VII. WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE RAHMENBEDINGUNGEN
1. Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik
Aus gewerkschaftlicher Sicht verfolgt die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ein doppeltes Ziel. Dem einzelnen Individuum garantiert sie einerseits ein Recht auf Arbeit und anderseits ein genügend grosses Einkommen aus dieser Arbeit, das ihm die Deckung aller wichtigen Bedürfnisse erlaubt. Mit diesem Vollbeschäftigungsziel als oberstem wirtschaftlichen Ziel langfristig in Einklang zu bringen sind auch die anderen wirtschaftlichen Ziele, wie dasjenige der optimalen Verteilungsgerechtigkeit, der Wohlstandsmehrung, der internen Geldwertstabilität und der externen Zahlungsbilanz- und Wechselkurs-Stabilität. Von einer Wirtschaftspolitik, für die der arbeitende Mensch das Mass der Dinge ist, verlangen wir:
1.1
Das Recht auf Arbeit für alle arbeitsfähigen Menschen. Der Staat hat seine Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den Dienst dieses Zieles zu stellen. Nachfrageseitig ist die Vollbeschäftigungspolitik zu verwirklichen durch einen gut ausgebauten und stabilen öffentlichen Sektor, durch eine antizyklische Ausgaben- und Fiskalpolitik und durch ein gut ausgebautes Sozialversicherungssystem. Angebotsseitig trägt der Staat durch ein hochwertiges Aus- und Weiterbildungsangebot und durch die Unterstützung von Innovation und Forschung zur Schaffung und Erhaltung von Vollbeschäftigung bei.
1.2
Tritt aus konjunkturellen Gründen eine vorübergehende Arbeitslosigkeit ein, so hat der Staat alles daran zu setzen, um die individuelle Verweildauer in der Arbeitslosigkeit möglichst gering zu halten. Jede arbeitslose Person hat ein Recht auf Bildung oder Beschäftigung während der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit. Durch die Förderung von Stellentausch, freiwilligen Frühpensionierungen und Kurzarbeit, sowie durch Beschäftigungsprogramme und eine antizyklische Finanzpolitik hat der Staat zur Entschärfung der Situation am Arbeitsmarkt entscheidend beizutragen. Das Netz der staatlichen Arbeitsvermittlungsstellen ist so auszubauen, dass jede/jeder Stellensuchende intensiv betreut werden kann. Die mit der Vermittlung betreuten Personen sind nicht nur technisch mit jenen Hilfsmitteln auszurüsten, die eine rasche Vermittlung ermöglichen; sie sind auch so zu schulen, dass sie auf die besondere Situation, in denen sich Arbeitslose befinden, menschlich eingehen können.
1.3
Strukturelle oder sogenannte Sockelarbeitslosigkeit - also das Auseinanderklaffen der Profile von angebotener und nachgefragter Arbeit - ist ein Phänomen, das von den Gewerkschaften nicht toleriert wird, da es durch eine geeignete staatliche Politik der Aus- und Weiterbildung vermieden werden kann.
1.4
Eine echte Umverteilungspolitik des Staates erfolgt durch eine Politik der Chancengleichheit für alle, durch ein progressives Steuersystem und durch eine gut ausgebaute Sozialversicherung. Zur Umverteilung tragen auch Modelle der Mitarbeiterbeteiligung an Kapital und Gewinn der Unternehmen bei. Die Gewerkschaften sollen solche Modelle fördern. Ein Teil der Unternehmensgewinne muss in einen paritätisch verwalteten Fonds einbezahlt werden, der sowohl zu Bildungszwecken wie zur Unterstützung bedürftiger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verwendet werden könnte.
1.5
Die Verwirklichung dieser Zielsetzungen beinhaltet für den SGB und die angeschlossenen Verbände die Entwicklung einer globalen Wirtschaftspolitik, die sich auf folgende Grundsätze abstützt:
2. Oeffnung zu Europa als Priorität in der Ausländerpolitik
Die Schweiz ist flächenmässig und von ihrer Bevölkerung her ein Kleinstaat, sie gehört aber wirtschaftlich zu den führenden Industriestaaten. Neben den einheimischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beschäftigen schweizerische Unternehmungen mehr als 900'000 ausländische Arbeitskräfte in der Schweiz und mehr als 600'000 Arbeitskräfte im Ausland (davon etwa 400'000 in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft).
In den neunziger Jahren ist die Freizügigkeit in Europa wieder herzustellen. Die daraus zu erwartenden Wanderungsbewegungen lassen sich verkraften; ihnen steht ein erheblicher Gewinn an Freizügigkeit für die Schweizerinnen und Schweizer gegenüber. Dennoch sieht sich die Bevölkerung der Schweiz immer stärker einem Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Attraktivität und gesellschaftlicher Akzeptanz ausgesetzt. Die Schweiz wird künftig vermehrt die Arbeit zu den Menschen bringen müssen, statt noch mehr Menschen in die Schweiz zu holen.
Die Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nur Mitte der siebziger Jahre während dreier Krisenjahre unterbrochen. Heute leben in der Schweiz mehr als eine Million Ausländerinnen und Ausländer (etwa 18 % der Gesamtbevölkerung). Etwa 600'000 von ihnen sind erwerbstätig. Dazu kommen über 300'000 ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne ständigen Wohnsitz in der Schweiz: Grenzgänger, Saisonniers, Kurzaufenthalter. Insgesamt ist jeder vierte Beschäftigte ausländischer Nationalität.
Die Einwanderung hat längst ihren provisorischen Charakter verloren: Die überwiegende Mehrheit der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbringt den grössten Teil ihres aktiven Lebens in der Schweiz. Mindestens ein Drittel von ihnen gehören zur zweiten oder dritten Einwanderergeneration, sind hier aufgewachsen, haben die schweizerischen Schulen besucht, sprechen die lokale Sprache und unterscheiden sich kaum von der einheimischen Bevölkerung.
Dennoch ist das Verhältnis zwischen der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung widersprüchlich geblieben. Fremdenfeindliche, ja offen rassistische Tendenzen haben seit den achtziger Jahren zugenommen. Parallel zum Auftreten einer neuen Form der Migration aus weiter entfernten Gebieten haben in einem Teil der Bevölkerung die Gefühle kultureller Fremdheit und daraus folgender Ablehnung zugenommen. Die Gründe der Migration, die sowohl in wirtschaftlicher Not, wie in Unterdrückung und Verfolgung zu suchen sind, werden nicht mehr wahrgenommen, die Bereitschaft zur Integration hat abgenommen. Diese Problematik kann sich in den neunziger Jahren noch verschärfen, besonders dann, wenn zusätzlich zur bisherigen Süd - Nord - Migration eine Ost -West- Migration hinzukommen sollte.
Auf diesem Hintergrund setzt sich der SGB für eine tiefgreifende Reform der schweizerischen Ausländerpolitik ein. Die bisherige Politik befindet sich aus mehreren Gründen im Umbruch: wegen des veränderten Charakters der Migration, wegen der notwendigen Anpassung an die europäische Integration und wegen der unumgänglichen innenpolitischen Neugestaltung der Ausländerpolitik.
In den traditionellen westeuropäischen Auswanderungsländern hat die Migration ihren Charakter verändert. An die Stelle einer Migration aus wirtschaftlicher Not ist weitgehend die Wanderung aus freigewählter beruflicher Mobilität getreten. Für die Angehörigen der EG- und EFTA-Länder, die drei Viertel aller Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz ausmachen, kommt daher der Verwirklichung der Freizügigkeit erste Priorität zu.
Mit der Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraumes wird auch die Schweiz diese Freizügigkeit in einer relativ kurzen Uebergangsfrist verwirklichen müssen. Der SGB befürwortet dieses Ziel, nicht zuletzt im Interesse schweizerischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Chancen für Ausbildung und Beruf ausserhalb der engen eigenen Grenzen suchen.
Dies bedeutet aber nicht den völligen Wegfall quantitativer Limiten. Für die Länder Osteuropas erscheint eine begrenzte Oeffnung sinnvoll, bei der es nicht um ein neues Reservoir billiger Arbeitskräfte, sondern um die Förderung der Ausbildung und die Unterstützung der Wirtschaftsreformen geht. Gegenüber der Migration aus der Dritten Welt bleibt eine quantitative Begrenzung unentbehrlich: einerseits, weil die Schweiz angesichts des bereits überdurchschnittlich hohen Anteils an Ausländern, Flüchtlingen und Asylbewerbern nur beschränkte Möglichkeiten hat, andrerseits, weil die Probleme der Herkunftsländer nicht durch Migration, sondern nur durch die Schaffung gerechterer wirtschaftlicher Verhältnisse gelöst werden können.
Eine Neugestaltung der Ausländerpolitik ist aber auch innenpolitisch dringend. Es fehlt eine aktive Integrationspolitik. Die Rotationspolitik früherer Jahre lebt in den prekären rechtlichen und sozialen Bedingungen der Saisonniers und Kurzaufenthalter fort. Eine menschliche Ausländerpolitik erfordert die Abkehr von der Rotation und die Schaffung eines einheitlichen Arbeitsmarktes für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Hauptziele des SGB für die künftige Ausländerpolitik sind die folgenden:
2.1
Für die Länder der EG und der EFTA ist die volle Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der Basis der Gegenseitigkeit zu verwirklichen. Dies soll mit dem Europäischen Wirtschaftsraum erreicht werden, ohne auf einen späteren Beitritt der Schweiz zur EG zu warten.
2.2
Die Verwirklichung der Freizügigkeit nach den EG - Regeln erleichtert den Austausch von Arbeitskräften. Der Grundsatz der Gleichbehandlung in- und ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schliesst das Risiko der Deregulierung und des Sozialdumpings nicht aus. Deshalb ist für erstmals einreisende ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in Zukunft eine wirksame Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen notwendig. Der SGB engagiert sich bei Bund und Kantonen zur Vermeidung negativer Effekte der Freizügigkeit:
2.3
Die Aufhebung des Saisonnierstatuts ist ein Kernpunkt jeder neuen Ausländerpolitik. Saisonniers, deren Beschäftigung keinen echten saisonalen Charakter aufweist, sind schrittweise als Jahresaufenthalter aufzunehmen. Sie dürfen nicht durch neue Saisonniers oder Kurzaufenthalter ersetzt werden. Soweit echte saisonale Beschäftigungen verbleiben, muss die Freizügigkeit (Recht auf Familiennachzug sowie auf freien Stellen- und Berufswechsel) auch für saisonale Arbeitskräfte gelten.
2.4
Der SGB widersetzt sich dem neuen BIGA- Konzept der Ausländerpolitik der 90er Jahre: dem Modell der drei Kreise. Er fordert die Abschaffung jeder Form von Saisonnierstatut. Deshalb lehnt er auch eine Weiterführung des heutigen Statuts mit Arbeitskräften aus ost- oder aussereuropäischen Ländern ab. Ebenso sollten kurzfristige Bewilligungen von Arbeitnehmern ausserhalb des EWR künftig nicht mehr zugelassen werden. Befristete Arbeitsverhältnisse sollten sich auf klar definierte, spezifische Bedürfnisse (z.B. Weiterbildung, Rotation von Kaderleuten, wissenschaftliche Bedürfnisse) beschränken.
2.5
Langjährige Grenzgänger sollen über eine Rechtsstellung verfügen, die jener der Daueraufenthalter entspricht.
2.6
Der SGB fordert eine qualitative Ausländerpolitik, deren Ziel die Integration der Ausländerinnen und Ausländer in die schweizerische Gesellschaft ist. Dazu gehören die Möglichkeit des Ausländerstimmrechtes auf kantonaler und kommunaler Ebene sowie ein leichterer Zugang zum Bürgerrecht (kürzere Fristen, keine abschreckenden Gebühren, erleichterte Einbürgerung für die zweite Generation).
2.7 3. Finanzpolitik erfüllt viele Aufgaben
Der SGB setzt sich für den Ausbau des Rechtsschutzes zugunsten der rechtmässig in der Schweiz lebenden Ausländer ein. Insbesondere sind Ausweisungen auf die in der Europäischen Sozialcharta genannten Gründe (Gefährdung der Sicherheit des Staates, Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die Sittlichkeit) zu beschränken.
Der Staatshaushalt erfüllt eine dreifache Aufgabe: Er dient der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, der Einkommens- und Vermögensumverteilung sowie der konjunkturellen Stabilisierung. Mit dem Sozialversicherungssystem zusammen kommt ihm eine Schlüsselrolle bei der Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft zu. Ohne leistungsfähigen Sozialstaat wäre das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht in der Lage, einen breiten Wohlstand zu erzeugen. Die Gewerkschaften setzen sich für eine rationelle Verwendung der staatlichen Mittel im Rahmen dieser Ziele ein. Sie lehnen Ausgaben über das notwendige Mass hinaus ("Lobbyausgaben") in Bereichen wie Militär, Landwirtschaft oder zur Unterstützung einflussreicher Firmen ab. Eine Finanzpolitik im Interesse der Gewerkschaften verlangt:
3.1
Ausgabenseitig sollen umfassende Investitionen in das Sozial- und Bildungswesen und die Infrastruktur sowie ergänzende Investitionen in den Bereichen Kultur, Erholung und Sport getätigt werden. Diese Angebote sind nach sozialen Tarifen auszurichten, um der gesamten Bevölkerung von Nutzen zu sein.
3.2
Einnahmenseitig soll als Schwerpunkt ein System progressiver Einkommens-, Vermögens- und Erbschafts- Steuern bestehen. Sozialabzüge sind vom Steuerbetrag und nicht vom steuerbaren Einkommen abzuziehen.
3.3
Die materielle und formelle Steuerharmonisierung sowie ein substantieller Finanzausgleich unter den Kantonen müssen verwirklicht werden.
3.4
In wirtschaftlichen Krisenzeiten ist eine aktive Budgetpolitik einzusetzen. Sie soll aber nicht zur Sozialisierung von Verlusten Privater oder zur Strukturstützung einflussreicher, überholter Betriebe führen, wie dies die letzten grossen Konjunkturpakete taten. Der Beschäftigungseffekt solcher zusätzlicher öffentlicher Ausgaben ist grösser, wenn sie direkt für Personalausgaben anstatt für Strukturen oder Investitionen ausgegeben werden.
3.5 4. Geld- und Bankenpolitik soll allen dienen
Lenkungsabgaben im Umweltbereich, die im Sinne des Bonus-Systems an Haushalte mit umweltgerechtem Verhalten zurückgegeben werden, sind zu fördern. Damit kann der Lenkungseffekt vervielfacht und die Umweltpolitik gemäss Verursacher- und Vorsichtsprinzip unter Wahrung der Preisstabilität durchgeführt werden.
Als bedeutender Wirtschaftsstandort hat die Schweiz Interesse an einer gut funktionierenden Geld- und Kapitalversorgung. Dazu benötigt sie ein leistungsfähiges Bankensystem. Dieses soll sich seine starke internationale Stellung jedoch ausschliesslich aufgrund eigener echter Verdienste schaffen und nicht auch aufgrund dubioser Geschäfte, die das Licht des Tages scheuen. Von der Geldpolitik erwarten wir, dass sie sich ausgewogen im wirtschaftlichen Zieldreieck von Vollbeschäftigung, interner Preisstabilität und externer Zahlungsbilanz- und Wechselkursstabilität bewegt. Sie hat Einseitigkeiten zu meiden, weil sich diese langfristig als Bumerang auswirken. Wir fordern:
4.1
Fluchtgelder sind durch eine wirksame gesetzliche Regelung der Entgegennahme von Geldern abzuwehren. Geldwäscherei ist wirksam zu erfassen und unter Strafe zu stellen.
4.2
Eine mieterfreundliche Hypothekarzinspolitik, die nicht dem Ziel der Preisstabilität entgegenläuft (Abkoppelung von den kurzfristigen Zinssätzen), ist durchzuführen.
4.3
Die Einschränkung des Kleinkreditwesens ist zu verschärfen.
4.4
Die Zusammenarbeit der Schweizerischen Nationalbank mit dem Europäischen Währungssystem muss eingeleitet werden.
4.5 5. Forschung
Der SGB schlägt dem BIGA ein neues System zur Berechnung der Lebenskosten vor.
Die öffentliche Forschungspolitik ist zu verstärken. Als Schwerpunkte der Forschungspolitik sollen folgende Bereiche besonders gefördert werden: Zukunftsperspektiven der schweizerischen Wirtschaft, ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie und Arbeitsorganisation, Erneuerung der Demokratie, Emanzipation der Geschlechter, interkulturelles Zusammenleben, Schwachstellen des Schulsystems (Neoanalphabetismus), Konflikt- und Friedensforschung.