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II. DAS ARBEITSVERHÄLTNIS



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1. Arbeiten um besser zu leben

Der Ausdruck "Arbeitsmarkt" bezeichnet einerseits einen Tatbestand und steht andererseits für einen Mythos.

Der Tatbestand: die bedenkliche Realität eines Wirtschaftssystems, das die menschliche Arbeit - oder besser: einen Teil davon - in eine Ware verwandelt. Lohnabhängige erzielen ihr Einkommen durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft. Die Güter, die sie für ihren Lebensunterhalt benötigen, sind ebenfalls zu Waren geworden. Dadurch wird die "Gratisarbeit", etwa jene der Hausfrauen, der Frauen, die Kinder aufziehen oder Alte und Behinderte betreuen, der unbezahlten Helfer und Helferinnen im Sozialwesen, entwertet, obwohl insgesamt weit mehr Arbeit "gratis" als gegen Lohn geleistet wird. Diese wirtschaftliche und soziale "Wertlosigkeit" der Gratisarbeit bekräftigt die geschlechtsbedingte Teilung der Rollen und der Macht.

Der Mythos: Die Marktkräfte bestimmen und regeln angeblich den Preis der Arbeitskraft optimal. Doch der Arbeitsmarkt befindet sich keineswegs im Gleichgewicht. Er ist fragmentiert und voller Widersinn. Der Arbeitsmarkt funktioniert im allgemeinen zuungunsten der Anbieter und Anbieterinnen von Arbeitskraft und der Stellensuchenden. Er diskriminiert bestimmte Gruppen, für die nur beschränkte Marktsegmente offenstehen, automatisch: Frauen (sie müssen - weil noch immer nichts Wirksames dagegen unternommen wird - mit kleineren Löhnen vorlieb nehmen, um überhaupt Arbeit zu finden), Saisonniers (sie dürfen für die "Saison" keinen besseren Arbeitsplatz suchen, weil sie sonst Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis verlieren. Sie können sich auch nicht um einen Arbeitsplatz in einem "Nicht-Saisonbetrieb" bewerben, bevor sie das Statut eines Jahresaufenthalters erhalten haben). Dem Arbeitsmarkt fehlt ferner die Transparenz, weil Dritten der Lohn selten bekannt wird. Nur soviel steht fest: je niedriger der Lohn, um so mehr Arbeitsstunden müssen für ein ausreichendes Einkommen geleistet werden.

Die Gewerkschaftsbewegung ist zugleich der Protest gegen die Verdinglichung der menschlichen Arbeit und die Antwort auf das Versagen des Arbeitsmarktes. Um dem Kräfteungleichgewicht zwischen Unternehmern und Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern entgegenzuwirken, müssen die Bedingungen für den Verkauf der Arbeitskraft (in erster Linie der Arbeitslohn) kollektiv und nicht individuell festgelegt werden. Es braucht dafür auch ein System der Kontrolle und der Korrektur zugunsten des schwächeren Vertragspartners (gesetzliche Lohnzahlungsverpflichtung im Krankheitsfall, Prinzip des gleichen Lohnes für gleichwertige Arbeit von Mann und Frau, Schutz der Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen).

Auf Seiten des Gewerkschaftsbundes sind Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge ausschliesslich Sache der Einzelverbände. Sie müssen in internen, demokratisch geführten Diskussionen die Leitlinien für ihre Lohnpolitik festlegen. Aufgabe der Dachorganisation, des SGB, wiederum ist es, die Tätigkeit der Verbände zu unterstützen: durch Konjunkturanalysen und Erfahrungsaustausch mit und unter den Verbänden. Die Dachorganisation ist auch zuständig für die Durchsetzung der gewerkschaftlichen Forderungen bezüglich gesetzlicher Rahmenbedingungen.

Die mittelfristigen Ziele des SGB (seiner Verbände, was die Lohnverhandlungen anbelangt, der Dachorganisation bezüglich der Rolle, die dem Staat zukommt) lauten:

1.1
Die Lohnempfänger und Lohnempfängerinnen müssen im voraus wissen, über welches Einkommen sie verfügen, damit sie ihre Ausgaben planen können und nicht in Situationen geraten, in denen ihre Einkünfte für die laufenden Verpflichtungen nicht mehr ausreichen. Der Monatslohn muss die allgemeine Regel sein.

1.2
Jede unselbständige Beschäftigung muss mindestens so entlöhnt werden, dass sie ermöglicht, unabhängig und ohne Verzicht auf minimalen Komfort zu leben. Die Gesundheit, die soziale Integration und der Zugang zu Bildung, Weiterbildung und Kultur dürfen dabei nicht beeinträchtigt werden. Um diesen Forderungen zu genügen, kämpfen die Gewerkschaften gemeinsam gegen zu niedrige Löhne an.

1.3
Der Verfassungsgrundsatz, wonach Frau und Mann für gleichwertige Arbeit Anspruch auf gleichen Lohn haben, ist dringend gesetzlich zu konkretisieren. In Rahmenbedingungen muss u.a. diskriminierten Frauen die Durchsetzung ihrer Rechte erleichtert werden (Verbandsklagerecht für Gewerkschaften und Frauenorganisationen, Kündigungsschutz für Frauen, die ihren Anspruch einklagen, Umkehr der Beweislast). Die SGB-Verbände verpflichten sich, den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit in den Verhandlungen durchzusetzen und Frauen, die Opfer einer Lohndiskriminierung sind, Rechtsschutz zu gewähren, sofern sie der Gewerkschaft beitreten.

1.4
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Anrecht auf den vollen Teuerungsausgleich. Der für einen bestimmten Zeitraum ausgehandelte Reallohn darf nicht durch einen Kaufkraftschwund geschmälert werden. Der automatische Teuerungsausgleich muss durch Gesamtarbeitsverträge und für das öffentliche Personal durch Gesetze und Besoldungsreglemente garantiert sein.

1.5
Die Lohnsysteme müssen transparenter werden: Sie müssen den Gewerkschaften bekannt gemacht werden. Dies bedingt auch die Objektivierung der Lohnunterschiede und die Mitwirkung der Betroffenen bei der Arbeitsplatz- und Funktionsbewertung. Lohnabrechnungen müssen für den einzelnen kontrollierbar sein. Der SGB betrachtet das Verbot, Dritten über den Lohn Auskunft zu geben, wie es in individuellen und Kollektivverträgen festgeschrieben ist, als widerrechtlich und nichtig. Er bekämpft es entschieden.

1.6
Der Leistungslohn ist ein falsches Instrument zur Förderung der Motivation. Die Gewerkschaften lehnen ihn darum ab. Wo Leistungslohnsysteme bereits eingeführt sind, ist der Leistungslohnanteil möglichst gering zu halten und transparent zu gestalten. Besonders problematisch sind leistungstreibende Lohnsysteme (wie z.B. Akkordsysteme), die zu übertriebenen Arbeitsrhythmen führen. Sie veranlassen die Betroffenen, über ihre physischen und psychischen Kräfte hinaus zu arbeiten und sind abzuschaffen. Die Bewertung und Bezahlung besonderer Leistungen und Verdienste ist offenzulegen und darf nicht willkürlich sein.

1.7
Das Recht der Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen auf den gleichen Lohn, den die im Betrieb Arbeitenden erhalten, muss verwirklicht und auf alle Formen der Heimarbeit ausgedehnt werden.


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2. Ueber die eigene Zeit bestimmen

Zu den härtesten Zwängen, denen die Arbeitenden unterworfen sind und die ihre Selbstbestimmung einschränken, gehören jene, die sich auf die Arbeitszeit beziehen. Der Unternehmer entscheidet nicht nur über den Arbeitstag "seiner" Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Indirekt bestimmt er auch deren Freizeit. Er beeinflusst also ihr Privatleben und das ihrer Nächsten. Nur vertragliche oder gesetzliche Schranken können die Freiheit des Unternehmers einengen, dann und so lange arbeiten zu lassen, wie er es für gut hält. Um den Arbeitenden zu ermöglichen, ihre Freizeit nach ihren Bedürfnissen zu gestalten und nicht Gefahr zu laufen, plötzlich zur Arbeit gerufen und ebenso plötzlich wieder heimgeschickt zu werden, ist weitestgehende Beständigkeit der Arbeitszeiten erforderlich. Um Uebermüdung und die damit verbundene Gefahr von Unfällen und Krankheit möglichst zu vermeiden, muss die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit verkürzt werden. Nacht- und Sonntagsarbeit sind wegen ihrer schädlichen Auswirkungen auf Gesundheit und soziale Integration auf ein striktes Minimum zu beschränken.

Im Rahmen vertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen muss Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein unantastbarer Zeitfreiraum garantiert werden. Erstrebenswert wäre es, die starren Arbeitszeitregelungen gemäss den Bedürfnissen und Wünschen der Arbeitenden "aufweichen" zu können. Solche "kleine Freiheiten" sind nötig. Sie dürfen aber nicht mit Kontrollen einhergehen, welche die Privatsphäre der Arbeitenden verletzen. Noch dürfen diese für Kurzabsenzen, die von ihrem Willen unabhängig sind, bestraft werden.

Die Teilzeitarbeit - soweit sie dem freien Willen der Betroffenen entspricht und keinerlei Diskriminierung gegenüber den "Vollzeitern" mit sich bringt - ist auf allen Stufen der Berufshierarchie zu fördern. Gegenwärtig sind Teilzeitjobs fast ausschliesslich ein "Reservat" der Frauen, und zwar vor allem von jenen, die wenig qualifizierte Tätigkeiten ausüben. Für diese Situation am Rande der Arbeitswelt haben sie einen hohen Tribut in Form von unsicheren Arbeitsplätzen und lückenhaften Ansprüchen an die Sozialversicherung zu entrichten.

Im täglichen Leben können die Frauen weit weniger frei über ihre Zeit verfügen als die Männer: Ihre Mussezeit - nach dem doppelten Tagewerk in Betrieb und Haushalt - ist beschränkter. Die Frauen müssen das Kunststück vollbringen, die fast unvereinbaren Tagesabläufe aller, die unter dem gleichen Dach wohnen, aufeinander abzustimmen. Die Arbeitszeitverkürzung, bessere Bedingungen für Teilzeitarbeit, die strikte Beschränkung der Arbeit zu Unzeiten - und auch eine bessere Koordination der Schulstundenpläne - kurz: jede kollektive Zeitgestaltung muss eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben von Männern und Frauen zum Ziel haben.

Mittelfristig erstreben die Gewerkschaften (Dachorganisation und Verbände) hinsichtlich der Arbeitszeit:

2.1
Zeit kann nicht nur in Lohnarbeitszeit und Freizeit aufgeteilt werden. Bei dieser traditionellen Zweiteilung geht die Zeit für Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit vergessen. Lohnarbeitszeiten müssen so verkürzt und gestaltet werden, dass für alle Beschäftigten Lohnarbeit, unbezahlte Arbeit und Zeit zur Musse Platz haben.

2.2
Die Arbeitszeitunterschiede von Branche zu Branche sind zu reduzieren. Erste Priorität gebührt dabei der Verkürzung langer Arbeitszeiten. Dies muss durch Verhandlungen, aber auch durch die Revision der gesetzlichen Ausnahmebestimmungen erreicht werden. Diese erlauben es ganzen Wirtschaftszweigen, eine Arbeitszeit von 45 bis 50 Wochenstunden regelmässig zu überschreiten (Verordnung 2 zum ArG). Das Arbeitsgesetz selbst muss ebenfalls revidiert werden, damit die gesetzliche Schwelle von 40 Wochenstunden festgeschrieben wird. So ist zu verhindern, dass die Ueberzeitregelung infolge des Unterschieds zwischen gesetzlicher und effektiver Arbeitszeit ihren Sinn verliert. Durch Gesamtarbeitsvertragsverhandlungen muss die Schweiz ihre Wochenarbeitszeiten beschleunigt den in Europa üblichen anpassen. Die vom Europäischen Gewerkschaftsbund geforderte 35 - Stunden-Woche muss kontinuierlich und ohne Lohneinbussen auf dem Wege der Gesamtarbeitsverträge eingeführt werden. Es ist dies ein wichtiges Ziel am Ende dieses Jahrhunderts.

2.3
Die Feriendauer ist weiter zu verlängern. Die in der Arbeit verbrauchten physischen und psychischen Kräfte müssen zurückgewonnen werden können. Diese und die Vielfalt der individuellen Neigungen und Interessen verlangen längere Arbeitsunterbrüche. Die Gesamtarbeitsverträge müssen ein Minimum von fünf Ferienwochen rasch zum Allgemeingut machen. Ab einem bestimmten Alter sollten jährlich zweimal Ferien von einer Gesamtdauer von mindestens sechs Wochen üblich werden. Der Uebertritt von der Schule ins Berufsleben ist durch eine geeignete Ferienregelung zu erleichtern. Neben den Ferien müssen für Erziehungs- und betreuungspflichtige Frauen und Männer Möglichkeiten für bezahlten Urlaub geschaffen und ausgebaut werden (Mutterschaftsurlaub, Elternurlaub, Urlaub zur Pflege kranker Angehöriger, etc.).

2.4
Teilzeitbeschäftigte haben Anrecht auf gleiche Arbeitsbedingungen (Salär, Ueberzeitzuschläge, Ferien, Sozialversicherungsansprüche, Arbeitsplatzsicherheit) wie "Vollzelter". Wird ein Arbeitsplatz unter zwei oder mehreren Personen aufgeteilt, darf der Arbeitgeber nicht einer davon die Verantwortung für dessen ständige Besetzung aufbürden. Mit anderen Worten: Das Job- Sharing beinhaltet keine Verpflichtung, für den Partner einzuspringen, falls dieser nicht arbeiten kann. Der Arbeitsplatz des einen Partners darf nicht gefährdet werden, wenn der andere die Stelle aufgibt.

2.5
Die unumgängliche Schichtarbeit soll durch eine 10- bis 20%ige Kürzung der wöchentlichen Arbeitszeit honoriert werden. Die Mitbestimmung beim Festlegen und beim Anpassen der Schichtpläne soll gewahrt werden, sowie die Freiheit, die Schicht bei rechtzeitiger Vorankündigung wechseln zu dürfen. Aus sozialen und gesundheitlichen Gründen ist der Rückgang zu erleichtern. Den Arbeitenden, die zu normalen Stundenplänen wechseln, sind die nötigen Umschulungs- und Einstiegsmöglichkeiten zu gewähren. Die Betriebe haben die Kosten für die Wiedereingliederung der Arbeitnehmer zu übernehmen, die keine Schichtarbeit mehr leisten wollen.

2.6
Es sind nur Arbeitszeitformen zu fördern, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, ihre Arbeits- und Freizeit längerfristig zu planen. Sind aus zwingenden wirtschaftlichen Gründen (z.B. Saisonbetriebe) variable Arbeitszeiten vorgesehen, müssen sich die Abweichungen in einem bestimmten Rahmen halten. Gegen Aenderungen der Arbeitszeit muss von der Personalvertretung (Betriebskommission oder Gewerkschaft) das Veto eingelegt werden können. Die Betroffenen sind rechtzeitig zu informieren.

2.7
Das Verbot von Nacht- und Sonntagsarbeit ist beizubehalten. Die Gesuche um Ausnahmen sind streng zu prüfen. Nachtarbeit darf nur bewilligt werden, wenn ihre gesellschaftliche oder technische Notwendigkeit erwiesen ist und die Bewilligung mit der Zustimmung der zuständigen Gewerkschaft erfolgt. In diesem Falle müssen die Arbeitsbedingungen verbessert werden, um die Schädlichkeit der Arbeit zu Unzeiten nach Möglichkeit in Grenzen zu halten. Gegenüber der Normalarbeitszeit ist die Arbeitsdauer massiv zu verkürzen. Zeitkompensationen müssen innerhalb von drei Monaten erfolgen. Aerztliche Ueberwachung, Transport- Erleichterung, Verpflegung müssen gesichert sein. Die Schweiz muss während der ganzen 90er Jahre die Verpflichtung einhalten, die ihr das Abkommen 89 der IAO auferlegt: das Verbot der Nachtarbeit von Frauen in der Industrie. Der SGB wehrt sich gegen dauernde Sonntags - und/ oder Nachtbeschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.


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3. Arbeitsverhältnisse müssen sicher sein

Die Berufsarbeit ist Mittel, um Fähigkeiten und fachliche Kompetenz zu erwerben und zu mehren. Sie ist die Quelle sozialer Integration und Anerkennung. Die Verbundenheit der Grosszahl der Arbeitenden mit "ihrem" Betrieb geht einher mit dem Bedürfnis, ihrer Berufstätigkeit einen Sinn zu geben.

In Anbetracht dieser existentiellen Bedeutung der Berufsarbeit erstreben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen möglichst stabilen, sicheren Arbeitsplatz. Fatalerweise werden die Arbeitsverhältnisse leider zunehmend unsicherer. Besonders betroffen davon sind die Frauen, die Ausländer, wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Der Ruf nach "Flexibilisierung" verrät einerseits diese Tatsachen und andererseits die Absicht, die gesetzlichen und vertraglichen Schranken gegen die Unsicherheit der Arbeitsplätze niederzureissen. Der SGB will sich vermehrt für eine grössere Sicherheit der Arbeitsplätze einsetzen.

3.1
Die Revision der Kündigungsklauseln des Arbeitsvertrages (OR) in den 80er Jahren hat nicht zu einem befriedigenden Ergebnis geführt. Der SGB ist der Ansicht, eine missbräuchliche Kündigung müsse nichtig und die "Wiedereinstellung" des Opfers die Regel sein. Eine neue Revision des OR muss in den 90er Jahren eingeleitet werden, und es ist der Grundsatz einzuführen, es brauche einen triftigen Grund, um eine Kündigung zu rechtfertigen. Namentlich müssen Kündigungen gegenüber Arbeitnehmerinnen, die ihre Rechte vor Gericht erstreiten, unterbunden werden. Das Prinzip des gegenseitig und gleich zu gewährenden Schutzes für Arbeitgeber und Beschäftigte beschränkt die Freiheit der Beschäftigten, ihre Stelle zu wechseln. Es muss abgeschafft werden.

3.2
Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen müssen der Gewerkschaft und den zuständigen Behörden vorher angekündigt werden. Verhandlungen über die Möglichkeit, sie zu vermeiden, sowie über Massnahmen, welche die Nachteile für die allenfalls Betroffenen mildern, müssen zur Regel werden. Dabei ist in erster Linie darauf hinzuwirken, dass das Personal durch Umschulung seinen Arbeitsplatz im Unternehmen behalten kann.

3.3
Befristete Arbeitsverträge müssen auf Stellvertretung für vorübergehend Beurlaubte und Praktika während der Ausbildung beschränkt werden. Sind diese Voraussetzungen nicht mehr oder nicht mehr voll erfüllt und werden die Betroffenen weiterbeschäftigt, so sind sie dem Stammpersonal gleichzusetzen. Dies muss vor allem durch entsprechende Klauseln in den Gesamtarbeitsverträgen und durch Kontrollen in den Betrieben gesichert werden. Die ungesetzliche Praxis der "Kettenverträge" ist aufzudecken und abzuschaffen.

3.4
Temporärarbeitsverträge, mittels welcher spezialisierte Firmen Personal an Dritte verleihen, bergen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzliche Risiken. Ungenügende Ansprüche gegenüber der Sozialversicherung, lückenhafter Unfallschutz, erleichterte Kündigung sind Beispiele dafür. Solche Dreiecksverhältnisse entbinden die Unternehmer nicht von ihrer Verantwortung. Einerseits ist die Aufsicht über die Temporärfirmen zu verstärken. Das ist vor allem eine staatliche Aufgabe, für welche das Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG) die nötigen Handhaben bietet. Dieses auf 1. Juli 1991 in Kraft getretene Gesetz muss jetzt seine Wirksamkeit beweisen. Wahrscheinlich wird es schon bald revidiert werden müssen. Der SGB wird dabei fordern, dass die Temporärfirmen Gesamtarbeitsverträge und für das Stammpersonal geltende Arbeitsbedingungen einzuhalten haben. Die Verbände führen in allen Gesamtarbeitsverträgen, die sie abschliessen, einen Artikel ein, der die Anwendung der gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorschreibt, die über eine Temporärfirma eingesetzt worden sind. Sie fordern, dass nach einer Beschäftigung von mehr als 6 Monaten die betreffenden Temporärarbeitnehmer oder - arbeitnehmerinnen fest angestellt und dem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt werden.

3.5
Wir sind vermehrt mit neuen, als "zeitgemäss" deklarierten Einstellungen konfrontiert. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie das Risiko von Konjunkturschwankungen auf die Beschäftigten abwälzen. Sie verlangen von ihnen eine sozusagen totale Verfügbarkeit: beispielsweise Arbeit auf Abruf oder ein Job–Sharing mit der Verpflichtung, im Absenzfall eines Partners für Ersatz zu sorgen. Wer unter diesen Umständen arbeiten muss, verfügt weder über geregelte Freizeit noch über ein sicheres Salär. Solche Vertragsformen sind daher zu verwerfen.


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4. Persönlichkeit und Menschenwürde schützen

Die Unterordnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben wird heute als natürlicher Zustand betrachtet, den die Gesetzgebung bestätigt. Der Unternehmer erteilt die Anordnungen. Er entscheidet darüber, wo und in welcher Umgebung sich der Arbeitsplatz zu befinden hat. Er bestimmt auch über die Hierarchie im Betrieb und ordnet an, wer mit wem zu arbeiten hat. Er hat die Möglichkeit, Informationen über das Privatleben, den beruflichen Werdegang und den Gesundheitszustand seiner Untergebenen zu sammeln. Die Entwicklung der Ueberwachungs- und Datenerfassungstechnik erhöht die Gefahr, dass die Privatsphäre verletzt wird. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist eine häufige und für die betroffenen Frauen sehr verletzende und erniedrigende Missachtung ihrer persönlichen Integrität. Sexuelle Belästigung trägt zur Zementierung der herkömmlichen Machtstrukturen bei, unabhängig davon, ob der Täter ein Vorgesetzter, ein Kollege, ein Untergebener oder ein Kunde ist.

Der SGB setzt sich für eine rigorosere gesetzliche Verpflichtung des Unternehmers ein, über den Schutz der Persönlichkeit der von ihm Beschäftigten zu wachen. Die Verbände setzen sich zum Ziel, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über ihre Rechte zu informieren. Sie helfen ihnen, diese auch durchzusetzen.

Zur Persönlichkeit und zur Menschenwürde gehören auch die Berufserfahrung und das Fachwissen, sowie kulturelle Eigenarten.

4.1
Die Persönlichkeitsrechte müssen sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich durch den Datenschutz gewährleistet sein. Das Verbandsklagerecht soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern helfen, die über sie gesammelten Daten einzusehen und diese gegebenenfalls zu korrigieren. Das OR muss das Recht des Arbeitgebers, Daten zu sammeln, auf das für den Abschluss eines Arbeitsvertrages und für die verlangte Leistung unumgängliche Minimum beschränken. Beim Aufbau und bei der Kontrolle betrieblicher Informationssysteme müssen Gewerkschaften und Betriebskommissionen mitbestimmen können.

4.2
Der Schutz der Persönlichkeit darf nicht nur durch Privatrecht gesichert sein. Er ist vielmehr auch im öffentlichen Recht (ArG) zu verankern. Damit wird u.a. ermöglicht, gegen elektronische Ueberwachung wirksam einzuschreiten.

4.3
Das Problem der sexuellen Belästigung darf nicht länger ein Tabu bleiben. Sie muss im Betrieb selbst und vor Gericht bekämpft werden. Die Verbände setzen sich für Schutzklauseln in Personalreglementen und Gesamtarbeitsverträgen ein. Sie bauen das Netz von Anlaufstellen für betroffene Frauen innerhalb der Verbände auf und unterstützen Frauen, die sich gegen Uebergriffe wehren. Der SGB setzt sich für griffige Rechtsnormen in der schweizerischen Arbeitsschutzgesetzgebung und für einen umfassenden Kündigungsschutz für klagende Frauen ein.

4.4
Dieselben Massnahmen sind nötig, um allen Angriffen auf die Würde der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie allen Aeusserungen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöser Intoleranz zu begegnen.


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5. Gesundheit und Wohlbefinden schützen

Seit langem ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, "zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer alle Massnahmen zu treffen, [...] die nach dem Stand der Technik anwendbar sind". Aber in der Praxis hinkt die Beachtung von Gefahrenquellen der technischen Entwicklung hintennach. Die Mitwirkung der Betroffenen bei den Vorbeugemassnahmen wird nicht gefördert. Im weiteren gilt immer noch eine äusserst einschränkende Definition der Gesundheit ("nicht krank sein" oder gar "Fehlen schwerwiegender Gesundheitsstörungen"). Was aber so weit wie immer möglich angestrebt werden muss, ist das physische, psychische und soziale Wohlbefinden der Arbeitenden.

Die Arbeitsmedizin kommt nach wie vor in Lehre, Forschung und Praxis zu kurz.

5.1
Die universitäre Lehre und Forschung auf dem Gebiete der Arbeitsmedizin müssen intensiviert und weiterentwickelt werden.

5.2
Eine Politik, die Unfälle und Krankheit verhüten will, darf sich nicht nur auf die herkömmlichen Risiken beziehen. Sie muss vielmehr das in den neuen Techniken enthaltene Gefahrenpotential einbeziehen. Dies gilt für entsprechende Massnahmen der Betriebe, der SUVA und der Arbeitsinspektorate.

5.3
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen bei der Einführung von Gesundheits- und Unfallschutzmassnahmen im Betrieb mitwirken können. Wo Gefährdungen bestehen, sind paritätische "Gesundheits- und Sicherheitskommissionen" zu schaffen oder, wo vorhanden, nötigenfalls auszubauen. Das Personal ist über Gefahrenquellen ständig zu informieren und für den eigenen Schatz zu sensibilisieren.

5.4
Zur Beratung der Gesundheits- und Sicherheitskommissionen sind in grösseren Betrieben Sicherheitsfachleute und Arbeitsärzte von Gesetzes wegen einzustellen. Für kleinere Betriebe und für Gewerbezweige mit entsprechenden Gefahrenmomenten sind entsprechende überbetriebliche ärztliche Dienste zu schaffen. Gesetzlich zu gewährleisten ist auch die Unabhängigkeit der Sicherheitsfachleute und der Arbeitsärzte von den Betrieben und Unternehmen.

5.5
Die Arbeitsmedizin und die Unfallverhütung am Arbeitsplatz sind auszubauen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen Zugang erhalten zu arbeitsmedizinischen Beratung, zum Vergleich mit eigenen Vorkehren geben.

5.6
Die Erkenntnisse der Ergonomie sind strikt einzuhalten. Auch der Kampf gegen die Monotonie, die soziale Isolation, die Ermüdung, die Ueber- oder Unterforderung, gegen Tätigkeiten, welche die Körperkräfte verschleissen, gegen schädigende Körperhaltungen, Lärm, gegen unangenehme Temperaturen und Beleuchtung muss das Wohlbefinden der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Ziel haben.


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6. Schwangerschaft und Mutterschaft besser schützen

Schwangerschaft und Mutterschaft erfordern einen besonderen Schutz. Einerseits soll jeder Frau unabhängig von ihrer beruflichen Situation das Recht sicher sein, das Kind, mit dem sie schwanger geht, gesund zur Welt zu bringen. Andererseits haben die Entwicklungschancen des Kindes so gut wie nur möglich zu sein. Wir wissen, dass gewisse Tätigkeiten häufig zu Früh- und Fehlgeburten führen. Dass Schwangere je nach ihrer Berufssituation in ungleichem Masse gefährdet sind und Kinder deswegen mit ungleichen Entwicklungsrisiken zur Welt kommen, ist skandalös. Es muss alles unternommen werden, um solche Ungleichheiten so weit wie nur möglich auszuschalten. Die Sozialversicherungen müssen die ständige medizinische Kontrolle der Schwangerschaft, die Kosten der Geburt und des Mutterschaftsurlaubes übernehmen (s. Kapitel IV). Aber der Betrieb hat die Verantwortung für den Schutz der Schwangeren am Arbeitsplatz zu tragen. Gesamtarbeitsverträge genügen nicht, um allen Frauen ihre Grundrechte zu sichern. Das Gesetz - Arbeitsgesetz und OR - hat hier Lücken zu schliessen. Folgende Massnahmen müssen zwingend und so rasch als möglich ergriffen werden:

6.1
Während der Schwangerschaft und einer bestimmten Dauer, die das Arbeitsverbot nach der Niederkunft übersteigt, müssen die Frauen von beschwerlichen Arbeiten und Schichtzeiten befreit werden. Unter anderem sind Körperhaltung, Gewichtslasten, Strahlenbelastung grösste Aufmerksamkeit zu schenken.

6.2
Den Frauen muss ein Mutterschaftsurlaub von mindestes 16 Wochen garantiert sein, auch wenn sie ihre bisherige Stelle kündigen. Mangels eines entsprechenden Versicherungsschutzes ist der Arbeitgeber zur Lohnzahlung während dieser Periode verpflichtet. Die Arbeitnehmerin muss danach wieder den vor der Schwangerschaft innegehaltenen oder einen gleichwertigen Posten einnehmen können.


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7. Familienpflichten berücksichtigen

Die Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ständig zwischen Berufs- und Familienpflichten hin- und hergezerrt werden, ist gefährdet. Dem Arbeitgeber dürfen die Verpflichtungen, die "seine" Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Privatleben zu erfüllen haben, nicht gleichgültig sein. Der Arbeitsvertrag bindet ihn an eine Person, die ihre Sorgen nicht einfach an der Betriebsgarderobe deponieren kann. Familienpflichten - eine gesetzliche Verpflichtung - können gelegentlich unverschuldete Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Offensichtlich sind gewisse Gesetzesbestimmungen für den Schutz der Frauen zugleich Familienschutzbestimmungen. Es ist Zeit, sie unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung von Mann und Frau für gemeinsame Erziehungs- und Betreuungsaufgaben (auch gegenüber pflegebedürftigen Hausgenossen) dem neuen Eherecht anzupassen. Auch die lokalen Behörden haben die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienpflichten im Rahmen des Möglichen zu erleichtern.

7.1
Mittelfristig ist für die der Geburt folgenden 9 Monate ein Recht auf Elternurlaub anzuerkennen und von einer Sozialversicherung abzudecken. Frau und Mann entscheiden frei über die Teilung des Elternurlaubes.

7.2
Der Vater hat Anrecht auf Geburtsurlaub. Bei Erkrankung eines Kindes können der Vater oder die Mutter ohne Lohneinbusse der Arbeit fernbleiben.

7.3
Die Lokalbehörden müssen Einrichtungen für die soziale Betreuung und die Erziehung von Kleinkindern bereitstellen (etwa Krippen, Horte, Kindergärten, Tagesmütter). Sie haben die Stundenpläne der Schulen zu harmonisieren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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