IX. ENTWICKLUNG DER DEMOKRATIE
1. Das Funktionieren der Behörden verbessern
Die Krise des schweizerischen politischen Systems ist spätestens mit der Aufdeckung polizeilicher und militärischer Aktivitäten, die sich der parlamentarischen Kontrolle entzogen hatten, und dem Widerspruch zwischen der Dauer schweizerischer Gesetzgebungsprozesse und der Dringlichkeit der Entscheidungen, die uns die Verhandlungen über die Europäische Integration aufzwingen, offensichtlich geworden. Tatsächlich ist jedoch die Blockierung der Gesetzgebungsmaschinerie viel älter: Sie ist das Resultat einer zunehmenden politischen Polarisierung, die es nicht mehr ermöglicht, annehmbare Uebereinkünfte zu finden, des Ueberhandnehmens parteiischer Interessen, die immer unnachgiebiger vertreten werden, sowie einer Schwächung des Milizparlaments, das sich mit Aufgaben konfrontiert sieht, die von Tag zu Tag komplexer werden. Die Gesetzgebungsentwürfe, die steckenbleiben oder zu spät auf Probleme antworten, die sich inzwischen gewandelt haben, lassen sich kaum mehr aufzählen.
Die Europäische Integration konfrontiert nun ihrerseits das schweizerische Gesetzgebungssystem mit seinen Unzulänglichkeiten. Sie zwingt auch zu einem gründlichen Nachdenken über die Verteilung der Kompetenzen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, den Kantonen, dem Bund und Europa. Aber auch die demokratischen Lücken der Europäischen Gemeinschaft sind nicht zu übersehen. Früher oder später werden wir an der Demokratisierung Europas und der Berücksichtigung seiner Regionen, seiner Minderheiten und der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer teilnehmen müssen.
Reformen in bezug auf den Bundesrat, die Verwaltung und das Parlament drängen sich in kurzer Frist auf.
1.1
Der SGB ist der Meinung, dass der Umfang der Aufgaben, die dem Bundesrat zufallen, dessen Erweiterung notwendig macht. Es sind weitere Ministerposten zu schaffen und nicht die Kompetenzen der hohen Bundesbeamten auszudehnen.
1.2
Ein Bundesrat, der sich klar überwiegend aus Männern zusammensetzt, vermag die Bevölkerung nicht zu repräsentieren. Die selbstverständlichen Quoten, die heute die Beteiligung der Sprachregionen und der grossen Parteien gewährleisten, müssen auch für die Geschlechter gelten.
1.3
Die Wahl des Bundesrates durch das Parlament hat auf der Grundlage eines Regierungsprogramms zu erfolgen, das die grossen Linien einer politischen Uebereinkunft festlegt und sowohl die Regierung wie auch die Mehrheit der beiden Räte verpflichtet.
1.4
Ein Verfassungsgericht hat die Volksrechte gegenüber einer zu engen Auslegung des nationalen Handlungsspielraumes vis a vis der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zu verteidigen. Es hat darüber zu wachen, dass das Parlament die aus den Urnen hervorgegangenen Aufträge korrekt erfüllt.
1.5
Bei den Ernennungen in die Direktionen der Bundesämter ist eine angemessene Verteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den verschiedenen politischen Parteien anzustreben. Der Anteil der Frauen in verantwortlichen Positionen der Verwaltung ist systematisch zu erheben und zu verbessern. Das bedingt Massnahmen zur Bevorzugung von Frauen auf allen Stufen der Verwaltung.
1.6
Die Transparenz der Verwaltung muss vergrössert werden, sowohl gegenüber dem Parlament als auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Der öffentliche Charakter der Tätigkeiten und der Entscheidungen der Verwaltung muss zum Prinzip erhoben werden. Geheimhaltung ist nur von Fall zu Fall und dann mit gewichtigen Interessen zu rechtfertigen.
1.7
Die Professionalisierung der Parlamentsarbeit und die Bereitstellung wirksamer Sekretariate im Dienste der politischen Gruppen sind notwendige und dringliche Reformen.
1.8 Der SGB ruft alle politischen Parteien auf, die Wahl von Frauen auf allen Ebenen des politischen Lebens sofort zu fördern. Er unterstützt die Quotenregelung, wie sie insbesondere die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eingeführt hat.
2. Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten
Die Fichenaffäre hat nicht nur die schwache parlamentarische Kontrolle über die Verwaltung ans Licht gebracht. Sie zeigte auch, mit welcher Geringschätzung in diesem Land mit den grundlegenden Rechten der Einwohner und Einwohnerinnen umgegangen wird. Diese Erfahrung veranlasst den SGB, die Aufnahme der grundlegenden Rechte in die Bundesverfassung zu verlangen.
Ein gewisser Niedergang des politischen Lebens kann nicht mehr bestritten werden: Insbesondere die Jungen und die Personen, die von den täglichen Entscheidungen im Wirtschaftsleben ausgeschlossen sind, glauben immer weniger, dass ihre Teilnahme an den Wahlen und Abstimmungen wichtig sei. Die Verwaltung erweckt zu oft Gefühle der Ohnmacht oder der Verständnislosigkeit.
Die Europäische Integration erfordert eine Neugestaltung der Volksrechte. Dabei gilt es zu wachen, dass auch unter teilweise veränderten Formen die Grundlagen der schweizerischen Demokratie gewährleistet bleiben.
2.1
Der SGB setzt sich für die Totalrevision der Bundesverfassung und die Aufnahme einer erschöpfenden Aufzählung der grundlegenden Freiheiten und der Menschenrechte in diese Verfassung ein. Diese müssen nicht nur in bezug auf die Beziehungen mit dem Staat, sondern auch für jene zwischen den Personen, insbesondere zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden, gewährleistet sein.
2.2
Die Volksabstimmungen haben über klar bezeichnete politische Entscheidungen zu erfolgen, insbesondere durch die Vorstellung von Alternativen und die frühzeitige Unterbreitung der Entwürfe (und nicht nur der vollendeten Lösungen).
2.3
Die Finanzierung der Abstimmungskampagnen muss kontrolliert und begrenzt werden.
2.4
Es müssen neue Instrumente der Volksrechte entwickelt werden. Einerseits muss es die Gesetzesinitiative ermöglichen, einem Volkswillen zum Durchbruch zu verhelfen, der nicht durch das Gewicht der (kleinen) Kantone verfälscht wird. Anderseits haben eine Volksmotion und das qualifizierte Referendum, soweit sie Beschlüsse auf europäischer Ebene betreffen, dem Bundesrat die notwendige Legitimität zu verschaffen, um mit den europäischen Instanzen verhandeln zu können.
2.5
Die Verwaltung muss transparent sein. Sie hat präzise Information über die gesetzlichen Grundlagen der getroffenen Beschlüsse und die Rekursmöglichkeiten zu bieten. Die Gesetze und die Akten der Verwaltung müssen möglichst in einer Sprache abgefasst werden, die für alle Benutzer verständlich ist.
2.6
Die gleichen Prinzipien der Transparenz und der Verständlichkeit gelten für alle Institutionen, denen es obliegt, öffentliche Aufträge auszuführen oder die Tätigkeiten von Körperschaften oder öffentlichen Institutionen zu koordinieren, so zum Beispiel für die öffentlichen Elektrizitätsgesellschaften oder für die Konferenzen der kantonalen Departementsvorsteher. Reformen der Gebietskörperschaften sind dort vorzunehmen, wo Kantone zu klein, Agglomerationsgebiete zu verwoben sind, um bisherige Einteilungen weiterlaufen zu lassen (neue Kantonsgrenzen, Agglomerationsdemokratie mit Gewaltenteilung).
2.7
Parallel zur Verstärkung der politischen Rechte setzt sich der SGB für die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Wirtschaft und in den Betrieben ein. Nur Personen, deren Meinung am Arbeitsplatz und im täglichen Leben ernst genommen wird, können sich vollwertig als Bürger und Bürgerinnen fühlen.
2.8 3. Die Demokratie auf Ausländerinnen und Ausländer erweitern
Der SGB verlangt die Abschaffung der politischen Polizei. Niemand darf bei der Wahrnehmung ideeller und politischer Rechte überwacht werden. Die Verfolgung strafbarer Handlungen bleibt vorbehalten.
Mit der zunehmenden Ausdehnung der Freizügigkeit in Europa gewinnt die Frage der politischen Beteiligung der Ausländerinnen und Ausländer an Gewicht. Sie machen in der Schweiz einen Sechstel der Wohnbevölkerung aus. Die grosse Mehrheit von ihnen lebt während vielen Jahren unter uns, rund ein Drittel aller Ausländerinnen und Ausländer sind hier geboren oder aufgewachsen. Deshalb stellt sich zunächst die Frage nach der Reformbedürftigkeit der Bürgerrechtsgesetzgebung, die zu den strengsten und abweisendsten in Europa gehört. Kürzere Einbürgerungsfristen und weniger abschreckende Gebühren sind - ebenso wie die seit 1990 bestehende Möglichkeit des Doppelbürgerrechts - notwendig, um jene, die sich nur noch durch ihr unterschiedliches kulturelles Erbe von den Einheimischen unterscheiden, zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern werden zu lassen.
Die Einbürgerung ist aber nicht die einzige Möglichkeit zur politischen Mitbeteiligung der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Zuerst hat sich in der Europäischen Gemeinschaft, welche die Freizügigkeit innerhalb ihrer Grenzen seit dreissig Jahren praktiziert, das Bedürfnis manifestiert, den Wanderarbeitnehmern und Wanderarbeitnehmerinnen nach einer bestimmten Dauer ihres Aufenthaltes die politische Mitwirkung auf lokaler Ebene zu ermöglichen. Diesen Bestrebungen liegt die Konzeption zugrunde, dass nur die wichtigen nationalen Wahlen und Entscheidungen den Bürgerinnen und Bürgern des jeweiligen Landes vorbehalten bleiben sollen, während die lokalen Entscheidungen, welche die unmittelbaren Interessen der gesamten Bevölkerung betreffen, im Prinzip allen Betroffenen zugänglich gemacht werden sollen. Wer seit mehreren Jahren in einem anderen Land lebt, soll über die alltäglichen Bedürfnisse (Schule, Verkehr, lokale Infrastruktur usw.) mitentscheiden können.
Die Schweizer Gewerkschaften haben in den letzten Jahrzehnten eine wichtige Rolle zur Integration der Eingewanderten gespielt. Viele SGB-Verbände sind heute multikulturelle Organisationen, in denen das Zusammensein diverser Nationalitäten gelebt wird, ohne auf die Passfarbe zu schauen. Die Gewerkschaften sind denn auch bisher die einzigen schweizerischen Organisationen gewesen, die den Immigrierten als politisches Sprachrohr gedient haben.
3.1
Der SGB tritt deshalb für eine entschiedene Verkürzung und eine für die ganze Schweiz einheitliche Festsetzung der für die ordentliche Einbürgerung erforderlichen Wohnsitzfristen, eine Vereinfachung der Prozeduren und Herabsetzung der Gebühren ein. Im besonderen ist die Einbürgerung der Ausländerinnen und Ausländer der zweiten und dritten Generation zu erleichtern.
3.2
Der SGB begrüsst die Möglichkeit des Doppelbürgerrechtes und fordert die Bundesbehörden auf, dieses auf der Grundlage der Gegenseitigkeit auch für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zu verwirklichen.
3.3
Die politischen Rechte für Immigrantinnen und Immigranten sollen auf allen Ebenen eingeführt werden (Stimm- und Wahlrecht), in einer ersten Phase sollen sie auf kommunaler und kantonaler Ebene geschaffen werden.
3.4 4. Medien: Meinungsäusserungsfreiheit sichern
Insbesondere ist die Partizipation der Ausländerinnen und Ausländer in Behörden zu verwirklichen, die sie unmittelbar betreffen (Arbeits- und Mietgerichte, Schul- und Lehrlingskommissionen usw.).
Demokratie setzt einen umfassenden Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit voraus. Dazu gehören die Unabhängigkeit der Medien vom Staat und das Verbot jeglicher Zensur.
Die Medienfreiheit darf nicht der Handels- und Gewerbefreiheit der Medienbesitzer und der Werbeauftraggeber untergeordnet werden.
Damit die Medienschaffenden ihre Informationsaufgabe im Dienst der Oeffentlichkeit in umfassender Weise erfüllen können, müssen sie vor Pressionen wirtschaftlicher, politischer oder weltanschaulicher Interessengruppen geschützt werden. Zu diesem Zweck ist die innere Medienfreiheit vertraglich und gesetzlich abzusichern.
Die besten Mittel gegen den Missbrauch von Medienmacht sind ein funktionierender publizistischer Wettbewerb, eine ständige öffentliche Debatte über die demokratische Aufgabe der Medien sowie Aus- und Weiterbildung im Umgang mit den Medien. Staatliche Beschwerde- oder Gerichtsverfahren führen hingegen zu einer unerwünschten Reglementierung des Journalismus.
Daraus ergeben sich folgende Forderungen:
4.1
Radio und Fernsehen müssen den in der Verfassung verankerten Leistungsauftrag erfüllen. Das erfordert eine starke Schweizerische Radio - und Fernsehgesellschaft (SRG), die eine ausreichende Versorgung aller Sprachregionen und aller Bevölkerungsgruppen mit Radio- und Fernsehprogrammen sicherstellt. Strukturreformen und das Einbringen unternehmerischer Kriterien in die SRG dürfen keine wesentlichen Veränderungen des öffentlichen Auftrages und keine Gefährdung der SRG als "Service public" mit sich bringen. Unternehmensleitung und Programmschaffen sind institutionell so zu trennen, dass jegliche direkte oder indirekte Zensur der Programme ausgeschaltet ist. Private Veranstalter können Konzessionen gemäss ihrer Bereitschaft erhalten, zum Grundauftrag der SRG wichtige Ergänzungen beizutragen. Private Konkurrenz darf weder die Grundversorgung durch die SRG gefährden noch sie so verteuern, dass die Erfüllung des Verfassungsauftrages gefährdet wird. Der SRG sind die nötigen Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgabe zu garantieren.
4.2
Die Verfügungsgewalt über Kabelnetze, die der Verteilung von Radio und Fernsehprogrammen dienen, sowie der Entscheid über die Einspeisung von ausländischen Satellitenprogrammen gehören in die Kompetenz des öffentlichen Gemeinwesens. Auf die Konsumentinnen und Konsumenten darf weder direkt noch indirekt ein Anschlusszwang an das Kabelnetz ausgeübt werden. Insbesondere ist die individuelle Medienkostenabrechnung einzuführen.
4.3
Das Fernmeldewesen darf nicht privatisiert werden. Nur so lassen sich die gleichmässige Versorgung aller Bevölkerungsteile sowie die Qualität der Fernmeldedienste garantieren. Die nationale und die internationale Koordination ist nur möglich, wenn die Uebertragungsnetze von der PTT betreut werden.
4.4
Das wertvolle, nicht nur auf den quantitativen Erfolg ausgerichtete schweizerische Filmschaffen und das entsprechende audiovisuelle Schaffen sind als wichtige Kulturprodukte gezielt zu fördern. Die Gesetzgebung hat diese Förderung auf Dauer sicherzustellen.
4.5
Die private Presse ist in dem Ausmass förderungswürdig, als sie zur Erhaltung oder Wiederherstellung des publizistischen Wettbewerbs und damit der Meinungsvielfalt beiträgt. Im Interesse dieses publizistischen Wettbewerbs ist an einer möglichst wirksamen Konkurrenz von Radio und Fernsehen einerseits und der Presse anderseits festzuhalten. Medienübergreifende Konzentrationen sind nicht zuzulassen.
4.6
Medienschaffen ist Kulturschaffen. Den Urheberinnen und Urhebern sowie den Interpretinnen und Interpreten dieses Schaffens stehen die Früchte ihrer Arbeit in erster Linie zu. Ein entsprechendes, das kulturelle Schaffen förderndes, auf Europa abgestimmtes Urheberrecht hat das zu garantieren.
4.7
Damit der Informationsauftrag von Medien und Medienschaffenden wahrgenommen werden kann, brauchen sie das Zeugnisverweigerungsrecht und den Quellenschatz. Es muss verhindert werden, dass die im Radio- und Fernsehgesetz geschaffenen Tendenzen zur Einschränkung journalistischer Tätigkeit die Medienfreiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit der Medienschaffenden beeinträchtigen.
4.8
Die Medien haben dem Schutz der Persönlichkeit Rechnung zu tragen. Persönlichkeitsschutz und Datenschatz dürfen aber nicht so ausgestaltet sein, dass sie zur Vorzensur missbraucht werden können.