V. GESELLSCHAFT UND KULTUR
1. Die Lebensgemeinschaften fördern
Der Begriff Familie muss auf alle Lebensgemeinschaften ausgedehnt werden, die auf der Solidarität zwischen wirtschaftlich selbständigen Personen beruhen und die eine Betreuung von anderen Personen, insbesondere Kindern, übernehmen. Nicht auf dem Zivilstand gründet die Familie, sondern in der gegenseitigen Verpflichtung, in ausdrücklichem oder stillschweigendem Willen zu dauerhafter Solidarität.
Die Intimität und die Handlungsfreiheit dieser Lebensgemeinschaften müssen durch ein günstiges soziales Klima gefördert werden. Die Verantwortung, einem Kind das Leben zu schenken, muss in voller Freiheit übernommen werden können. Dem Kind müssen von Anfang an die bestmöglichen Entwicklungschancen gewährt werden. Handle es sich um die Erziehung der Kinder oder um die Pflege Behinderter, die Familie ermöglicht in jedem Fall mehr Zuneigung und bessere Anpassung an die individuellen Bedürfnisse.
Die Gemeinschaft darf sich den Aufgaben auf den Gebieten der Erziehung und der Pflege nicht entziehen. Die Solidarität muss auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden, auch auf Kinder, Behinderte oder ältere, hilfsbedürftige Personen. Die Anerkennung der Lebensgemeinschaft darf nicht zur Privatisierung der Lasten und zur Verneinung der sozialen Verantwortlichkeiten führen. Einrichtungen der Gemeinschaft müssen die Familie unterstützen oder ersetzen, wenn sie nicht vorhanden ist. Durch Förderung der häuslichen Pflege, so wünschbar sie an sich ist, können die Gesundheitskosten nicht einfach auf die Familien übertragen werden. Eine solche Lösung würde die Ungleichheiten vergrössern und die Familienangehörigen - in den meisten Fällen die Frauen - in eine Rolle zwingen, die ihre Bewegungsfreiheit noch mehr einschränkte.
Das neue Eherecht war ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Befreiung der Familie von den Rollen, die den Ehegatten aufgezwungen werden. Jetzt gilt es, in bezug auf das Scheidungsrecht die Konsequenzen zu ziehen und die Sozialversicherungen anzupassen.
Die traditionelle Familie beherrscht weiterhin das Denken und die Politik. Das hat zur Folge, dass den immer zahlreicheren Familien mit nur einem Elternteil oft die notwendigen Mittel und die Hilfe der gesellschaftlichen Einrichtungen fehlen.
In bezug auf die Familienpolitik misst der SGB den folgenden Forderungen eine grosse Bedeutung zu:
1.1
Der SGB setzt sich für einen Familienbegriff ein, der nicht auf dem Zivilstand gründet. Der Begriff Familie gilt auch für alle Lebensgemeinschaften, die auf der Solidarität zwischen wirtschaftlich selbständigen Personen beruhen und die eine Betreuung von anderen Personen, insbesondere Kindern, übernehmen. Die Gesetzgebung muss diesem erweiterten Familienbegriff Rechnung tragen.
Jede Frau hat das Recht, die Anzahl der Kinder und den Zeitpunkt ihrer Geburt selber zu bestimmen. Die Verhütung ist das wichtigste Mittel zur Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung. Die Fristenlösung, also die Entkriminalisierung der Abtreibung während der ersten Wochen der Schwangerschaft, muss endlich anerkannt werden.
1.2
Es muss eine Gesetzgebung für den Schutz der Mutterschaft und die Anerkennung der elterlichen Verantwortlichkeiten geschaffen werden.
1.3
Die in der Familie ausgeübte Gewalt, insbesondere gegen die Frauen oder die Kinder (Vergewaltigung, Inzest, schlechte Behandlung) muss bekämpft werden. Die Opfer müssen den Beistand der sozialen Dienste, spezialisierter Einrichtungen und der Gerichte erhalten. Sie müssen zudem die Möglichkeit haben, unverzüglich in Räumen Zuflucht zu suchen, die von der Gemeinde zur Verfügung gestellt werden.
1.4
Die Erziehung hat Beziehungen ohne Gewalt und ohne Vorherrschaft zwischen Männern und Frauen zu fördern.
1.5
Die Erziehungsaufgaben und die Betreuung von hilfsbedürftigen Menschen müssen von den Sozialversicherungen mit Betreuungsgutschriften berücksichtigt werden.
1.6
Die Arbeitgeber und die Sozialversicherungen müssen die familiären Verantwortlichkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anerkennen, insbesondere in bezug auf den Urlaub zur Pflege kranker Kinder.
1.7
Die Wohnungspolitik hat die Bedürfnisse nach Intimität der Familien wie auch die Existenz von breiter angelegten Lebensgemeinschaften zu berücksichtigen.
1.8 2. Ausgrenzungen und Repression bekämpfen
Es fehlen noch weithin Gemeinschaftseinrichtungen, Orte der Begegnung zwischen den verschiedenen Generationen, Gelegenheiten für die Sozialisierung der Kinder, Hilfen für die Hauspflege. Solche Einrichtungen müssen gefördert werden.
Unsere Gesellschaft erliegt oft der Versuchung, all jene Menschen an den Rand zu drängen und zu unterdrücken, die ausserhalb der üblichen Normen leben und deshalb Aengste wecken. Die Toleranz und die Fähigkeit zu helfen werden regelmässig, noch bevor die alten Ausgrenzungen völlig überwunden sind, durch neue Probleme auf die Probe gestellt. Zwar sind bei der Integration der psychisch Kranken und im Strafvollzug Fortschritte erzielt worden. Heute fordern AIDS und der Konsum harter Drogen unsere menschlichen Gefühle heraus.
Weder die Gleichgültigkeit gegenüber den Hoffnungslosen noch die Unterdrückung der Opfer oder das Verschweigen der Probleme führen zu annehmbaren Lösungen. Der SGB unterstützt konkrete Hilfsmassnahmen und bekämpft die Verlogenheit in bezug auf die Sexualität und die Drogen.
Der SGB wehrt sich gegen die Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen, die den Rentabilitäts- Anforderungen der Unternehmen nicht genügen können. Für sie sind Vorkehren zur beruflichen Eingliederung notwendig.
2.1
Der SGB fordert eine Drogenpolitik und eine AlDS-Prävention, welche weder die Betroffenen ausgrenzt, noch die berechtigten Anliegen der Bevölkerung auf Schutz nicht vernachlässigt. Im Kampf gegen den Drogenmissbrauch ist der Suchtprävention erste Priorität einzuräumen. Suchtprävention bedeutet gezielte Aufklärung über die Ursachen der massiven Präsenz von legalen und illegalen Drogen und über die damit verbundenen Gefahren. Darüber hinaus heisst Prävention aber auch Hilfe bei der Entfaltung der Persönlichkeit von gefährdeten Menschen. Dauerhaft erfolgreiche Prävention in diesem Sinne setzt ein tragendes soziales Netz voraus, das für alle gesellschaftlichen Gruppen genügend Freiräume bietet. Drogensüchtigen, auch jenen, die sich die Drogen mit dem Verkauf kleiner Mengen oder mittels Prostitution verschaffen, muss im ganzen Land eine wirksame Ueberlebenshilfe gewährt werden. Eine solche Hilfe schliesst ein, dass Wohnraum und bezahlte Tätigkeiten zur Verfügung gestellt werden. Das organisierte Verbrechen muss bekämpft werden. Der Drogenmarkt, eine Quelle schamloser Profite und der Gewalt, muss ihm durch die medizinisch kontrollierte Verteilung von Methadon und Heroin entrissen werden. Bei allen Massnahmen gegen den Drogenmissbrauch sollen stets Nutzen und Schaden des Eingriffs gegeneinander abgewogen werden. Der Konsum von weichen Drogen muss deshalb straffrei erklärt werden.
2.2
Die AIDS- Information muss fortgesetzt und verstärkt werden. Die Unterdrückung von Risikogruppen, vollberuflichen oder gelegentlichen Prostituierten, Homosexuellen, Gefängnisinsassen, Drogenkonsumierenden, muss aufhören. Damit kann ein Klima geschaffen werden, das die Vorbeugung begünstigt. Die Fichierung und die Unterwerfung unter obligatorische Kontrollen (Tests) müssen der Polizei, den Sanitätsbehörden und den Arbeitgebern verboten werden. Die Sozialversicherungen dürfen sich infizierten und kranken Personen gegenüber nicht verschliessen. Diese dürfen weder bei der Anstellung diskriminiert noch aus Krankheitsgründen entlassen werden.
2.3
Beim Vollzug der Strafen ist die soziale und berufliche Wiedereingliederung der Häftlinge anzustreben. Diese müssen auch auf eine wirksame Hilfe nach ihrer Entlassung zählen können. Wo immer möglich haben Arbeiten im Dienst der Oeffentlichkeit Gefängnisstrafen zu ersetzen.
2.4 3. Das kulturelle Schaffen fördern
Die administrative Versorgung oder Zwangshospitalisierung von Personen mit abweichendem Verhalten ist verboten, solange deren Verhalten nicht das Leben und die Integrität Dritter gefährdet. Die Rechte psychisch Kranker und die Integrität ihrer Person sind zu respektieren.
Kultur umfasst alles, was den Menschen ermöglicht, die Gesellschaft zu verstehen, sich in ihr zu entfalten, sie im Sinne der Selbstbestimmung als Individuum oder als Kollektiv zu beeinflussen und zu verändern. Die Kultur wird von gesellschaftlichen Werten und Bedingungen geprägt und von politischen
Machtverhältnissen und Machtstrukturen beeinflusst. Sie widerspiegelt auch den politischen, ökonomischen und sozialen Wandel und die vielfältigen Auseinandersetzungen. Unter Kultur verstehen wir nicht nur die künstlerischen Ausdrucksarten und Darstellungsformen.
Echte Kulturpolitik engagiert sich nicht erst nach Feierabend. Sie beschäftigt sich auch mit dem Bereich der Arbeit. Das Freizeitverhalten und die Qualität der freien Zeit hängt wesentlich von der Qualität der Arbeit ab. Die Bedingungen der Arbeit prägen nicht nur die berufliche und soziale Lage, sondern auch das persönliche Umfeld der arbeitenden Menschen. Daraus lässt sich folgern, dass die Humanisierung der Arbeitswelt ebenfalls ein Ziel der Kulturpolitik sein muss. Indem sich die Gewerkschaften für eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft engagieren, prägen sie die Kultur mit und sind demnach auch eine kulturelle Bewegung.
Bund, Kantone und Gemeinden haben eine besondere Verantwortung der Kultur gegenüber. Denn ihre Kultur- und Kulturförderungspolitik beeinflusst das soziale Zusammenleben und die "Qualität" der Gemeinschaft.
Bund, Kantone und Gemeinden müssen ihre Anstrengungen im Bereich der Kulturförderung verdoppeln, damit "das grosse Geld" nicht einen zu starken Einfluss auf die Kultur und die Kulturpolitik nehmen kann. Als demokratisch legitimierte Institutionen sind sie verpflichtet, die Freiheit und den Freiraum für Kunst, Kultur und Kulturschaffende zu garantieren. Sie müssen die gesetzlichen Grundlagen schaffen und aktiv Kulturförderung betreiben. Allerdings kann es nicht Aufgabe des Staates sein, Kulturpolitik zu verordnen oder zu diktieren. Er soll auch keine eigene "Staatskunst" anstreben. Das kulturelle und künstlerische Schaffen soll grundsätzlich der freien Initiative von Gruppen und Einzelpersonen entspringen. Der Staat beschränkt sich darauf, kulturelle Initiativen zu ermutigen und gezielt zu fördern. Er soll Impulse geben und Eigenaktivitäten entwickeln, wenn Segmente des Kulturbetriebs dereguliert werden und zum Kommerz zu verkommen drohen.
Der SGB unterstützt eine Kulturpolitik und eine Kulturförderungspolitik, die allen Gruppen und Schichten zugute kommt und nicht einige wenige privilegiert.
3.1
Bund, Kantone und Gemeinden müssen die notwendigen gesetzlichen Grundlagen schaffen, damit die Kulturpolitik, die Kulturförderung und ihre Finanzierung wirksamer betrieben werden können.
3.2
Damit eine Breitenwirkung erzielt werden kann, ist neben der etablierten und arrivierten Kunst sowohl das zeitgenössische und experimentelle Kunstschaffen wie auch die Laienkultur, die Volkskultur und die sozio-kulturelle Animation zu unterstützen. Kulturschaffende, die sich kritisch zur offiziellen Politik (des Bundes, des Kantons oder der Gemeinde) stellen, dürfen wegen ihrer politischen Haltung nicht von der Kulturförderung ausgeschlossen werden.
3.3
Der Staat hat eine wichtige Aufgabe: die Vermittlung von Kunst und Kultur. Bund, Kantone und Gemeinden sollen den Zugang zu Kunst und Kunstwerken - insbesondere für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - erleichtern und fördern, indem sie unter anderem durch geeignete Massnahmen Einfluss auf die Preisgestaltung nehmen. Damit ermöglichen sie auch eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den Kulturschaffenden und einem breiten Publikum.
3.4
Die kulturelle Vielfalt der Schweiz soll erhalten bleiben. Sie darf nicht durch eine unkritische Massenkultur verdrängt werden. Die sprachlichen, sozialen und ethnischen Minderheiten sollen ihre eigene Kultur pflegen können.
3.5
Als Folge der Immigration leben heute Menschen mit anderen Kulturen in der Schweiz. Diese Menschen haben ihre eigene kulturelle Identität und ihre eigenen kulturellen Ausdrucksweisen. Sie sollen in ihren kulturellen Aktivitäten unterstützt werden. Daneben ist sowohl ihre Integration als auch der interkulturelle Austausch und das interkulturelle Zusammenleben zu fördern.
3.6
Bund, Kantone und Gemeinden sorgen für Infrastrukturen und Freiräume, die nötig sind, um soziale Kontakte und soziale Lebensformen zu ermöglichen, damit die Menschen ihre Freizeit selber gestalten können.
3.7
Der SGB und die angeschlossenen Verbände engagieren sich für die Freiheit und die Freiräume der Kunst und der Kulturschaffenden. Sie setzen sich für die sozialen und gewerkschaftlichen Rechte der lohnabhängigen und der freischaffenden Kulturschaffenden ein. Sie versuchen, sie zu organisieren und ihnen eine "gewerkschaftliche Heimat" zu bieten.
3.8
Die Gewerkschaften pflegen auf unterschiedlichen Ebenen Kontakte mit Kunst- und Kulturschaffenden. So soll ein intensiver Dialog zustande kommen. Diese wechselseitige Zusammenarbeit kann mithelfen, das kreative Potential in den eigenen Reihen zu wecken und für die gewerkschaftlichen Zielsetzungen fruchtbar zu machen.
3.9
Im Rahmen der Möglichkeiten sind nichtarrivierte Künstlerinnen und Künstler durch die Gewerkschaften zu fördern (z.B. SGB - Kulturpreis, SABZ - Literaturwettbewerb).