VIII. INTERNATIONALE VERPFLICHTUNGEN IN EUROPA UND DER WELT
1. An der Integration Europas mitwirken
Die Schweiz blieb in der Nachkriegszeit, die sie mit vielen Vorteilen betrat, ausserhalb der EG. Die Behelfsorganisation EFTA war nur als Freihandelszone ohne gemeinsame Behörden und ohne jegliche soziale Absicht gedacht. Mit der Erklärung vom Januar 1989, die EFTA - Länder nicht als Mitglieder aufnehmen zu wollen, ihnen aber einen gesamteuropäischen Wirtschaftsraum (EWR) anzubieten, beendete die EG den freien Entscheidungsraum der Aussenstehenden. Da der EWR alle vier Freiheiten des Binnenmarktprogramms, aber auch dessen wirtschaftsrechtliche, ökologische und soziale Absicherungsregeln und Harmonisierungen auf dem Stande des in der EG Erreichten umfassen soll und da die EFTA aufgefordert wurde, nur mit einer Stimme zu sprechen, ist die Ausgangslage der schweizerischen Haltung zur europäischen Integration schlagartig verändert worden.
Es gibt nur noch die Alternative, entweder das in der EG auf diesen Gebieten bereits Ausgehandelte zu übernehmen, oder in die Isolation zu gehen, was nicht die Weiterführung des Status quo bedeutet, sondern auch den Abschied von der EFTA brächte, also hinter das 1960 Erreichte zurückführte. Der EWR ist eine zweitbeste Lösung, welche die volle Harmonisierung mit dem EG-Recht ohne Mitwirkung der EFTA-Staaten bringt. Der EWR kann daher nur eine vorübergehende Phase im Integrationsprozess werden. Weil die EG in ihrer inneren Entscheidungsstruktur (politische Union) und in der äusseren geographischen Zusammensetzung (Osteuropa) bald schon entscheidende Aenderungen erleben wird, bleibt die Schweiz als Nicht-Mitglied der EG in diesen wohl definitiven Wandlungen von der Mitsprache ausgeschlossen und muss sich dereinst mit dem Ausgehandelten arrangieren.
Die Isolation ist die schlechteste Alternative. Sie brächte den Versuch, neben und sogar gegen die EG zu leben und zu wirtschaften, deren Arbeits- und Rechtsbedingungen zu unterlaufen, um so attraktiv zu bleiben. EG-feindliche Unternehmer in der Schweiz haben sich deutlich in dieser Hinsicht geäussert. Abgesehen vom Wirtschaftlichen aber ist gerade die Schweiz der verschiedenen Kulturen Europas teilhaftig und soll sich nicht abschliessen. Die soziale, geistige und kulturelle Eigenbrötelei des Isolationsweges wäre unerträglich.
Daraus ergeben sich folgende Forderungen an die Schweizer Behörden:
1.1
Der SGB unterstützt die Absicht der Schweizer Behörden, die Mitgliedschaft in der EG als Ziel der schweizerischen Integrationspolitik anzustreben. Der EWR hat als Uebergangslösung die in der EG erreichten Harmonisierungen ohne dauernde Ausnahmen zu übernehmen, und die schweizerischen Behörden sollen die Möglichkeiten der damit eröffneten Integrationsschritte voll ausschöpfen sowie parallel dazu die notwendigen inneren Reformen einleiten. Durch ein spezielles Abkommen über den Transitverkehr muss sichergestellt werden, dass die Beeinträchtigungen von Mensch und Umwelt aus dem Transitverkehr nicht mehr weiter steigen, sondern allmählich reduziert werden können. Das Nacht- und Sonntagsfahrverbot für den Güterverkehr ist beizubehalten. Langfristig muss der Transitverkehr mit Gütern über die Schiene abgewickelt werden.
1.2
Die Schweiz muss die Sozialcharta des Europarates endlich ratifizieren, um den Tatbeweis ihrer sozialen, europäischen Gesinnung zu liefern.
1.3
Die gesetzlichen Voraussetzungen für Abschluss, Ausbau und Durchsetzung von Gesamtarbeitsverträgen sind zu verbessern. Für Abschluss, Ausbau und Durchsetzung von Gesamtarbeitsverträgen gemäss Kapitel I Art. 6.1 sind die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen.
1.4
In der Umweltpolitik und in der Arbeitssicherheit sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um höhere schweizerische Standards beizubehalten (z.B. MAK-Werte, Beschränkungen im Transitverkehr) und weiter auszubauen. Die Fachstellen des Arbeitsschutzes und der sozialen Sicherheit in der Schweiz sind als fundierte Beratungen zugunsten der Beschäftigten und ihrer Organisationen auch in diesbezüglich europäischen Belangen auszubauen.
An sich selbst richten die Gewerkschaften die Forderung,
1.5
sich über den Integrationsprozess zu informieren, ihre Mitarbeit zu koordinieren;
1.6
in den Branchengewerkschaften ihre Tarifpolitik zu koordinieren, europaweite Verhandlungen und Verträge anzustreben, um der grenzüberschreitenden Multinationalität der Firmen entgegenzutreten und die Beschäftigten zu schützen, sowie die Sozialrechte durch gewerkschaftliche Praxis auszuschöpfen und für die einzelnen durchsetzbar zu machen;
1.7
verstärkt im Europäischen Gewerkschaftsbund mitzuwirken und mit den Gewerkschaften der EG - und EFTA - Länder zusammenzuarbeiten, um gemeinsame Forderungen durchzusetzen;
1.8
die schweizerischen Verhandlungsführer gegenüber der EG und der EFTA kritisch zu begleiten und insbesondere darauf hinzuwirken, dass die Mitsprache der Verbände gewährleistet ist, keine Volksrechte verletzt werden und Verschlechterungen im sozialpolitischen Bereich verhindert werden.
1.9
Europa als eine immer noch weit über die gegenwärtigen Einrichtungen der EG hinausweisende Utopie zu denken. Umfassende Kompetenzen des EG-Parlaments, Aufwertung der Regionen durch Zweikammersystem, föderativen Aufbau und Subsidiaritätsprinzip gehören dazu, wie Einrichtungen, die eine partnerschaftliche Rolle von Mann und Frau in allen Lebensbereichen fördern, die Einführung von Volksrechten, die Integration Mittel- und Osteuropas, die konsequente Entmilitarisierung der Staaten Europas, eine europäische Sicherheitspolitik auch im Rahmen der KSZE und die Ausrichtung der ganzen Wirtschaft auf die Erhaltung der Natur und der Lebensgrundlagen.
1.10 2. Mit der sich entwickelnden Welt zusammenarbeiten und den Frieden fördern
Die grenzüberschreitende gewerkschaftliche Zusammenarbeit mit Nachbarorganisationen ist namentlich durch interregionale Gewerkschaftsausschüsse zu verstärken.
Die Welt wird immer mehr zu einem komplexen System mit sich verschärfenden Unterschieden und zunehmenden Abhängigkeiten. Dementsprechend nehmen die Probleme zu. Globale Probleme erfordern globale Lösungen. Der Schutz der Umwelt erfordert tatkräftige Mithilfe und Verzichtsleistungen durch die Industrieländer. Das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt kann nur stabilisiert werden, wenn diese Völker glaubwürdige Zukunftsaussichten für Gesundheit, Ernährung und soziale Sicherheit erhalten. Die Bedrohung der Menschheit durch Massenvernichtungswaffen zwingt zur Einsicht, dass wirkliche Sicherheit nicht durch immer neue Waffen, sondern nur durch eine Politik erreichbar ist, die einen Ausgleich zwischen den legitimen Interessen aller Beteiligten anstrebt.
Die grossen Probleme im Süden und im Osten sind nur zu bewältigen mit einer Beendigung des Wettrüstens und auf der Grundlage einer neuen, gerechten Weltwirtschaftsordnung. Im Süden wie im Osten gehört dazu die Unterstützung von Reformprozessen durch die reichen Industriestaaten, im Osten auch die Wiederherstellung früherer Beziehungen. Versagt hat die kapitalistische "Spill-over"-Entwicklungstheorie, wonach sich wachsender Wohlstand im Norden positiv auf die Entwicklung der armen Länder im Süden auswirke.
Gerechtere Verhältnisse setzen die Ueberwindung neokolonialer Formen der Ausbeutung der Dritten Welt voraus. Die dazu notwendigen Leistungen der entwickelten Länder dürfen aber nicht einseitig den Arbeitenden aufgebürdet werden. Darum sind neue Lösungen nicht ohne die aktive Mitwirkung der Gewerkschaften denkbar.
Der SGB sieht folgende Prioritäten für die künftige Zusammenarbeit mit der sich entwickelnden Welt im Süden und im Osten:
2.1
Der SGB setzt sich dafür ein, dass die Schweiz öffentlich und privat die Entwicklungsbemühungen im Süden und im Osten unterstützt. Die Entwicklungsbemühungen sollen sich an den Bedürfnissen der Unterdrückten und Ausgebeuteten und ihrer Organisationen orientieren. Insbesondere sind Landreformen unentbehrlich, um die Eigenversorgung zu fördern und die Abhängigkeit von Monokulturen zu überwinden.
2.2
Der SGB fordert die aktive Beteiligung der Schweiz an den Entschuldungsbemühungen. Insbesondere verlangt der SGB einen weitgehenden Schuldenerlass durch Forderungsverzicht der beteiligten Banken. Er setzt sich ferner für die Kontrolle von Fluchtgeldern autoritärer Regimes der Dritten Welt und für erleichterte Prozeduren zu deren Rückgabe an demokratische Regierungen ein.
2.3
Der SGB engagiert sich für gerechte Tauschverhältnisse in den Handelsbeziehungen mit der Dritten Welt. Faire Preise und der Abbau von Diskriminierungen können nicht nur Hilfe ersetzen, sondern auch Arbeit schaffen und neue Abwanderung verhindern.
2.4
Der SGB setzt sich für den weiteren Ausbau der schweizerischen Entwicklungspolitik und für eine aktive Menschenrechtspolitik ein. Der Einsatz für die Grundrechte des Menschen, zu denen auch die Gewerkschaftsfreiheit gehört, ist ein weltweit gültiges Kriterium für die Zusammenarbeit.
2.5
In den Ländern Osteuropas, aber auch in den Schwellenländern der Dritten Welt, sind die zum Aufhau einer freien Gesellschaft notwendigen Reformen zu unterstützen und zu verwirklichen. Eine Gesellschaft, die ihre Bürger vor Machtmissbrauch schützt und den Ausgleich zwischen arm und reich anstrebt, bietet die beste Gewähr für eine künftige demokratische Entwicklung.
2.6
Der SGB und seine Verbände engagieren sich, auf dem direkten Wege, aber auch indirekt im Rahmen des IBFG und der Brancheninternationalen, für die praktische gewerkschaftliche Solidarität. Insbesondere unterstützen sie Gewerkschaften, die in den Filialen schweizerischer multinationaler Unternehmungen tätig sind. Der SGB bemüht sich darum, in internationalen Handelsabkommen (z.B. GATT) Sozialklauseln über die Gewerkschaftsrechte zu verankern.
Zum Rüstungsabbau, zum Waffenexport und zur Friedenssicherung fordert der SGB:
2.7
Der Prozess einer tatsächlichen Abrüstung, der zwischen den Grossmächten erst in bescheidenen Anfängen (Mittelstreckenraketen, konventionelle Waffen in Europa) vereinbart wurde, muss weitergehen. Er ist Voraussetzung dafür, dass in grösserem Umfang Rüstungsgelder eingespart und für die Probleme der Entwicklung in der Welt eingesetzt werden können.
2.8
Die Schweiz muss die Abrüstung in Europa mitvollziehen. Der SGB widersetzt sich den Bestrebungen, die schweizerische Armee zu verkleinern, aber die Ausgaben für eine technologische Hochrüstung weiter zu steigern.
2.9
Der SGB fordert ein Waffenausfuhrverbot, das Exporte in materieller oder anderer Form (Lizenzen, Beratungsverträge, Vermittlungs- und Umgehungsgeschäfte) vollständig unterbindet. Dazu sind Kontrollen auf Einrichtungen auszudehnen, die vornehmlich und erkennbar der Waffenherstellung dienen.
2.10
Der SGB und seine in den heutigen Rüstungsbetrieben vertretenen Mitgliedsgewerkschaften fördern die Rüstungskonversion und entwickeln Alternativvorschläge für die Produktion von Friedensgütern in solchen Betrieben.
2.11
Der SGB setzt sich für eine aktive schweizerische Friedenspolitik ein, die auch die Beteiligung an friedenssichernden Aktionen im Rahmen der UNO einschliesst. Die Neutralität ist im Lichte einer solchen aktiven Politik zu beurteilen: eine weiterhin absolute militärische Neutralität schliesst ein stärkeres Engagement der Schweiz bei friedensstiftenden Missionen und bei breit abgestützter wirtschaftlichen Massnahmen der Völkergemeinschaft nicht aus. Der Gewerkschaftsbund spricht sich zudem für die Einführung eines echten Zivildienstes in der Schweiz aus.
2.12 3. Asylpolitik zwischen politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Verelendung
Das heutige Abseitsstehen der Schweiz gegenüber der UNO ist auf die Dauer mit einer aktiven, auf Frieden und Entwicklung gerichteten Rolle der Schweiz nicht zu vereinbaren. Der SGB spricht sich für eine neue Volksabstimmung über den UNO-Beitritt im Laufe der neunziger Jahre aus.
Die Schweiz hat in ihrer Geschichte immer wieder von Einwanderern und Flüchtlingen profitiert. Im Laufe der achtziger Jahre sah sie sich aber mit einer neuen Migration aus entfernten Gebieten der Welt konfrontiert. Dadurch hat die Asylpolitik tiefgreifende Veränderungen erlebt. Die Zahl der jährlichen Gesuche stieg auf über 35'000 im Jahre 1990 und nimmt weiter zu. Nach drei Gesetzesrevisionen sind die Möglichkeiten, das Verfahren unter Beibehaltung rechtsstaatlicher Normen zu verkürzen, weitgehend ausgeschöpft. Die Probleme erwachsen vor allem daraus, dass
Hier liegt der Kern des Problems. Verfolgte und Gefährdete müssen Zugang zu einem fairen, individuellen Asylverfahren haben. Auswanderung kann aber die sozialen Probleme in den Herkunftsländern nicht lösen. Die Schweiz muss daher in anderer Form ihren Beitrag zur Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen in diesen Ländern leisten: durch eine Entwicklungspolitik, welche namentlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze anstrebt, durch den Einsatz für eine konsequente Menschenrechtspolitik, die Beachtung sozialer und entwicklungspolitischer Kriterien in der Aussenwirtschaftspolitik, den Verzicht auf Rüstungsexporte in die Dritte Welt, durch eine aktive Asyl-Aussenpolitik.
Der SGB tritt dafür ein, die Probleme der Asylgewährung und der Migration aus der Dritten Welt auf der Grundlage einiger klarer Grundsätze anzupacken:
3.1
Wer in seiner Heimat aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt ist, muss auch in Zukunft in der Schweiz Aufnahme finden. Er hat Anspruch auf ein faires individuelles Verfahren.
3.2
Eine Kontingentierung der Asylgesuche ist abzulehnen. Hingegen muss das Asylverfahren wieder funktionsfähig gemacht werden. Dazu muss in erster Linie das Problem der Gewaltflüchtlinge gelöst werden. Wer wegen bürgerkriegsähnlicher Spannungen nicht in seine Heimat zurückkehren kann, soll vorläufige Aufnahme finden. Die Schweiz kann aber nur einen Teil der Gewaltflüchtlinge aufnehmen; es braucht daher dringend positive europäische Vereinbarungen über die Aufnahmebereitschaft der einzelnen Länder.
3.3
In der Asylpolitik muss der Schutz vor Verfolgung oder Gefährdung ausschlaggebend bleiben. Sie darf nicht zur Umgehung des Ausländerrechts dienen. Darum sind rechtsstaatliche Regelungen erforderlich, welche Verfolgten und Gefährdeten ein einwandfreies Verfahren garantieren. Nötig sind aber auch Antworten auf die zunehmende Flucht aus wirtschaftlicher Not. In diesem Bereich, in welchem sich Asyl- und Ausländerpolitik überschneiden, müssen humanitäre Kriterien den Vorrang vor wirtschaftlichen haben. Die Schweiz sollte in der Lage sein, in begrenztem Rahmen Notleidende aufzunehmen, ohne dadurch ihre Ausländerpolitik und die Priorität der europäischen Integration in Frage zu stellen.
3.4
Der SGB lehnt Notrecht oder Dringlichkeitsrecht in der Asylpolitik ab. Notwendig sind politische Entscheidungen, die nicht nur humanitären Aspekten Rechnung tragen, sondern auch die Möglichkeiten der Aussenwirtschafts-, der Entwicklungs- und der Menschenrechtspolitik aktiv einsetzen.