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IV. SOZIALPOLITIK - SOZIALVERSICHERUNGEN



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1. Für Würde und Freiheit einstehen

Sozialpolitik ist ein Schwerpunkt der gewerkschaftlichen Arbeit. Sich für materielle Sicherstellung von Menschen einsetzen, heisst für die Gewerkschaften, für Würde und Freiheit einstehen. Es gehört auch zu den zentralen Aufgaben des Staates als Gemeinwesen, seinen Einwohnerinnen und Einwohnern eine menschenwürdige Existenz zu garantieren.

Jeder Mensch hat Anspruch auf sozialen Schutz. Um wirklich frei und unabhängig leben zu können, muss er die Garantie haben, dass er auch dann ausreichend leben kann, wenn seine Arbeitskraft nachlässt, ausfällt oder nicht gefragt ist. Er muss im Alter, bei Krankheit, Mutterschaft, Unfall, Invalidität oder bei Arbeitslosigkeit mit einem Ersatzeinkommen rechnen können. Er braucht die Gewissheit, dass Heilungskosten sein Erwerbseinkommen nicht schmälern und dass im Falle seines Todes von ihm abhängige Personen weiterhin ausreichend versorgt sind.

Der Mensch braucht mehr als nur ein Arbeitseinkommen. Er braucht ein Lebenseinkommen, das sich zusammensetzt aus Erwerbseinkommen und sozialem Schutz. Sozialpolitik ist deshalb die praktische Umsetzung des grundlegenden Sozialrechts auf Existenzgarantie für alle. Sie erschöpft sich nicht im Stopfen von Löchern und Auffüllen von Lücken.

1.1
Der SGB fordert deshalb die Schaffung eines verfassungsmässigen Sozialrechts auf Existenzgarantie für alle. Es darf in unserem Lande keine Menschen mehr geben, die an oder sogar unter der Armutsgrenze leben müssen.

1.2
Als erster Schritt in diese Richtung ist eine Ausdehnung des Ergänzungsleistungs - Gesetzes auf alle Sozialwerke dringlich voranzutreiben. Gleichzeitig sind die Ergänzungsleistungen gezielt auszubauen, z.B. zur Abdeckung aller entstehenden Kosten bei Pflegeaufenthalten von älteren oder invaliden Personen in Heimen.


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2. Wirtschaftsertrag umverteilen

Sozialpolitik dient der Umverteilung des Wirtschaftsertrags auf alle Schichten der Bevölkerung. Ihr Ziel muss es sein, den Wirtschaftsertrag in einer Sekundärverteilung so zu streuen, dass stärker belastete Familien, Personen mit Betreuungs- oder Erziehungsaufgaben, Kranke, Verunfallte, Invalide, Betagte und Arbeitslose ungefähr gleich leben können wie die im Erwerbsleben Stehenden.

Diese Umverteilungswirkung ersetzt den direkten Anspruch am Wirtschaftsertrag über die Einkommen nicht. Im Gegenteil, wegen der Prämien- und damit Lohnabhängigkeit vieler Sozialleistungen ist die Primärverteilung eine der Grundlagen der Sozialen Sicherheit. Insbesondere darf auch nicht entlöhnte, aber gesellschaftlich notwendig Arbeit zu keinen Schmälerungen bei späteren Sozialleistungen führen.

2.1
Der SGB verlangt deshalb eine stärkere Ausrichtung der Sozialwerke auf das Finalprinzip, d.h. ihre Leistungen haben sich vermehrt an den effektiven Bedürfnissen zu messen und weniger, nach dem Aequivalenzprinzip, an früheren Bemessungsjahren und Prämiengrundlagen.

2.2
Die Uebernahme gesellschaftlich notwendiger, aber nicht entlöhnter Tätigkeiten ist als eigentlicher Wirtschaftsfaktor innerhalb der Sozialwerke zu berücksichtigen, z.B. durch Einführen eines Betreuungsbonus bei Uebernahme von Erziehungs- und Betreuungsaufgaben.


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3. Vorbeugen ist besser als heilen

Soziale Sicherheit will nicht nur Notstände lindern. Sie hat vorab zu verhüten, dass solche Notstände überhaupt eintreten. Früherkennung von und Vorsorge gegen Bedrohungen sind in die Sozialwerke zu integrieren. Im umfassenden Zusammenhang gehört auch der Schutz unserer Umwelt als Grundlage allen Lebens dazu.

3.1
Der SGB fordert den Ausbau der Gesundheitsvorsorge und deren materielle Absicherung durch die Sozialwerke. Auszubauen ist auch eine breite Aufklärung der Bevölkerung über gesundheits- und sicherheitsbewusstes Verhalten. Innerhalb des Unfallversicherungsgesetzes ist die Unfall- und Berufskrankheitsverhütung rasch auszubauen und mit den nötigen Kontroll- und Sanktionsmassnahmen auszustatten

3.2
Die Arbeitslosenversicherung ist im Kern als Teil der allgemeinen Politik zur Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung auszugestalten. Ihre Präventivmassnahmen haben vorbeugend zu wirken und nicht - wie heute - erst, wenn es Schäden zu beheben gilt.


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4. Umfassend schützen

In unserem Lande bieten Versicherungseinrichtungen Schutz bei Krankheit, Unfall, Alter, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Zu den Sozialversicherungen werden auch die Erwerbsersatzordnung und die Militärversicherung gezählt, die eigentlich der Landesverteidigung zugeordnet werden müssten. Was fehlt, ist ein bundesrechtlich geregeltes Familienzulagensystem und eine umfassende Mutterschaftsversicherung.

Die einzelnen Sozialwerke sind in unserem Lande zu verschiedenen Zeiten entstanden. Sie unterscheiden sich sowohl in der Erfassung der Versicherten wie auch in ihren Leistungen und Beiträgen. Die Unterschiede führen zu mannigfaltigen Koordinationsproblemen.

4.1
Der SGB verlangt deshalb dringlich eine Ueberpüfung des Gesamtkonzepts der Sozialen Sicherheit mit dem Ziel, dieses ohne Abbau zu vereinheitlichen, zu vereinfachen und auszubauen. Der Entwurf zu einem Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hat dies im rechtlichen Bereich sicherzustellen. Darüber hinaus aber müssen die Sozialwerke materiell so harmonisiert werden, dass sie umfassend schützen. Lücken beim Uebergang von der einen zur andern Versicherung sind zu eliminieren.

4.2
Der SGB fordert zudem die seit November 1945 in der Bundesverfassung verankerte Mutterschaftsversicherung, welche nicht nur die Krankenpflege- und Vorsorgeleistungen für Mutter und Kind sicherstellt, sondern auch die Einkommenseinbussen während des Mutterschaftsurlaubs von mindestens 16 Wochen und - im Interesse des Kindes - während eines Elternurlaubs für Mutter oder Vater von mindestens neun Monaten Dauer abdeckt.


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5. Renten, die zum Leben reichen

Einen Eckpfeiler der sozialen Leistungen bilden die Rentenzahlungen an Betagte, Invalide und Hinterlassene. Sie stellen monatlich wiederkehrende Zahlungen als Dauerersatz für ein ausbleibendes oder dauernd vermindertes Erwerbseinkommen dar.

In der Höhe haben die Renten sicherzustellen, dass den Rentenbezügern der ungefähr gleiche Lebensstandard gesichert bleibt wie den Erwerbstätigen. Dabei ist mit höheren Mindest- und Kleinrenten sowie einer Plafonierung bei hohen Einkommen ein sozialer Ausgleich herbeizuführen.

Die staatliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge hat - wie das die Bundesverfassung vorschreibt - allen Betroffenen existenzsichernde Leistungen zu garantieren. Die berufliche Vorsorge hat flexibel zusätzliche Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzudecken.

5.1
Der SGB fordert den Ausbau von AHV und IV zur existenzsichernden Grundversicherung für alle. Bei kleinen Einkommen hat sie die Rolle einer "Volkspension" zu übernehmen. Die berufliche Vorsorge ist als Zusatzversicherung auszugestalten. Der SGB setzt beim Zusammenspiel 1. und 2. Säule auf seine Volksinitiative zum Ausbau von AHV und IV.

5.2
Auch beim Rentenalter haben sich die Sozialwerke an den Bedürfnissen der Betroffenen zu orientieren. Zu verfolgen ist die Idee der Ruhestandsrente, die eine echte Flexibilität beim Rentenalter ermöglicht.


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6. Vorübergehende Ausfälle voll ersetzen

Einen andern Eckpfeiler des sozialen Schutzes bilden die Taggelder. Sie gelangen dann zur Auszahlung, wenn das Erwerbseinkommen vorübergehend ganz oder teilweise ersetzt oder wegen vorher nicht vorhandener Belastungen (z.B. Anstellung einer Haushalthilfe) vorübergehend aufgestockt werden muss.

Da die Ausgaben eines Versicherten bei zeitweiser Erwerbseinbusse ungeschmälert weiterlaufen, sind die Taggelder so anzusetzen, dass kein Einkommensausfall entsteht. Es muss auch die Erhaltung der Ansprüche an andere Sozialversicherungseinrichtungen gesichert bleiben.

Die Taggelder sind nicht nur dann auszurichten, wenn der Versicherte selber erkrankt, verunfallt oder arbeitslos wird, sondern auch, wenn die Pflegeverpflichtung gegenüber einem Familienangehörigen eine vorübergehende Erwerbsaufgabe bedingt.

6.1
Der SGB fordert dringlich die Schaffung einer obligatorischen Taggeldversicherung bei Krankheit, die auch Pflegeverpflichtungen gegenüber Familienangehörigen entgilt. Der SGB setzt dabei auf seine Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung".

6.2
Die Taggelder der Arbeitslosenversicherung sind langfristig und ohne Kürzungen zu gewähren. Aeltere Arbeitslose müssen die Gewissheit haben, dass sie allenfalls bis zum Ruhestand von der Arbeitslosenversicherung geschützt werden.


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7. Dem neuen Rollenverhalten anpassen

Entsprechend den gesellschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen zur Zeit ihrer Schaffung, sind die Sozialwerke stark auf die Erwerbstätigen und dabei einseitig auf den Mann ausgerichtet. Dieses Gesellschaftsbild hat sich inzwischen tiefgreifend verändert. Das bisherige Rollenverhalten zwischen Mann und Frau löst sich auf. Die Grenzen der einzelnen Lebensphasen - Schule, Ausbildung, Berufsausübung, Ruhestand - werden fliessend. Am Arbeitsplatz ist nicht mehr Betriebstreue und Erfahrung zuvorderst verlangt, sondern Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit. Darauf nehmen die Sozialwerke bislang kaum Rücksicht.

7.1
Der SGB verlangt in allen Sozialwerken für Frauen und Männer - unbeschadet des Zivilstandes - einen eigenständigen Anspruch auf Leistungen.

7.2
Veränderungen im Erwerbsleben und im Erwerbsverhalten dürfen in den Sozialwerken weder zu Anspruchslücken noch zu einem Leistungsabbau führen. Die Sozialwerke haben neuen gesellschaftlichen Normen zu entsprechen und sind überall voll durchlässig, d.h. ohne Einschränkung der Freizügigkeit, auszugestalten.


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8. Mehr Lasten bedingen mehr Leistungen

Invalide und Hilflose haben auch im materiellen Bereich Lasten zu tragen, die Gesunden unbekannt sind. Diese Zusatzbelastungen sind auszugleichen.

8.1
Der SGB verlangt für behinderte und hilflose Menschen ein Zulagensystem, das ihnen die materiellen Zusatzlasten ausgleicht.

8.2
Die Ergänzungsleistungen sind so auszubauen, dass auch der Aufenthalt in einem Pflegeheim über einen Rechtsanspruch auf Leistungen abgedeckt ist und diese Personen nicht der Fürsorge obheim fallen.


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9. Familienzulagen von der Erwerbsarbeit abkoppeln.

Kinder bedeuten Mehrauslagen und zumeist auch Verzicht oder Einschränkung der Erwerbsarbeit für die Mutter oder den Vater. Bei Alleinerziehenden kumulieren sich Mehrauslagen und Einkommensbeschränkung. Ein modernes Familienzulagensystem hat dem Rechnung zu tragen und dient so nicht nur den Eltern sondern auch den Kindern, die vor allem während der ersten Lebensjahre auf Betreuung und Geborgenheit angewiesen sind.

Alleinerziehende Mütter und Väter tragen eine ungleich grössere Verantwortung für ihre Familien. Ein oft kleines Einkommen muss für den Unterhalt reichen. Einelternfamilien leben oft am Rande des Existenzminimums. Soziale Zulagen müssen diese besonders schweren Lasten berücksichtigen.

9.1
Der SGB verlangt ein Familienzulagensystem, das eidgenössisch aufgebaut ist, zivilstandsunabhängig ausgestaltet ist und die Leistungen unabhängig von Erwerbsarbeit und unbekümmert vom Aufenthaltsstatus einer Fremdarbeiterin oder eines Fremdarbeiters garantiert.

9.2
Die Kinderzulagen sind so anzusetzen, dass sie die effektiv entstehenden Kosten der Kinderbetreuung abdecken.

9.3
Für alleinerziehende Personen sind Sonderzulagen vorzusehen, welche die Betreuung von Kleinkindern neben der noch möglichen Erwerbsarbeit sicherstellen.


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10. Gesund werden ohne finanzielle Sorgen

Bei Krankheit und Unfall haben die Menschen ein Recht auf eine optimale Gesundheitspflege mit Kostendeckung durch die Sozialversicherungen. Nur die Art und Schwere der Krankheit dürfen über die Behandlungsmethoden und die Spitalunterbringung entscheiden, nicht aber die wirtschaftliche Situation oder die soziale Stellung der Betroffenen. Der Schutz der Persönlichkeit der Patienten muss ausgebaut werden, beispielsweise durch grössere Transparenz in den Behandlungsmethoden, durch das Recht auf Akteneinsicht und durch eine bessere rechtliche Stellung gegenüber den Medizinalpersonen.

Im Gesundheitswesen drängt sich eine Verschiebung des Schwergewichts von der behandelnden auf die präventive Medizin auf. Ebenso die Ausweitung des Krankheitsbegriffs auf psychische und psychosomatische Leiden. Die Pflege zu Hause ist, wenn immer möglich, der Pflege im Spital vorzuziehen.

10.1
Der SGB fordert das Obligatorium auf Bundesebene in der Krankenversicherung verbunden mit verbesserten Leistungen bei der Uebernahme psychosomatischer Leiden, sowie einem Ausbau Richtung stärkere Prävention und unter Einbezug spitalexterner sowie alternativer Behandlungsmöglichkeiten. Es soll zudem eine Harmonisierung der Beiträge angestrebt werden (keine Kassen- und kantonale Unterschiede). Der SGB setzt voll auf seine Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung".

10.2
Der SGB verlangt zudem eine Verbesserung der Patientenrechte und der Haftpflichtansprüche bei den von Medizinalpersonen verursachten Schädigungen.


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11. Auf die eigenen Füsse stellen

Aufgabe der Sozialwerke muss auch sein, von Notständen Betroffene neu oder wieder dem Erwerbsleben zuzuführen und damit ihre Abhängigkeit überwinden zu helfen. Die Wiedereingliederung darf aber nicht nur der Wiedererlangung der Erwerbstüchtigkeit dienen. Ebenso wichtig ist es, Betroffenen jene Massnahmen und Hilfsmittel zukommen zu lassen, die ihnen die gesellschaftliche Kontaktnahme wieder ermöglichen oder erleichtern. Wiedereingliederung setzt nicht nur die Berücksichtigung der Eignung von Betroffenen voraus, sondern ebensosehr ihrer Neigungen.

Zur Wiedereingliederung gehören auch Massnahmen, die Personen ohne körperliche oder seelische Schäden zugute kommen, um sie nach Erwerbspausen wieder einer angemessenen Berufstätigkeit zuzuführen.

11.1
Der SGB verlangt von der Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherung eng koordinierte Wiedereingliederungsmassnahmen, die dem Wiedereinstieg sowohl ins Erwerbsleben oder in die Hausarbeit wie auch der gesellschaftlichen Kontaktnahme dienen.

11.2
Die Arbeitslosenversicherung hat den Wiedereinstieg nach Erwerbspausen zu fördern, wobei Eignungen und Neigungen gleichermassen zu berücksichtigen sind. Das Angebot ist allen Personen zuzugestehen, nicht nur solchen, die sich in wirtschaftlichen Notlagen befinden. In der Arbeitslosenversicherung sind alle schikanösen Bestimmungen, welche Betroffene bevormunden - z.B. die Forderung nach Beweisen der Stellensuche, wo gar kein Angebot besteht - zu eliminieren.


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12. International ausgestalten

Europa und sogar die Welt wachsen immer enger zusammen. Die Menschen überschreiten die Grenzen und suchen in fremden Ländern ihr Auskommen. Auch für sie genügt das Einkommen allein nicht. Ebensowenig der soziale Schutz in nur einem Land. Die Sozialwerke sind international aufeinander abzustimmen, um Lücken beim Wechsel des Arbeitsplatzes und des Wohnortes über die Landesgrenzen hinweg zu vermeiden.

12.1
Der SGB fordert die Ausmerzung aller diskriminierenden Bestimmungen in den Sozialwerken zuungunsten von Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeitern. Personen, die als Ausländerinnen und Ausländer unseren Sicherungssystemen nur zeitweise angehören, ist überall ein anteilmässiger Schatz zu garantieren.

12.2
Der SGB verlangt dringlich die Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta, des Europäischen Uebereinkommens über Soziale Sicherheit und der revidierten Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit durch die Schweiz, sowie ein Abstimmen unserer Sozialrechte auf neue europäische Bestrebungen.


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13. Es darf auch etwas kosten

Es wird heute vielfach behauptet, der "Sozialstaat Schweiz" habe seine Grenzen erreicht. Vergleicht man unsere Aufwendungen für soziale Schutzsysteme mit jenen anderer Länder, zeigt sich, wie unbegründet diese Aussage ist. Es drängt sich lediglich eine Kostenumverteilung zulasten von Mitteln der öffentlichen Hand auf, da die Bedeutung der Erwerbstätigkeit auch in unserem Lande zurückgeht und folglich die Finanzierungsmöglichkeit über Lohnbeiträge geschmälert wird.

Die Leistungen der Sozialversicherungen setzen aber auch Gegenleistungen direkt durch die Versicherten voraus. Damit wird nicht zuletzt auch der Rechtsanspruch auf Leistungen garantiert. Diese Beiträge sind aber nicht einfach entsprechend den zu erwartenden Leistungen zu bemessen; sie haben sich nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Beitragszahlenden zu richten.

Soziale Sicherheit beruht vor allem auf der Solidarität unter den Generationen. Ein Volk kann immer nur von dem leben, was gleichzeitig erarbeitet wird. Finanzierung der Sozialversicherungen bedeutet folglich Umlage von Geldern. Finanzierung durch Kapitalbildung ist nur soweit sinnvoll, als sie dem Ausgleich von Finanzierungsschwankungen dient oder - falls wünschbar -das Wirtschaftswachstum und damit höhere Sozialleistungen fördern kann.

13.1
Der SGB fordert eine höhere Beteiligung der öffentlichen Hand bei der Finanzierung der Sozialversicherungen. Die Beitragszahlungen der Versicherten haben in allen Sozialwerken - vor allem auch in der Krankenversicherung - den wirtschaftlichen Verhältnissen der Einzelnen Rechnung zu tragen. Die Arbeitgeber haben sich an den Beiträgen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beteiligen. Wirtschaftlich besonders schwache Beitragspflichtige sind zusätzlich zu entlasten oder von der Prämienzahlung zu befreien. Zudem sollen alternative Möglichkeiten der Finanzierung der Sozialversicherungen aufgrund der Wertschöpfung der Unternehmen geprüft werden.

13.2
Das direkte Heranziehen von Betroffenen mit zusätzlichen Kostenauflagen, wie z.B. Selbstbehalte in der Krankenversicherung, lehnt der SGB ab. Er stellt fest, dass diese auch keinen Einfluss auf Kostendämpfungsmassnahmen haben. Dazu bedarf es einer wirkungsvollen Kontrolle der Wirtschaftlichkeit von angeordneten Massnahmen.


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14. Vom Verwalten und vom Recht bekommen

Sozialversicherungen dienen dem Allgemeininteresse. Sie sind nicht nur nach den Grundsätzen der Gegenseitigkeit und der Gemeinnützigkeit zu betreiben, sie sind auch von effizient arbeitenden Verwaltungen durchzuführen. In der Regel hat der Staat selbst diese Aufgabe zu übernehmen, oder es sind von ihm beauftragte Selbstverwaltungseinrichtungen der Versicherten.

Zum sozialen Schutz gehört auch, dass die Versicherten über ihre Ansprüche Bescheid wissen und Entscheide nachvollziehen können. Es sind kostenlos und speditiv arbeitende Rechtswege aufzubauen, damit Versicherte rasch und durchschaubar echte oder vermeintliche Rechte abklären lassen können.

14.1
Der SGB verlangt, dass die Sozialversicherungseinrichtungen überbetrieblich aufgebaut werden, um Abhängigkeiten vom Arbeitgeber zu durchbrechen. Sie müssen von Organen verwaltet sein, in denen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten sind und die den Versicherten gegenüber zu offener und nachvollziehbarer Information verpflichtet sind.

14.2
Für alle Sozialwerke sind einfache und einheitliche Gesetzestexte zu schaffen, verbunden mit kostenlosen Rechtswegen bis zur obersten schweizerischen Gerichtsbehörde. Die Gerichte sind zu verpflichten, sozialversicherungsrechtliche Ansprüche ohne Verzögerungen zu behandeln.


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15. Der materielle Schutz ist nicht alles

Armut ist noch immer eine Tatsache: Rund eine halbe Million Menschen leben in der Schweiz in materieller Armut. Dies hat vielfältige Ursachen, von denen das Geld nur eine, wenn auch eine wichtige, ist. Strategien gegen die Armut können sich deshalb nicht allein auf das Verteilen von Geld beschränken, sondern müssen stets zum Ziel haben, auch das soziale Netz der Betroffen wieder aufzubauen.

Konzepte für ein "garantiertes Mindesteinkommen" sind an dieser Zweckbestimmung zu messen. Deshalb wäre es verfehlt, der ganzen Bevölkerung einen einheitlichen monatlichen pro-Kopf-Betrag auszuzahlen. Ebenso ist die "negative Einkommensteuer" ein untaugliches Instrument, weil dabei Veränderungen im Erwerbseinkommen einfach eine gleich grosse Veränderung im Unterstützungsbeitrag bewirken, jeglicher Anreiz, sich ins Erwerbsleben zu wagen, also wegfällt.

Prüfenswert ist dagegen eine Form des sozialen Grundeinkommens, bei der das Erwerbseinkommen nur zu einem Teil angerechnet wird. Steigt das Erwerbseinkommen, vermindert sich der Unterstützungsbeitrag nicht im gleichen Umfang - die betroffene Person verfügt dank eigener Leistung insgesamt über etwas mehr Einkommen. Dieser Mechanismus existiert bereits im Bereich der Ergänzungsleistungen, welche ungenügende Renteneinkommen aufbessern.

Die materielle Sicherstellung der von Notständen Betroffenen ist die eine Seite der Vorsorge. Daneben leiden viele Betroffene unter Aengsten, Vereinsamung, Abhängigkeiten, die nicht vorab finanziell überwunden werden können. Hier bleibt ein weites Feld für menschliche Betreuungsaufgaben, die von den Sozialversicherungen unterstützt werden können.

15.1
Der SGB erwartet, dass die Sozialversicherungen die Bemühungen staatlicher oder gemeinnütziger Organisationen, die Betreuungsaufgaben wahrnehmen, wirksam fördern helfen und finanziell unterstützen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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