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Ölkrise 2000: kein autofreier Sonntag / [Michael Ehrke]. - [Electronic ed.]. - Bonn, [2000. - 2] Bl. = 22 Kb, Text. - (Politikinfo / Analyseeinheit Internationale Politik) Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000 © Friedrich-Ebert-Stiftung
Kein Steuerprotest, sondern Protest gegen den Markt Die währungspolitische und die makroökonomische Dimension Mittelfristig sinkt der Rohölpreis Keine Krise des Ölmarkts, sondern des Transportsektors in den Verbraucherländern Kein Steuerprotest, sondern Protest gegen den Markt Europaweit haben Bauern, Transportunternehmer und Taxifahrer, sekundiert von konservativen Parteien, mit spektakulären Aktionen gegen steigende Kraftstoffpreise protestiert. Auf den ersten Blick zielten die Aktionen gegen die Besteuerung von Benzin und Diesel. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um einen Protest gegen zu hohe Steuern, sondern um einen Protest gegen den Markt. Hohe Steuern auf Benzin- und Diesel sind in Europa kein Novum, und in keinem europäischen Land wurden sie in jüngster Zeit drastisch erhöht. Die hohen Benzin- und Dieselpreise im Herbst des Jahres 2000 gehen zurück auf
Der eigentliche Adressat der Proteste wären nicht die Regierungen, sondern die EZB und die OPEC. Der Protest gegen die Besteuerung von Benzin und Diesel ist eine Ersatzhandlung.
Die währungspolitische und die makroökonomische Dimension Ein im Vergleich zum Dollar niedriger Wechselkurs des Euro wirkt sich positiv auf die Exporte, das Wachstum und die Beschäftigung aus. Der niedrige Wechselkurs ist - darauf wurde in der Vergangenheit oft genug hingewiesen - kein Signal für die Schwäche des Euro. Die EZB ist auch nicht verpflichtet, den Wechselkurs des Euro stabil oder hoch zu halten; ihr Auftrag bezieht sich ausschließlich auf die innere Geldwertstabilität. Ein niedriger Wechselkurs verteuert allerdings die Importe, so daß die Inflation über die Außenbilanz nach Euroland eindringen könnte. Wenn dies der Fall ist, wäre die EZB gezwungen, die Zinsen anzuheben und das Wachstum zu drosseln. Es spricht allerdings viel dafür, daß der Effekt der Ölpreiserhöhungen auf die Geldwertstabilität in Euroland im Vergleich zu 1973-74 und 1979-80 begrenzt sein wird. Denn
Determinanten des Ölpreises Erdöl ist ein homogenes Massenprodukt, dessen Preis (wie der anderer Massenprodukte) dank steigender Produktivität unter reinen Marktbedingungen langfristig sinken müßte. Einer Langzeitanalyse des Economist zufolge sank der Rohölpreis auch zwischen 1860 und 1973 kontinuierlich; hätte sich die Preisentwicklung ohne die Ölschocks" der Jahre 1973-74 und 1979-80 fortgesetzt, hätte der Ölpreis 1999, auf dem Tiefpunkt der Preisentwicklung nach 1973, bei 5 anstatt bei 8 Dollar gelegen. Gleichzeitig jedoch ist Erdöl eine begrenzte und nicht erneuerbare Ressource. Der Markt müßte also nicht nur die aktuellen, sondern auch die künftigen Knappheitsbedingungen in die Preisbildung einfließen lassen. Zweitens belastet die Verbrennung von Erdölderivaten die Atmosphäre und das globale Klima. Es liegt daher im langfristigen öffentlichen Interesse, der Verbrauch von Erdölprodukten zu reduzieren, und zwar unabhängig von der Knappheit und vom Preis des Öls. Da der Markt nicht in der Lage, ist, die künftigen Knappheitsbedingungen für Rohöl und insbesondere die ökologischen Kosten der Ölverbrennung in die Preisbildung einfließen zu lassen, übt die Politik der Förder- wie der Abnehmerländer zusätzlichen Einfluß auf die Preisbildung aus.
Die Folgen zweier Ölschocks Die beiden Ölschocks von 1973-74 und 1979-80 wurden in den Abnehmerländern als politisch bedingte Unterbrechungen einer als natürlich" angesehenen Tendenz langfristig sinkender Rohölpreise bewertet. Die Reaktionen waren:
Es läßt allerdings sich kaum präzise darlegen, zu welchem Anteil der Strukturwandel
Ein dritter Faktor kam hinzu: Der Ölschock 1973-74 war in den OECD-Ländern auch die Geburtsstunde des ökologischen Bewußtseins", und zwar nicht nur bei den Umweltbewegungen, sondern auch bei den Unternehmen und Regierungen. Wiederum läßt sich nur schwer klären, ob Ölschock und ökologischer Bewußtseinswandel nur zeitlich koinzidierten (der Report des Club of Rome war 1972 erschienen) oder ob ein Verhältnis der wechselseitigen Verstärkung vorlag (ob etwa der Report ohne den Ölschock eine derart epochale Wirkung hätte entfalten können). Die Dimension des Strukturwandels wurde durch zwei Faktoren begrenzt:
Mittelfristig sinkt der Rohölpreis Der hohe Ölpreis im Herbst des Jahres 2000 läßt sich nicht (wie 1973-74) mit den langfristigen Angebots- und Nachfragebedingungen für Rohöl erklären. Der Club of Rome hatte die verfügbaren Ölrerseven 1972 auf 550 Mrd Barrel geschätzt; 1990, so seine Prognose, würden die Reserven erschöpft sein. Zwischen 1972 und 1990 wurden 600 Mrd Barrel verbraucht, und die heute verfügbaren (d.h. zu den gegebenen Preisen wirtschaftlich abzubauenden) Reserven liegen bei einer Billion Barrel. Die Internationale Energiebehörde schätzt die physisch verfügbaren Reserven auf 2,3 Billionen Barrel, die sich auf über 4 Billionen erhöhen, wenn Teersände und andere unkonventionelle Ressourcen einbezogen werden. Die Situation der Reserven läßt einen mittelfristigen Rückgang der Rohölpreise erwarten. Es kommt hinzu, daß neue technische Entwicklungen in der Exploration und in der Förderung von Rohöl die Produktionskosten so weit senken, daß neue Förderzonen relativ schnell und kostengünstig erschlossen werden können. Der hohe Ölpreis im Herbst 2000 ist ein aller Wahrscheinlichkeit nach ein kurzfristiger Ausschlag nach oben auf einem Markt, dessen Fluktuationen stärker ausgeprägt sind als in der Vergangenheit. Erdöl wird immer weniger in der Form langfristig ausgehandelter, exklusiver und politisch abgesicherter Lieferverträge zwischen einer überschaubaren Zahl von Playern gehandelt, und immer mehr auf einem Markt, der vielen Mitspielern offensteht, einschließlich finanzieller Institutionen, die nicht im Ölgeschäft engagiert sind. Der Ölmarkt ist transparenter, aber auch volatiler geworden und enthält ein spekulatives Element. Zudem haben die Erdölgesellschaften aus Kostengründen ihre Lagerhaltung abgebaut, so daß sich Veränderungen der Rohölpreise schneller auf die Abnehmerpreise auswirken. Der Anstieg der Ölpreise ist eine (möglicherweise durch spekulative Elemente verstärkte) Reaktion auf den Ölpreisverfall, der 1999 seinen Tiefpunkt erreicht hatte, und der selbst die wirtschaftlich stärkeren Förderländer (das öffentliche Vermögen Saudi Arabiens von 140 Mrd. US$ in den achtziger Jahren verwandelte sich in öffentliche Schulden von 130 Mrd. US$) unter starken finanziellen Druck setzte. Unter der Führung Saudi Arabiens hält die OPEC zur Zeit pro Tag 5 Mio Barrel vom Markt zurück (täglicher Verbrauch: 73 Mio Barrel), ein Kartellarrangement, daß sich in dem Augenblick, in dem der finanzielle Druck auf die OPEC-Staaten nachläßt, nicht mehr aufrechterhalten lassen wird. Heute überwiegt die Befürchtung, ein hoher und steigender Ölpreis könne die Konjunktur und die Geldwertstabilität der OECD-Länder untergraben. Weitaus gefährlicher sind jedoch die Folgen eines aller Wahrscheinlichkeit sinkenden und langfristig niedrigen Ölpreises. Dies gilt vor allem für die Krisenregion, die sich von Rußland über den Kaukasus und Zentralasien bis zum chinesischen Sinkiang erstreckt. Die Neuauflage des Great Game" hat hier Erwartungen eines kommenden Booms geweckt, die durch den Umfang, die Produktivität und Lage der regionalen Reserven nicht gerechtfertigt sind. Da nicht zuletzt in Erwartung einer künftigen Bonanza auf wirtschaftliche und politische Reformen verzichtet wurde, können sinkende und niedrige Ölpreise mittelfristig die ohnehin prekäre politische Stabilität der Region weiter untergraben - mit internationalen Wirkungen, mit denen verglichen der Kosovo-Konflikt ein eher harmloser Auftakt wäre. Keine Krise des Ölmarkts, sondern des Transportsektors in den Verbraucherländern Die Ölkrise des Jahres 2000 trifft nicht mehr die Volkswirtschaften der OECD-Länder, sondern nur" noch deren Verkehrs- und Transportsektor bzw. die in ihm tätigen Unternehmen. Angesichts der Struktur dieses Sektors (intensiver grenzüberschreitender Wettbewerb, eine hohe Zahl von Kleinunternehmen, viele an der Grenze der Scheinselbständigkeit, die unter prekären Bedingungen wirtschaften) können - wie sich heute zeigt - die politischen Wirkungen dieser Krise stärker sein, als die ökonomischen Verhältnisse nahelegen, zumal sich die Unternehmen des Verkehrs- und Transportsektors auch als populistische Anwälte der Autofahrer präsentieren und insofern eine symbolische politische Wirkung weit über ihre ökonomische Bedeutung hinaus entfalten können. Der Protest der Spediteure, Taxifahrer und Bauern konnte darüber hinaus eine so hohe politische Wirkung haben, weil sich das ökologische Bewußtsein" in den Industrieländern institutionalisiert und bürokratisiert hat. Die Umweltproblematik hat - nicht zuletzt weil der wirtschaftliche Strukturwandel so erfolgreich war - ihre Dramatik verloren. Um so bedenklicher wäre es in dieser Situation, wenn die europäischen Regierungen dem Druck der Transportunternehmer nachgäben: Um die Transportlobby vor einem kurzfristigen Ausschlag der Ölpreise nach oben zu schützen, würde symbolisch wie real das langfristige Engagement für die Senkung des Energieverbrauchs - das nicht energie-, sondern umweltpolitisch motiviert ist -preisgegeben. Die europäischen Regierungen stehen vor einer sehr einfachen Alternative:
Da die Regierungen der EU-Staaten unterschiedlich auf die Proteste reagieren, treten zusätzlich Verzerrungen der Wettbewerbsverhältnisse innerhalb der EU ein. Diese Verzerrungen werden aller Wahrscheinlichkeit nach weitere Proteste auslösen.
Michael Ehrke
Friedrich-Ebert-Stiftung, Fax: 0228 / 883 625, e-mail: EhrkeM@fes.de © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2000 |