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Sozialstaat und Globalisierung sind vereinbar / [Alfred Pfaller]. - [Electronic ed.]. - Bonn, [2000. - 2] Bl. = 22 Kb, Text . - (Politikinfo / Analyseeinheit Internationale Politik)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




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Nicht mehr wettbewerbsfähig, weil zu teuer?

„Der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, lässt sich im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr aufrechterhalten." Diese These wird heute weithin akzeptiert, von den einen mit Bedauern, von den anderen mit unverhohlener Befriedigung. Die These verweist auf den Kostendruck, der vom verschärften internationalen Wettbewerb ausgehe. Der Sozialstaat, so wird behauptet/vermutet/be-fürchtet, mache die Arbeit so teuer, dass die entsprechenden Produkte bzw. der entsprechende Produktionsstandort im internationalen Wettbewerb auf Dauer nicht mehr mithalten können. Anderswo werde entweder schon jetzt billiger produziert oder im Kampf um Marktanteile würden sich die Länder zunehmend zu unterbieten suchen. Die Standorte mit den geringeren Sozialkosten würden den Standard vorgeben, an den sich auch die anderen über kurz oder lang anzupassen hätten.

Folgt man dieser Argumentation, dann haben Länder zwei Optionen.

  • Sie geben dem Wettbewerbsdruck nach, senken die sozialstaatlichen Kosten und sichern so die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Arbeitskraft in den international umkämpften Märkten. Ergebnis: geringere soziale Absicherung.
  • Sie geben nicht nach. Als Folge fallen viele Arbeitsplätze weg, weil sie eben nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Unternehmen, die ihre Produktion im Lande behalten, treten die Flucht nach vorne an und sparen durch Rationalisierung Arbeitskraft ein, wo immer sie können. Das Ergebnis: zunehmende Arbeitslosigkeit und als Folge ebenfalls Erosion der Sozialstaatlichkeit.

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Hohe Produktivität schützt nicht gegen Unterbietungskonkurrenz

Häufig wird folgendes Gegenargument vorgebracht: Wir gleichen die hohen Kosten durch hohe Produktivität und hohe Produktqualität aus. Dazu befähigen uns unser hoher Ausbildungsstand, unsere ausgebaute Infrastruktur, unsere hohe Produktionsdichte (aus der „economies of scope" erwachsen), unsere verantwortungsbewussten Gewerkschaften und unsere relativ konfliktfreien Arbeitsbeziehungen (selbst eine Folge unseres hoch entwickelten Sozialstaates) sowie un-ere gewachsene industrielle Produktivitätskultur. Niedriglohnländer können mit diesen Standortvorteilen nicht konkurrieren, sondern müssen sie durch niedrige Löhne, niedrige Grundstückspreise, geringe Umweltauflagen, usw. ausgleichen.

In der Tat hat uns all dies in der Vergangenheit unsere hohen Löhne (samt sozialer Absicherung) ermöglicht, obwohl wir im internationalen Wettbewerb standen. Aber „Globalisierung" besteht u.a. darin, dass sich solche Standortvorteile geographisch ausbreiten, zwar nicht überall hin, aber doch in viele Regionen mit gewaltigem Arbeitskräfte-Überschuss. Ein we-sentlicher Grund hierfür ist die zunehmende Möglichkeit von Unternehmen, Herstellung und Vertrieb länderübergreifend („transnational") zu organisieren. Wenn sie die Produktion an einen anderen Standort verlagern, übertragen sie dorthin auch ihr Produktionswissen und ihre Management-Kompetenz. Die Folge: der einstige Produktivitätsvorsprung schützt uns heute nicht mehr in gleichem Maße wie früher. Statistisch ausgewiesene Produktivitätsvorsprünge können sich auch daraus ergeben, dass hierzulande Arbeitsplätze mit geringer Produktivität massenhaft wegfallen und nur noch die hoch-produktiven übrigbleiben. Wie weit Globalisierung im Sinne erhöhter Standortkonkurrenz schon vorangeschritten ist,

mag als offene Frage angesehen werden. Einiges spricht dafür, dass alles noch gar nicht so dramatisch ist. Aber die Tendenz zur verschärften Kostenkonkurrenz (oder auch nur zur erhöhten Erpressbarkeit der Arbeitnehmer) kann nicht kategorisch verneint werden.

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Auch Strukturanpassung bietet letztlich keinen Schutz

Ein weiteres Argument, das die Gefahren der Globalisierung relativiert, verweist auf den Strukturwandel, den die Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung schon immer mit sich gebracht haben: Wir geben einige Produktionsbereiche an die Billigkonkurrenz ab und konzentrieren uns auf solche, in denen letztere - trotz aller transnationalen Unternehmenstätigkeit - nicht mithalten kann (High-tech, ausbildungsintensi-ve Fertigungszweige).

Doch dieser - für sich genommen richtige - Hinweis entkräftet das Kostendruck-Argument nicht, aus zwei Gründen:

  • Die Hochproduktivitätsbereiche, in die man sich zu flüchten gedenkt, sind nicht umfangreich genug, um unsere gesamte Arbeitskraft aufzunehmen. Alle Industrieländer drängen in diese Bereiche und machen sich dort den Platz streitig. High-tech plus lokale Dienstleistungen (Bildung, Ge-sundheit, Rechtsberatung, Ver-waltung etc.) mag eine Option für den Regierungsbezirk Düs-seldorf sein, nicht aber für ganz Deutschland oder gar für ganz Westeuropa. Niedriglohnkonkurrenz kann somit durchaus zur Bedrohung für Teile unserer Arbeitnehmerschaft werden.
  • Strukturanpassung schützt nicht gegen einen etwaigen Unterbietungswettlauf unter den Hochlohnländern.

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Der entscheidende Punkt:
Sozialstaat ist bei jedwedem Lohn- und Produktivitätsniveau möglich


Bruttoarbeitskosten können nur so hoch sein, wie es der Markt für Güter und Dienstleistungen zulässt. Drückt die ausländische Konkurrenz auf die Arbeitskosten, muss man sich in irgendeiner Weise anpassen. Das kann über den Wechselkurs erfolgen. Es kann aber auch sein, dass in einigen Bereichen die Bruttolöhne stagnieren oder gar eine Zeit lang nach unten gehen müssen.

Sozialstaat hat aber nichts mit absoluter Lohnhöhe zu tun, sondern mit der Aufteilung des Bruttosozialprodukts (oder kor-rekter: der gesamten vom Markt zugelassenen Lohnsumme) zwischen drei Komponenten:

  • unmittelbarer Verbrauch
  • Vorsorge für Lebensrisiken
  • Solidarität mit Einkommensschwächeren.

Dem Sozialstaat fließen die der Vorsorge und Solidarität zugedachten Anteile zu, wobei die Vorsorge den Löwenanteil ausmacht. Welchen Anteil man für diese Zwecke abzweigen will, ist eine politische Entscheidung, nicht eine vom Markt diktierte. Prinzipiell lassen sich auch von geringen Einkommen hohe Anteile für Vorsorge und Solidarität abzweigen. Entsprechend wenig bleibt dann eben für den unmittelbaren individuellen Verbrauch übrig.

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Der Sozialstaat lässt sich „globalisierungsfest" machen

Die Mechanismen, über die der vom Weltmarkt zugelassene Bruttolohn zwischen den einzelnen Verwendungszwecken verteilt wird, sind unterschiedlich. In Deutschland sind die an den Arbeitslohn gebundenen Abgaben, die (im Prinzip) hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden, der bei weitem wichtigste Mechanismus. Die Ansprüche an die Zwecke „Vorsorge" und „Solidarität" kommen gleichsam von aussen. Sie leiten sich ab vom Bedarf der jeweiligen Sicherungssysteme (Altersvor-sorge, Vorsorge für den Krank-heits-, Invaliditäts- und Pflegefall, Vorsorge für Arbeitslosigkeit). Die entscheidenden Faktoren, die den Bedarf definieren, sind

  • die Entwicklung der Alterspyramide der Bevölkerung
  • die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen
  • die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.

Für den Prozess der Lohnfindung sind dies autonome Vorgaben. Will man sie nicht in Frage stellen (damit niemand krank sein muss, nur weil er/sie wenig verdient, oder damit niemand im Alter verarmt), gibt es nur eine vernünftige Konsequenz: Der für den unmittelbaren Konsum verfügbare Lohn ist als Restgröße zu behandeln. Mit den Arbeitgebern wäre der „Gesamtstun-denlohn" auszuhandeln, nicht nur jene willkürliche Teilmenge, die bei uns die Bezeichnung „Bruttolohn" trägt. Dieser „Gesamtstundenlohn" ergibt sich

  • aus der Wettbewerbssituation auf den Produktmärkten, in die auch der Faktor „Glo-alisierung" miteinfließt,
  • aus der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, die sich u.a. aus der Knappheit des Faktors Arbeit bestimmt.

Nach Berücksichtigung aller Präferenzen hinsichtlich Vorsorgeniveau, Solidaritätsbereitschaft, Freizeit, Freiheit von übermäßigen Mobilitätszwängen etc. bleibt dann ein Nettolohn übrig. Ihn gälte es, an die jeweiligen Marktbedingungen und Bedarfsmeldungen aus den sozialen Sicherungssystemen anzupassen.

In der Realität werden jedoch die Nettolöhne verteidigt. Wenn nun gleichzeitig die sozialen Sicherungskosten eine expansive Dynamik aufweisen, ist der Konflikt mit der Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Wirtschaftsstandorts vorprogrammiert. Wie weit dieser Konflikt im Einzelfall echt oder nur hochgespielt ist, mag dahingestellt sein. Der Punkt ist, dass die - ihrem Wesen nach politische - Entscheidung hinsichtlich der Aufteilung des Gesamtlohns aus dem Blickfeld gerät und die „Lohnnebenkosten" als Zusatzgröße zu den reinen Lohnkosten wahrgenommen und behandelt werden. In der Zuspitzung des Konflikts ist es dann in erster Linie diese ausufernde Zusatzbelastung, die die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. Der Gegensatz „Sozialstaat vs. glo-baler Markt" ist hergestellt. Das eigentliche Problem ist jedoch die Rigidität der Nettolöhne angesichts - weitgehend unvermeidlich - steigender Absicherungskosten.

Globalisierungsfester ist ein System, das Vorsorge und Solidarität zum großen Teil aus dem allgemeinen Steuertopf bezahlt, wie dies in Dänemark geschieht. Die grundlegenden Verteilungsentscheidungen zwischen Konsum, Vorsorge und Solidarität werden hier eindeutig politisch getroffen. Die Kosten für Vorsorge und Solidarität werden dem Bürger explizit vom Einkommen abgezogen. Da Unternehmen mit Hinblick auf den internationalen Wettbewerb nur begrenzt belastbar sind, muss ein steigender Finanzbedarf der sozialen Sicherungssysteme in aller Regel von den Haushalten aufgebracht werden - in direkter Form als Einkommenssteuern oder in indirekter Form als Mehrwertsteuer, Energiesteuer etc.

Eine andere Form der Immunisierung gegen Globalisierung besteht darin, dass die Vorsorge weitgehend privatisiert und nur die Solidarität über den Staat organisiert wird. Am eindeutigsten ist dies bei der Altersvorsorge möglich, die ja zum größten Teil dem Versicherungsprinzip (die Einzahlungshöhe bestimmt die Auszahlungschancen) entspricht. Ein Beispiel bietet die Schweiz mit ihrer egalitären Grundren-te, die von allen Bürgern (nicht nur den Arbeitnehmern) alimentiert wird, und ihrer darauf gesattelten privaten Altersvorsorge. Dass im Zuge der Alterung der Gesellschaft der Vorsorgeaufwand immer höher wird und somit das für den unmittelbaren Konsum verfügbare Einkommen sinkt, ist eine ganz andere Sache. Aber gerade weil dies so ist, wäre es wichtig, hier nicht ständig unnötige Diskussionen über Belastbarkeitsgrenzen im Hinblick auf internationalen Wettbewerb auszulösen. Es geht nicht um Vorsorgefähigkeit, es geht letztlich um die Bereitschaft zur finanziell spürbaren Solidarität (etwa im Gesundheitsbereich).

Die „Immunisierung" der Sozialleistungen gegen internationalen Konkurrenzdruck ist ökonomisch kein Problem und wäre politisch sinnvoll. Aber in quasi-korporatistischen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland ist es sehr schwer, bestehende Institutionen zu ändern, da jeder noch so kleine Besitzstand erbittert verteidigt wird. Politisch gesehen, ist deshalb zu erwarten, dass unser Sozialstaat anfällig bleibt gegenüber Globalisierungsdruck.

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Sozialstaat und Vollbeschäftigung

Bislang wird unser Sozialstaat allerdings weniger von der Globalisierung unter Druck gesetzt, als von der Massenarbeitslosigkeit. Da er sich vor allem über Beiträge finanziert, die an das Normalarbeitsverhältnis gekoppelt sind, ist er mehr als andere Sozialstaatsvarianten auf Vollbeschäftigung angewiesen. Die Massenarbeitslosigkeit entzieht ihm die Beitragszahler und erhöht seine Ausgabenlast.

Massenarbeitslosigkeit ist weniger der Globalisierung geschuldet als dem Zusammenwirken von seit 25 Jahren verlangsamtem Wirtschaftswachs-tum und einer Nichtanpassung der Arbeitsmärkte an diese zentrale Bedingung.

Wenn man sich über die Sicherung des Sozialstaates Gedanken macht, sollte man folglich das Schwergewicht legen

  • auf die Anpassung des Arbeitsmarktes an verlangsamtes Wirtschaftswachstum bzw.
  • auf die Möglichkeiten zur nachhaltigen Beschleunigung dieses Wachstums sowie natürlich auch
  • auf die Anpassung des Arbeitskräfte-Angebots an die veränderte Struktur der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.

Dies sind Fragen, die einer gesonderten Betrachtung bedürfen. Globalisierung ist dabei aber vorerst ein Nebenkriegsschauplatz, der die Aufmerksamkeit eher von den eigentlichen Fragen abzieht.

Auch hier ist die entscheidende Blockade, die einer sozialverträglichen Anpassung des Arbeitsmarktes im Wege steht, eine politische.

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Trotz allem: Globalisierung erschwert Sozialstaatlichkeit

Ein „globalisierungsfester" So-zialstaat bedarf eines politischen Kraftaktes, dessen Gelingen ungewiss ist. Globalisierung setzt aber auch ungünstigere ökonomische Rahmenbedingungen.

1. Gestiegene Kapitalmobilität, zu der sich eine gestiegene Mobilität hochqualifizierter Arbeitskraft gesellt, führt zu einer Umverteilung der Steuerlast.

Die Konsequenz ist mehr Ungerechtigkeit, aber auf absehbare Zeit nicht ein Geldmangel des Sozialstaates. Auch bisher war der Sozialstaat weitestgehend kein Mechanismus der Umverteilung vom Kapital zur Arbeit oder auch von den Reichen zu den Armen. Vereinfacht gesagt war er immer eine gewaltige Umverteilungsmaschine innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Diejenigen, die ihn finanzierten, waren immer im wesentlich auch diejenigen, die von ihm profitierten.

Nicht aus dem Auge zu verlieren ist auch, dass die Steuergerechtigkeit in Deutschland viel geringer ist als es ökonomisch aufgrund von internationaler Steuerkonkurrenz notwendig wäre. Der Grund: politisch beschlossene - nicht ökonomisch erzwungene - „Steuerge-schenke" an diverse gut verdienende Gruppen.

2. Unzureichend geregelte globale Kapitalmärkte gefährden das Wirtschaftswachstum und erschweren so die Aufrechterhaltung des sozialstaatlichen Prinzips.

  • Überschießende Wechselkursbewegungen beeinträchtigen immer wieder die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Ländern oder verleiten zu einer wachstumsunfreundlichen Hochzinspolitik.
  • Wiederkehrende Finanzkrisen von Ländern und Ländergruppen führen zu Nachfragerückgängen, die weltweit spürbar werden.

Als Konsequenz wird die Aufrechterhaltung des sozialstaatlichen Prinzips (angemessene Teilhabe aller Bürger am nationalen Wohlstand) erschwert, weil

  • die Arbeitslosigkeit tendenziell höher ist (höhere Ansprüche an den Sozialstaat, weniger Beiträge, drohende Armut für Langzeitarbeitslose oder auch für Beschäftigte mit niedrigem Knappheitswert auf dem Arbeitsmarkt);
  • im Kampf um stagnierende oder gar schrumpfende Märkte internationale Unterbietungskonkurrenz gefördert und der politische Wille zur Aufrechterhaltung einer gerechten Gesellschaft geschwächt wird.

Alfred Pfaller

Friedrich-Ebert-Stiftung, 5310 Bonn, fax: 0228 / 883 625, e-mail: PfallerA@fes.de


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