Selbstständigen (Gewerbeanmeldungen) und illegale Beschäftigung ("Schwarzarbeit") kompensiert.

Ein großer Teil der tschechischen Arbeitslosigkeit nimmt immer stärkere Züge einer langfristigen Arbeitslosigkeit an, betroffen sind immer die gleichen sozialen Gruppen:

  • Mütter, insbesondere nach Ende des Mutterschaftsurlaubs, und Frauen, die aus familiären Gründen eine sehr begrenzte Mobilität haben (sowohl räumlich als auch beruflich),

  • Frauen und Männer, die trotz der proklamierten "Gleichbehandlung" den Arbeitgebern zu alt erscheinen, obwohl sie z. B. erst fünfzig Jahre alt sind,

  • junge Menschen, bei denen den Arbeitgebern die fehlende Berufserfahrung fehlt, obwohl sie die entsprechende Bildung haben,


Abb. 2

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  • Behinderte, deren Behinderung aus der Sicht der Arbeitgeber größer ist als der finanzielle Ertrag aus ihrer Beschäftigung bzw. die Gebühr, die bei Nichteinhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Quote der Beschäftigung von Behinderten gezahlt werden muss.

Die folgenden Grafiken zeigen, dass die steigende Arbeitslosigkeit gerade die Risikogruppen der Bevölkerung stärker trifft, und zwar auch langfristig. 2001 waren mehr als 55 % der Arbeitslosen länger als sechs Monate ohne einen Arbeitsplatz. Diese beunruhigende Tatsache gewinnt schon chronische Züge, obwohl gegenüber früheren Jahren die Rolle der aktiven Beschäftigungspolitik gestiegen ist. Im Jahr 2001 wurden mehr als früher Arbeitsplätze mit einem Zuschuss vom Arbeitsamt geschaffen, wie zum Beispiel:

  • bei öffentlichen Arbeiten,

  • bei Kleinunternehmen,

  • zum Selbstständigmachen,

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  • Praktika bei Arbeitgebern für junge Menschen, die ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben.

Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und ihre Struktur soll in den folgenden Grafiken dargestellt werden:

Abb. 3

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Abb. 4

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[Seite der Druckausg.: 10]

Abb. 5

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Abb. 6

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[Seite der Druckausg.: 11]

Ferner stieg auch die Zahl der Arbeitssuchenden, die eine vom Arbeitsamt geförderte Requalifizierung absolvierten. Obwohl die aktive Beschäftigungspolitik über neue wirksame Methoden verfügt, entstand doch ein neues, grundsätzliches Problem im Bereich der Restrukturierung.

Die Rezession der Wirtschaft und ihre Begleiterscheinungen haben in den Köpfen vieler Manager noch nicht zu einer Orientierung auf marktgerechtes Denken geführt. Hier geht es nicht um die Restrukturierung in den Branchen, wo sich Produktion und Beschäftigung infolge der übermäßigen Kapazitäten aus Zeiten der Planwirtschaft einer "Schlankheitskur" unterziehen müssen. Eine marktgerechtere Orientierung sollte vielmehr die Aufmerksamkeit auf eine qualifiziertere und konkurrenzfähigere Produktion richten. Die einseitige Auffassung der Arbeitsproduktivität ist zu überwinden, die Produktion sollte nicht wie in Ländern mit einem umfangreichen Reservoir von wenig qualifizierten Arbeitskräften aussehen. Dieses Problem betrifft mehr Tausende Unternehmen in der verarbeitenden Industrie und den Dienstleistungen als ein paar Großunternehmen in der Kohle- und Stahlindustrie.

"Restrukturierung" wird häufig lediglich als Notwendigkeit des Abbaus von Arbeitsplätzen (und der Erhöhung der Arbeitslosigkeit) betrachtet. Zu Beginn der Privatisierung und der Marktwirtschaft überhaupt bestand ein starker "Drang nach Vermögen" und nicht nach der Marktstellung. Dem entsprach auch das spärliche Interesse der Manager an "neuen Produkten" und Know-how im Marketing. Fähige Mitarbeiter verließen ihre Arbeitsstätten in Forschung und Entwicklung, um ein "Geschäft" aufzubauen, verdiente doch ein guter Chemiker als Inhaber einer gut gehenden Drogerie fünfmal mehr als früher im Institut. Die wegen dieser Psychologie entstandenen Verluste und Verschuldung fanden ihren Widerhall auch in der heutigen Auffassung, dass die Restrukturierung eine Methode zum "Schlankwerden" des Unternehmens sei. Eine solche "Schlankheitskur" gab es sicherlich in den ersten Jahren der Transformation infolge des Zerfalls des COMECON-Systems. Die Wirtschaft ging zurück ebenso wie die Beschäftigung, es entstand eine hohe und regional stark differenzierte Arbeitslosigkeit. Die von bedeutenden ausländischen Firmen in tschechischen Unternehmen durchgeführte "Restrukturierung" zeigt ein anderes Bild: ein neues hochwertiges Produkt, neue Forschung & Entwicklung, neue Märkte, hoher Anstieg von Produktivität und Rentabilität, steigende Beschäftigung einschließlich besserer Arbeits- und sozialer Bedingungen.

Für die Strategie der Entfaltung von Menschen in der Arbeitswelt ist es deshalb von großer Bedeutung, Menschen nicht nur als Objekte zu sehen, die "beschäftigt werden können", sondern als Subjekte, die an einer Verbesserung und Qualifizierung ihrer Arbeitskraft interessiert sind, sofern sie nicht Opfer von wirtschaftlichem Versagen oder der "wilden" Transformations- oder Globalisierungspolitik werden.

Der allgemeine Bildungsstand in der tschechischen Gesellschaft machte es in den ersten wenigen Jahren nach der Wende möglich, dass mehr als ein Drittel der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung (5,4 Millionen Menschen) neue grundlegende Kenntnisse auf dem Gebiet von EDV und Kommunikation erwarben, mehr als ein Viertel trat aus geleiteten Strukturen aus und machte sich im Umfeld kleiner Unternehmen selbstständig.

Im Lichte der sich wieder belebenden Wirtschaft besteht ein ernsthaftes Problem in jenen Menschen, die unter den Arbeitslosen die große Gruppe der freiwillig "sozial" Arbeitslosen bilden. Das sind Menschen, die keine Motivation zur Umwandlung ihrer Einnahmen aus Sozialleistungen in höhere Löhne und Gehälter haben. Leider bilden diese Menschen heute einen großen Teil des Angebots am Arbeitsmarkt. Wenn ein Mensch, der arbeiten will und Willen bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz gezeigt hat, unverschuldet aus dem Arbeitsleben und dem Unternehmen ausgeschlossen wird, ist das eine menschliche Tragödie. Es gibt jedoch auch Menschen, die kein solches Bemühen zeigen. Anstelle Aktivitäten bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz und einer damit verbundenen unabhängigen Existenz zu entwickeln, arbeiten sie nur für ihr "Anrecht" und die Verlängerung ihrer Existenz aus Sozialleistungen. Diese Gruppe der Arbeitslosen gefährdet die Gerechtigkeit des sozialen Systems und den Sozialstaat insgesamt. Neben der Reform der Sozialleistungen, insbesondere der Grundlagen für ihre Gewährung, muss deshalb die konkrete Motivationsarbeit mit diesen Mitbürgern verstärkt werden, begleitet von einer größeren Strenge für den Fall, dass eine Arbeit oder Requalifizierung angeboten wird.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2002

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