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[Seite der Druckausgabe: 11 / Fortsetzung]


2. Tendenzen in Verkehr, Wirtschaft und Gesellschaft

2.1 Prämissen des BVWP ‘92

Für den BVWP ‘92 wurden Personen- und Güterverkehrsprognosen erstellt. Dabei wurde bei der Ermittlung der Verkehrsnachfrage für das Jahr 2010 angenommen, daß folgende Investitionen der geplanten Verkehrsinfrastruktur zu diesem Zeitpunkt realisiert sein werden:

  • alle Projekte des Vordringlichen Bedarfs des BVWP ’85,

  • alle Lückenschlüsse an der ehemaligen innerdeutschen Grenze,

  • die 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit und

  • die Realisierung des Nachholbedarfs in den neuen Bundesländern.

Darüber hinaus wurden im Rahmen einer Strukturdatenprognose ermittelte sozio-ökonomische und sozio-demographische Rahmenbedingungen für die Jahre 2000 und 2010 unterstellt. Das betrifft z.B. die Zahl der Einwohner Deutschlands, die Zahl der Beschäftigten, die Entwicklung des Pkw-Bestands und Annahmen zur Angleichung der Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland (durch eine höhere Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in den neuen Ländern)

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.

Diese Annahmen wurden allen im Rahmen des BVWP ’92 durchgeführten
Prognosen der Verkehrsnachfrage zugrunde gelegt. Die drei erstellten Szenarien der Verkehrsentwicklung unterscheiden sich allein hinsichtlich der angenommenen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen. Beim Trend-Szenario F wurde hinsichtlich der Ordnungspolitik und der Nutzerkosten von der Beibehaltung der damaligen Status-quo-Bedingungen ausgegangen. Für das Restriktiv-Szenario G wurden demgegenüber ordnungspolitische Maßnahmen zur gezielten Dämpfung der Expansion im Straßen- und Luftverkehr unterstellt. Mit dem moderaten Szenario H, das dem BVWP ’92 zugrunde liegt, war eine normative, zielorientierte Verkehrswegeplanung verbunden. Anstelle einer nachfrageorientierten Planung bestimmten hier gesellschaftspolitische Vorstellungen über anzustrebende Nachfrageentwicklungen und Modal Split-Werte maßgeblich die Grundlagen des BVWP und damit der Investitionsplanung. Dabei wurde im Szenario H bewußt auf den Einsatz von Maßnahmen verzichtet, die gezielt die Nutzerkosten der Verkehrszweige Straßen- und Luftverkehr erhöhen. Unterstellt wurden vielmehr nur Änderungen der verkehrspolitischen Rahmenbedingungen, die aus der Sicht Anfang der 90er Jahre auch ohne gezielte Einflußnahme der Bundesregierung bis zum Jahr 2010 wahrscheinlich eintreten werden. Nach Feststellung des Sachstandsberichts aus dem BMVBW waren dies im einzelnen:

  • Änderungen der Nutzerkosten in den verschiedenen Verkehrszweigen,

  • Einflüsse der kommunalen Verkehrspolitik hinsichtlich der Parkraumverfügbarkeit und

  • Auswirkungen einer gegenüber dem Verkehrsangebot überproportionalen Steigerung der Verkehrsnachfrage.

Dabei gelten für die einzelnen Verkehrsträger u.a. folgende Annahmen:

Straße

  • realer Anstieg der Kraftstoffkosten um 30 %,

  • vollständige Deregulierung des Marktzutritts und der Preisbildung im Straßengüterverkehr,

  • Abnahme der mittleren Transport- und Reisegeschwindigkeiten im Fernverkehr (Lkw und Pkw) um bis zu 5 %,

  • Geschwindigkeitsreduktionen im Nahverkehr und

  • restriktive Parkraumbewirtschaftung mit deutlichen Auswirkungen auf den Modal Split.

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Schiene, Wasserstraße und Luft

  • weitgehend stabiles Preisgefüge bei der Schiene, bis auf einen realen Preissprung bei der Zuggattung ICE

  • reale Stabilität bei den Luftverkehrspreisen,

  • Verlagerung von 10 % der Transporte von der Straße auf die Schiene und Wasserstraße sowie

  • Verlagerung des Kurzstreckenluftverkehrs auf die Schiene.

Die gemäß diesen Annahmen abgeschätzte Nachfrage im Jahr 2010 ist für die Bereiche Personen- und Güterverkehr in den Abbildungen 1 und 2 dargestellt.

Abb. 1: Personenverkehrsprognose (Mrd. Pkm) im BVWP

Abb. 2: Güterfernverkehrsprognose (Mrd. Tkm) im BVWP

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In seinem Sachstandsbericht von März 1999 analysiert das BMVBW diese Prognosen wie folgt:

  • Die Abschätzung der demographischen Entwicklung Deutschlands darf inzwischen als überholt angesehen werden. Insbesondere hinsichtlich der Aussiedlerströme gab es Fehleinschätzungen. Neuere Bevölkerungsprognosen gehen von 82,5 bis 83 Mio. Einwohnern im Jahr 2000 aus (gegenüber 79,6 Mio. im BVWP ‘92).

  • Die Annahmen zum Wirtschaftswachstum erweisen sich insgesamt als viel zu optimistisch.

  • Die angenommene Angleichung der Wirtschaftsverhältnisse in den neuen Ländern an die der alten Länder wird im Geltungszeitraum des BVWP ‘92 nicht erreicht werden.

  • In den fast neun Jahren Geltungsdauer des BVWP ‘92 wurden erhebliche Veränderungen der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen vollzogen. Hierzu zählen u.a.
    • Deregulierungsschritte sowohl auf dem deutschen als auch auf dem europäischen Verkehrsmarkt,
    • Bahnstrukturreform,
    • Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV),
    • emissionsorientierte Kfz-Steuer für Lkw und Pkw,
    • verschiedene Mineralölsteuererhöhungen zuletzt im Zusammenhang mit der ökologischen Steuerreform,
    • Maßnahmen- und Aktionsprogramm zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Binnenschiffahrt,
    • Förderungsmaßnahmen zur Stärkung der Marktposition der Binnenschiffahrtsunternehmen sowie
    • Erleichterungen und Investitionsförderungen zugunsten des Kombinierten Verkehrs.

Zur Wirkung dieser Faktoren auf die Verkehrsnachfrage stellt das BMVBW fest, daß das Wachstum des Personenverkehrs insgesamt etwas unterschätzt wurde, aber im Bereich der derzeitigen Erwartungen liegt. Stärker gewachsen sind die Verkehrsleistungen des motorisierten Individualverkehrs und insbesondere des Luftverkehrs. Deutlich hinter den Prognosen zurückgeblieben sind dagegen der Schienenpersonenverkehr und der öffentliche Straßenpersonenverkehr. Im Sachstandsbericht wird bezweifelt, daß hier die prognostizierten Zuwächse noch bis zum Jahr 2010 realisiert werden können.

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Abb. 3: Entwicklungsvergleich Personenverkehr </B>(Prognose 2010 gegenüber effektivem Niveau 1998)

Im Bereich des Güterfernverkehrs ist die effektive Entwicklung bis zum Jahr 1998 deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben, und die modale Teilung verlief hier deutlich anders als prognostiziert. Der Straßengüterfernverkehr nahm wesentlich stärker als erwartet zu, und die Entwicklungen des Schienengüterverkehrs und der Binnenschiffahrt wurden drastisch überschätzt. Als Mitte der 90er Jahre das Auseinanderdriften von Prognose und tatsächlicher Entwicklung erkennbar wurde, hat die Verkehrspolitik ordnungspolitische Maßnahmen ergriffen, um die Position der umweltfreundlichen Verkehrsmittel Bahn und Schiff zu verbessern und ihre Vernetzung zu fördern.

Abb. 4: Entwicklungsvergleich Güterfernverkehr </B>(Prognose 2010 gegenüber effektivem Niveau 1998)

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Insgesamt belegt für das BMVBW die Analyse der dem BVWP ‘92 zugrundeliegenden Strukturdaten- und Verkehrsprognosen die auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführende Prognoseunsicherheit zu Beginn der 90er Jahre. Aktualisierten Strukturdaten- und Verkehrsprognosen, die der künftigen Verkehrsinfrastrukturplanung zugrunde gelegt werden könnten, kommt deshalb für die gesamte Verkehrspolitik ein hoher Stellenwert zu. Außerdem erscheinen bei der vorgesehen Überarbeitung des BVWP ‘92 Anpassungen der Annahmen zu den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen der Verkehrsprognosen an neue Entwicklungen und politische Ziele nötig und möglich.

Sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr liegt die Schiene also jeweils deutlich unter, der Straßenverkehr aber deutlich über den Prognosen. 1998 fanden mehr als 80% des motorisierten Personenverkehrs und fast zwei Drittel des Güterverkehrs auf der Straße statt. Damit bewältigt die Straße ein Vielfaches der Verkehrsleistungen der Eisenbahnen (Güterverkehr: Faktor 3,4; Personenverkehr: Faktor 12). Beim motorisierten Individualverkehr zeichnen sich nach Auffassung des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) jedoch deutliche Sättigungstendenzen ab. Fast 93 % der Neuzulassungen sind inzwischen Ersatzbedarf. Die Motorisierung erhöht sich nur noch langsam. Bis zum Jahr 2010 wird mit 6 Mio. zusätzlichen Autos, also mit einem Bestand von 47,5 Mio. Einheiten gerechnet. Für diese Zunahme ist weitgehend der noch bestehende Nachholbedarf in den neuen Bundesländern verantwortlich. Danach sollen die Zuwachsraten im Bestand deutlich zurückgehen, so daß im Jahr 2020 insgesamt 49,7 Mio. Pkw in Deutschland zugelassen sein werden. Durch diese Entwicklung und die erwartete Abnahme der Bevölkerungszahl wird sich die Motorisierungsdichte weiter deutlich erhöhen (von derzeit 509 auf über 600 Pkw pro 1.000 Einwohner). Gleichzeitig ist ein Rückgang der durchschnittlichen Fahrleistung pro Pkw (einschl. Kombi), die in den letzten Jahren fast unverändert bei 12.700 km liegt, zu erwarten. Wachstumsraten gelten dagegen für die Gesamtfahrleistungen. Nach Angaben im VDA-Jahresbericht 1999 werden diese bis zum Jahr 2010 gegenüber 1998 um etwa 10%, d.h. um weniger als 1% pro Jahr zunehmen (von 528 auf 580 Mrd. Fahrzeugkilometer). Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts soll der motorisierte Individualverkehr dann nicht weiter wachsen, also in eine Stagnationsphase eintreten.

Zu dieser Prognose einer bevorstehenden Bestandssättigung merkt das Wuppertal Institut an, daß die Motorisierungsentwicklung und die Pkw-Bestände seit den 50er Jahren fortgesetzt unterschätzt wurden. An der alle zwei Jahre erneuerten Shell-Prognose sei sehr gut deutlich zu machen, daß die aufwendig konstruierten Zukunftserwartungen durch die

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reale Entwicklung immer wieder binnen kurzer Zeit falsifiziert worden sind. Dies setze sich bis in die jüngste Zeit hinein fort. Über Jahrzehnte hinweg wurde jeweils in einem Zeithorizont von 5 bis 15 Jahren nach der Prognoseerstellung die Bestandssättigung erwartet. In der nächsten Prognose wurde das Sättigungsniveau dann aber jeweils nach oben korrigiert. Das Wuppertal Institut findet es bemerkenswert, daß den Arbeitsgruppen offensichtlich nie der Gedanke gekommen ist, daß die Erwartung einer Bestandssättigung im Kern falsch ist, weil sie permanente Fehleinschätzungen beinhaltet. In der Rückschau dränge sich der Gedanke auf, daß mittels eines Lineals eine sehr viel zutreffendere Prognose möglich gewesen wäre als mit den aufwendigen soziodemographischen und ökonomischen Prognosemodellen.

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2.2 Situation der Umwelt

Entgegen den politischen Zielen haben sich die Umweltbelastungen seit dem Inkrafttreten des BVWP ‘92 in wichtigen Feldern erhöht. Insbesondere die C02-Emissionen und der Landschaftsverbrauch sind Umweltprobleme des Verkehrs, deren Dramatik sich nach wie vor weiter verschärft. Nach Auffassung des Wuppertal Instituts ist es notwendig, der sich abzeichnenden Entwicklung bei den Umweltbelastungen gegenzusteuern. Die Emissionen müßten drastisch reduziert werden (Schlagwort „Faktor 4"). In der Vereinbarung von Manchester wurden die im Kioto-Protokoll der Vereinten Nationen vereinbarten CO2-Reduktionslasten der EU unter den Mitgliedsländern aufgeteilt. Damit wurde auch für Deutschland das Ausmaß des Abbaus dieser Umweltbelastung erstmals völkerrechtlich bindend festgelegt. Deutschland muß seine CO2-Emissionen gegenüber dem Basisjahr 1990 in einer Größenordnung von etwa 20% bis zum Jahr 2010 verringern.

Zur Zeit nehmen die CO2-Emission aber insgesamt eher zu als ab. Dabei gelten für den Verkehrssektor Zuwachsraten, während alle anderen Bereiche durch Belastungsverringerungen gekennzeichnet sind. Dieses Ergebnis hängt direkt mit dem Energieverbrauch zusammen, der nach Angaben des Wuppertal Instituts im Verkehr ständig größer wird - und zwar auch relativ zum Bruttosozialprodukt. Dies mache deutlich, daß der Verkehr nicht nur ein Bestandteil der Wertschöpfungskette ist, sondern in erheblichem Ausmaß Konsum darstellt. Mehr als die Hälfte des Pkw-Verkehrs erfolgen bereits in Freizeit und Urlaub. Damit werde die Bedeutung von Verkehrswegeinvestitionen für die Wirtschaftsstruktur erheblich relativiert. Neue Straßen würden zwar weitgehend mit Verbesserungen

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zugunsten des Wirtschaftsverkehrs begründet, bei ihrer Nutzung dominiere aber der Einkaufs- und Freizeitverkehr mit entsprechenden Verschärfungen der Umweltbelastungen.

Hinzu kommt, daß der Pkw ein Verkehrsmittel mit einem sehr niedrigen Wirkungsgrad ist. Über 95% des Energieeinsatzes werden verschwendet, weil die Fahrzeuge überdimensioniert sind. Sie sind zu groß, zu schwer, zu leistungsstark, und sie fahren zu schnell. Entsprechende Begrenzungen erscheinen aus der Perspektive des Wuppertal Instituts zwar aus ökonomischen, aus ökologischen und - wegen der positiven Effekte u.a. auf die Unfallzahlen - auch aus sozialen Gründen sinnvoll. Sie werden aber von der Automobilindustrie, von den Automobilverbänden und Teilen der Bevölkerung als Eingriffe in die persönliche Freiheit abgelehnt.

Anders bewertet der BDI die Entwicklung bei den Emissionen. Hier sei die Trendwende bereits erreicht. Es wäre zu erwarten, daß mit der Durchsetzung des Katalysators und weiter verschärften Abgaswerten die Emissionen des Straßenverkehrs bis Mitte des kommenden Jahrzehnts auf einen Bruchteil der heutigen Werte zurückgingen. Außerdem werde der Kraftstoffverbrauch durch sparsamere Automobile, weniger Leerfahrten im Straßengüterverkehr und ein insgesamt verbessertes Verkehrsmanagement sinken. In diesem Zusammenhang bestätigt die VDA-Statistik eine günstige Entwicklung im Sektor der Kleinwagen. Diese konnten ihre Zulassungen in den letzten drei Jahren mehr als verdoppeln. Ihr Anteil am Neuwagengeschäft liegt 1998 bei knapp 6%. Ökologisch weniger erfreulich ist dagegen, daß auch die Oberklassefahrzeuge mit einem Hubraum von 2000 und mehr cm3 überdurchschnittlich zunehmen (1996/98: +12,6%), und daß auch bei dieser Fahrzeugkategorie der Zulassungsanteil weiter wächst (1998: 16,4%).

Neben der ungelösten Lärmproblematik [ Nach vom BUND erwähnten Zahlen fühlen sich 70% aller Bundesbürger durch Straßenverkehr, 53% durch Fluglärm und 20% durch Schienenverkehrslärm belästigt. Und das Institut der deutschen Wirtschaft stellt fest, daß der Straßenverkehr in den letzten Jahren zwar seinen Geräuschpegel verringert hat, und daß sich 1998 nur noch 15% der Deutschen durch Straßenverkehrslärm stark belästigt fühlten - gegenüber 22% im Jahr 1994. Nach wie vor werde dieser Lärm aber als störend empfunden. - Vgl. idW vom 26.7.99] ist der Flächenverbrauch ein weiteres Umweltproblem des Verkehrs mit zunehmender Brisanz. Wenn sich der in der Vergangenheit zu beobachtende Anstieg der Verkehrsmengen auch in der Zukunft fortsetzen und einen entsprechenden Ausbau der Verkehrswege auslösen würde, gäbe es in Deutschland immer weniger naturnahe Räume ohne verkehrliche Belastung. Hierdurch würde die Landschaft weiter verinseln, warnen Wissenschaftler. Es droht ein

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unwiederbringlicher Verlust von Natur- und Kulturlandschaften. Zwar werden in den letzten Jahren wieder vermehrt Schutzgebiete ausgewiesen, aber die meisten hiervon sind zu klein, um beispielsweise eine Trendwende im Artenrückgang zu bewirken. Unzerschnittene Flächen sollten nicht mehr angerührt werden. Gerade die Zerschneidung bisher relativ unberührter Gebiete durch neue Verkehrswege hat für das Umweltbundesamt (UBA) und den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eine erhebliche ökologische Relevanz. Irgendwo müsse es eine Grenze geben für neue Verkehrs- und Siedlungsflächen.

DIE ZEIT stellt in ihrer Ausgabe vom 24.02.00 fest, daß die Folgen dieses Flächenfraßes längst sichtbar sind und auch von der Bundestags-Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" 1998 gegeißelt wurden: Ökologische Ausgleichsflächen für Natur- und Wasserhaushalte nehmen ab, und die Bodenversiegelung schränkt die Grundwasserneubildung ein. Nach Angaben der Kommission nahm die Verkehrsfläche 1997 bereits ca. 40% der Siedlungs- und Verkehrsfläche in Anspruch, und der Anteil der Verkehrsfläche beträgt bereits heute 4,7% der gesamten Fläche Deutschlands - mit weiter wachsender Tendenz. Der Flächenanteil der nach dem Bundesnaturschutzgesetz ausgewiesenen Schutzgebiete stagniert dagegen seit geraumer Zeit bei knapp 2%. Diese hohe Flächeninanspruchnahme ist hauptsächlich durch den großen spezifischen Flächenbedarf des Autoverkehrs - inkl. der Flächen für den ruhenden Verkehr - bedingt. Die Kommission rechnet damit, daß bei einer Fortsetzung des Zersiedlungsprozesses und der damit verbundenen weiteren Zunahme der Motorisierung auch die Inanspruchnahme zusätzlicher Flächen für Verkehr anhalten wird.

Von einer anderen Datenbasis geht der BDI aus. Hiernach beträgt die befestigte Fläche für alle öffentlichen Straßen in Deutschland lediglich 1,11% des Bundesgebietes. Die Bundesfernstraßen machen sogar nur 0,17% der Gesamtfläche aus, übernehmen aber mittlerweile mehr als ein Drittel der gesamten Verkehrsleistung. Zwar verursacht die Schiene eine noch geringere Flächenversiegelung. Dies hängt aber auch damit zusammen, daß das System Straße im Nahbereich Aufgaben zu bewältigen hat, die der Schienenverkehr von seiner Struktur her gar nicht zu leisten vermag. Im Nahbereich ist auch die Schiene auf Straßen angewiesen, denn nur so kann die Anbindung an die Wohnung, an den Arbeitsplatz, an die Produktionsstätten etc. sichergestellt werden.

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2.3 Stadtentwicklung und Wohnwünsche

Die Ausbreitung der Siedlungs- und Wirtschaftsfläche schreitet in Deutschland unvermindert voran. Parallel dazu steigt auch die Zahl der Verkehrswege. Hier besteht eine Interdependenz. Die Siedlungsstrukturen folgen den Straßen und erzwingen dann wieder neue Verkehrsinfrastruktur. Hinter diesen Wechselmechanismen stehen letztlich die Wünsche der Menschen nach einem Haus oder einer Wohnung im Grünen. Diese können realisiert werden, wenn auch die verkehrlichen Voraussetzungen geschaffen sind. Je weiter aber die Menschen vom Stadtzentrum entfernt wohnen, desto größer werden auch die Pendlerzahlen.

Politische Entscheidungen auf allen Ebenen haben diese Entwicklung nicht nur geduldet, sondern in vielen Fällen gefördert. Das bezieht sich auf die Ausweisung von Flächen als Bauland, den Bau von Straßen und Schienen, die indirekte Subventionierung des Pendelns durch die Kilometerpauschale, die Förderung des Eigenheimbaus usw. Notwendig ist, das richtige Verhältnis der Verdichtung in den Städten zu finden. Immer mehr Menschen wollen komfortabel in großen Wohnungen und in einem ruhigen Wohnumfeld mit hoher Wohnqualität wohnen. Das hat dazu geführt, daß in Deutschland heute jeder Einwohner im Durchschnitt über 38 m² Wohnfläche verfügt. Damit hat sich die Wohnfläche in den letzten 30, 40 Jahren vervielfacht. Ermöglicht wurde dies durch die fortschreitende Suburbanisierung, also durch die Ausdehnung der Verstädterung in das Umland der Ballungsräume. Hierfür ist aber auch das Bevölkerungswachstum ausschlaggebend. So hat z.B. Nordrhein-Westfalen nach der Maueröffnung eine Million neue Einwohner erhalten.

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2.4 Problemsituation des ÖPNV

In einigen Teilen Deutschlands ist die freie Wahl des Verkehrsmittels de facto nicht mehr möglich, denn dort ist man auf das Auto angewiesen. Ein Grund dafür ist, daß sehr dünn besiedelte Bereiche z.B. in Mecklenburg, im Bayerischen Wald oder in Nordfriesland ÖPNV kaum konkurrenzfähig zum motorisierten Individualverkehr (MIV) anbieten können. Eine Grundversorgung mit Bus und Bahn ist aus sozialen Gründen zwar unerläßlich, aber der ÖPNV kann hier den Wettbewerb mit dem MIV nicht gewinnen. Bessere Voraussetzungen für eine intelligente Verkehrserschließung durch einen guten ÖPNV finden sich dagegen in den dicht besiedelten Bereichen Deutschlands, in denen etwa 60% der Bevölkerung wohnen. Im Ballungsraum Rhein-Ruhr beträgt der Anteil des ÖPNV derzeit allerdings nur 10 bis 12% am Modal Split. Der Anteil des Pkw liegt bei unge

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fähr 50%. Der Rest ist nicht-motorisierter Verkehr. Diese unbefriedigende Situation ist auch ein Ergebnis von vielfachen Parallelförderungen. So wurde der ÖPNV zwar auch in der Fläche investiv aufgerüstet, aber gleichzeitig wurden in Konkurrenzlage auch Autobahnen und Bundesstraßen gebaut. Und in den Städten wurden einerseits Parkmöglichkeiten für Pkw geschaffen und andererseits für viel Geld Stadtbahnlinien in den Untergrund gelegt.

In Nordrhein-Westfalen wird seit einigen Jahren die städtebauliche Entwicklung entlang von ÖPNV-Haltepunkten gefördert. Dabei werden auch zusätzliche S-Bahn-Linien gebaut, an denen neue Entwicklungsgebiete liegen. Das so erreichbare Potential wird vom Land Nordrhein-Westfalen aber nur mit 35.000 Wohneinheiten beziffert. Das zeigt, wie schwierig es ist, Verkehre von der Straße auf den ÖPNV zu verlagern. In diesem Zusammenhang spielt auch eine Rolle, daß die in der Vergangenheit entstandenen räumlichen Strukturen in vielen Fällen eine Fixierung auf das Auto mit sich gebracht haben. Außerdem lassen sich viele Menschen nicht dazu bewegen, entgegen ihrer langjährigen Gewohnheit auf das eigene Fahrzeug zu verzichten. Dies mag auch an fehlenden finanziellen Anreizen zum Umsteigen liegen.

Die Verkehrspolitik muß deshalb auf Bundes- und Landesebene weiter versuchen, eine zukunftsfähige Verkehrsgestaltung zu erreichen, bei der die zu erwartenden hohen Zuwachsraten des Verkehrs so weit wie möglich auf die umweltfreundlichen Verkehrsmittel entfallen. Nach Einschätzung des Verkehrsministeriums NRW kommt dem Schienennetz innerhalb des Angebotssystems für den ÖPNV bei der Mengenbewältigung in Kernbereichen und bei der schnellen Raumüberwindung in ländlichen Strukturen eine zentrale Bedeutung zu. Auch große Teile des Fernverkehrs stützen sich auf das Schienennetz ab. Das Schienennetz ist damit das Rückgrat des gesamten öffentlichen Verkehrs. Zur Stärkung des ÖPNV werden insbesondere folgenden Maßnahmen für erforderlich gehalten:

  • die Realisierung des europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes,

  • die Beseitigung von Engpässen im Schienennetz,

  • die Trennung von Güter- und Personenverkehr bzw. Fern- und Nahverkehr auf überlasteten Schienenstrecken,

  • die Vervollständigung der S-Bahn- und Stadtbahnsysteme,

  • die Reaktivierung geeigneter SPNV-Strecken im ländlichen Raum,

  • die Beschleunigung der ÖPNV-Systeme im Straßenraum,

  • die Optimierung der Vertaktung der Verkehrsmittel des ÖPNV,

  • die Attraktivierung der Haltestellen und Bahnhofsinfrastruktur,

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  • die Verbesserung der Zubringersysteme und Umsteigeanlagen und

  • die Verbesserung der Bedienungsangebote.

Das Land NRW ist - wie wohl auch alle anderen Bundesländer - daran interessiert, daß bei der Verständigung mit dem Bund über das Fortschreibungsverfahren der BVWP u.a. auch eine ausreichende Wahrnehmung der Verantwortung des Bundes für die Schieneninfrastruktur seiner Eisenbahnen sichergestellt wird. Notwendig sei weiter eine unstreitige Festlegung der Vorhaben des Nahverkehrs, die aus Mitteln des Bundesschienenwegeausbauplans finanziert werden (Nahverkehrsquote 20%). Außerdem müßte für die Vernetzung und Kooperation der Verkehrsträger gesorgt werden mit dem Ziel der Stärkung des Umweltverbundes und der Effizienz der Verkehrssysteme.

Auch der BUND fordert Verbesserungen des Angebots im öffentlichen SPNV. Insbesondere die Investitionen in die Modernisierung der Nahverkehrsstrecken müßten einen Schwerpunkt bei der Überarbeitung des BVWP darstellen. Um das System der öffentlichen Verkehrsmittel für die zukünftigen Aufgaben leistungsfähiger zu gestalten, sind darüber hinaus erhebliche Investitionen im Fahrzeugpark notwendig. In allen Bereichen der Attraktivität - insbesondere bei Reisezeiten und Pünktlichkeit, bei Häufigkeit und Netzdichte, aber auch beim Komfort - besteht Korrekturbedarf. Korrekturmöglichkeiten sind bekannt und konsequent umzusetzen.

Im Bericht der Bundesregierung über den öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland nach der Vollendung der deutschen Einheit (1999) wird festgestellt, daß der Bund seine Mittel für den ÖPNV überwiegend zugunsten des SPNV eingesetzt hat. Der größte Anteil wurde für den SPNV in der Fläche aufgewendet. Die Bundesinvestitionsförderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) floß dagegen zu etwa 70 % in die Verkehrsballungsräume. Im laufenden Fünfjahresplan für den Ausbau der Schienenwege des Bundes in den Jahren 1998 bis 2002 macht der 20%ige Anteil des SPNV 7,2 Mrd. DM aus. Hiervon sind 3 Mrd. DM für Ersatzinvestitionen in den Teilen des bestehenden Netzes vorgesehen, die überwiegend von Zügen des SPNV befahren werden. Ein Viertel der Mittel entfällt auf reine SPNV-Maßnahmen, die zwischen der DB AG und den Ländern abzustimmen sind, und etwa 2,4 Mrd. DM stehen für die anteilige Finanzierung von Aus- und Neubauprojekten bei Mischverkehrsstrecken zur Verfügung. Mit diesen und weiteren finanziellen Mitteln wird der Reformprozeß des ÖPNV, der in den 90er Jahren mit grundlegenden Veränderungen des Ordnungsrahmens (u.a. Bahnstrukturreform und Regionalisierung) in Gang gebracht wurde, weiter unter

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stützt. Ziel ist ein effizienter, vor Ort gestalteter und verantworteter ÖPNV, der künftig zunehmend durch Kooperationen bei Verkehrsnetzen und Tarifen, durch kundengerechtes Marketing und durch zeitgemäße Informationssysteme gekennzeichnet sein wird.

Auch in den Eckpunkten für einen leistungsfähigen und attraktiven ÖPNV von Mai 2000 erklärt die Bundesregierung ihre Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen, die mit modernen und innovativen Lösungsansätzen für einen zukunftsfähigen ÖPNV verbunden sind. Auch künftig würde den Ländern und Gemeinden bei der Weiterentwicklung eines leistungsfähigen und attraktiven ÖPNV geholfen. Schon heute liege das finanzielle Engagement des Bundes mit jährlich mehr als 15 Mrd. DM auf einem hohen Niveau. Angesichts knapper Kassen und der sich verschärfenden Konkurrenz auf dem europäischen Verkehrsmarkt seien Stärkungen der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrsunternehmen sowie gesicherte Finanzierungsgrundlagen notwendig. Gefordert werden

  • mehr Transparenz und Wettbewerb. Entsprechende Aktivitäten wird die Bundesregierung u.a. durch einen verläßlichen wettbewerbsorientierten Ordnungsrahmen unterstützen. Dies gelte insbesondere für die anstehenden Verhandlungen über einen neuen europaweiten EU-Rechtsrahmen für die Verkehrsunternehmen.

  • eine stärkere Ausrichtung auf kundenorientierte Produkte und Dienstleistungen. Hierzu gehört ein neuer Anlauf für die in der Koalitionsvereinbarung geforderte Qualitätsoffensive.

  • effiziente finanzielle Rahmenbedingungen. Hier bekennt sich die Bundesregierung einerseits zu ihrem im Grundgesetz festgelegten finanziellen Engagement für den ÖPNV. Aus Bundessicht müsse andererseits künftig aber stärker als bisher auf die Effizienz bei der ÖPNV-Förderung geachtet werden. Mit jeder investierten Mark müsse auch ein Zugewinn an ÖPNV-Dienstleistungen erzielt werden.

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2.5 Staus auf deutschen Straßen

Das Ausmaß der negativen Auswirkungen durch Staus auf deutschen Straßen ist umstritten. Vor allem die Wirtschaft ist der Auffassung, daß das Verkehrssystem Straße zunehmend unter Engpässen leidet. Der BDI stellt fest, daß die Überlastungen der Straßenkapazität längst alltäglich geworden sind, und daß dem steigenden Verkehrsaufkommen ein unzulänglicher Kapazitätsausbau entgegensteht. So sei in Westdeutschland das reale Straßenbauvolumen in den vergangenen drei Jahrzehnten um 40% zurückgegangen. In der gleichen Zeit haben sich die Fahrleistungen mehr als verdoppelt. Die Folge sind 80.000 Staus im Jahr.

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Der bewertete Zeitverlust addiert sich nach Angaben des BDI auf 185 Mrd. DM pro Jahr. Der größte Teil dieser Kosten fällt im Berufsverkehr, bei Dienstreisen, im Lieferverkehr und im Güterverkehr an. Damit einher gehe auch ein Kraftstoffmehrverbrauch von 14 Mrd. Litern pro Jahr - entsprechend 23% des gesamten Treibstoffverbrauchs im Straßenverkehr. Die Beseitigung von Staus birgt deshalb ein großes CO2-Einsparpotential.

Auch der VDA stellt in seinem Jahresbericht „Auto 1998" fest, daß sich seit Mitte der 70er Jahre die Schere zwischen der Entwicklung der Fahrleistungen und den Aufwendungen der öffentlichen Hand für das Straßennetz immer weiter öffnet. Folge sind Staus und Zähflüssigkeit auf den Fernstraßen und in den Städten, die zu einer Vergeudung von Zeit und natürlichen Ressourcen führen. Hierdurch werden jährlich volkswirtschaftliche Kosten von 200 Mrd. DM verursacht - entsprechend 5,5 % des Bruttoinlandsproduktes. Gemessen am optimalen Verkehrsfluß auf der Straße summieren sich nach Angaben des VDA die verlorenen Zeiten auf 4,4 Mrd. Stunden. Unter umweltpolitischen Aspekten wird besonders der engpaß- und friktionsbedingte Kraftstoffmehrverbrauch von 14 Mrd. Litern/Jahr beklagt, der mehr als zwei Dritteln der seit Ende der 70er Jahre erzielten fahrzeugtechnischen Erfolge bei der Kraftstoffeinsparung sowie bei der Reduzierung der CO2-Emissionen entspricht.

Das Wuppertal Institut zieht in Zweifel, daß Staukosten in dieser Höhe vorliegen und abbaubar sind. Selbst staubedingte Verluste des BIP von 2%, wie sie im Grünbuch der Europäischen Kommission „Faire und effiziente Preise im Verkehr" von 1995 quantifiziert sind, hält das Institut für um den Faktor 10 zu hoch. Auch die französischen Wissenschaftler, deren Berechnungen zu diesem Schätzwert führten, hätten eingeräumt, daß eine zu hohe Bewertung vorliegt. Eine solche Bewertung könne jedoch zumindest den Zweck erfüllen, daß die Aufmerksamkeit auf das Problem „Stau" gelenkt wird. Das Wuppertal Institut konnte durch eigene Auswertungen nachweisen, daß dies jedoch in einer Dimension erfolgt ist, die dem Problem nicht zukommt. Bei den Ermittlungen des Instituts zur Verteilung der Verkehrszeiten nach Verkehrssituationen zeigte sich, daß dem Verkehrszustand Stau im Sinne von „stop and go" für Pkw innerorts ein Zeitanteil von etwa 5% und auf Autobahnen von etwa 2% zuzuordnen ist; für schwere Lkw liegen die entsprechenden Werte bei etwa 3% bzw. 7%. Hinsichtlich des Kraftstoffverbrauchs stellt das Institut als grobe Orientierung fest, daß je etwa 1,2% des Kraftstoffverbrauchs deutscher Kfz auf Stauzustände innerorts und auf Autobahnen entfallen. Damit haben die kraftstoffbedingten Emissionen in Stauzuständen einen außerordentlich geringen Anteil an den Gesamtemissionen. Diese Werte liegen erheblich

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unter den Zeitverlusten und staubedingten Kraftstoffmehrverbräuchen, die vom VDA und gleichlautend von anderen Wirtschaftsverbänden angegeben werden.

Auch der Verkehrsclub Deutschland VCD hält die Staukosten mit 185 Mrd. DM für deutlich überhöht. Kritisiert wird, daß in diesem Betrag auch die mit relativ hohen Stundensätzen bewertete Zeit enthalten ist, die die Menschen unserer Freizeitgesellschaft vor allem zu Ferienzeiten und Feiertagen freiwillig in „Eventstaus" verbringen. Ähnlich stellt das Wuppertal Institut fest, daß die durch Verkehrsstörungen bedingten Zeitverluste offensichtlich akzeptiert werden und einen Bestandteil der individuellen und betriebswirtschaftlichen Kalkulationen bilden. Das ließe vermuten, daß die Verluste keine so unzumutbar hohen Belastungen darstellen, wie dies in den Medien und von Teilen der Politik propagiert werde.

Das Wuppertal Institut weist ergänzend darauf hin, daß es schwierig ist, eine konsensuale Staudefinition zu finden. Im Stadtverkehr liege die Durchschnittsgeschwindigkeit nicht über 35 km/h. Stillstände an Kreuzungen, Einmündungen und Ampeln seien unvermeidlich. Von Stau könne deshalb erst bei Durchschnittsgeschwindigkeiten im gesamten innerörtlichen Straßennetz von deutlich unterhalb 20 km/h gesprochen werden. Anders sei die Situation auf den städtischen Haupt- und Ausfallstraßen. Hier liege bereits bei mittleren Geschwindigkeiten von weniger als 30 km/h Stau vor. Auf Fernstraßen könne Stop-and-Go-Verkehr mit Stillstand und zwischenzeitlichen Fahrgeschwindigkeiten unter 30 km/h eindeutig als Stau angesehen werden. Dagegen sind durch dichten Verkehrsfluß erzwungene Geschwindigkeiten zwischen 60 und 90 km/h auf Autobahnen nicht als Stau zu bewerten. Hier spricht man von gebundenem Verkehr mit Kolonnenfahrten, der auf Autobahnen in Abhängigkeit von den Entwurfsparametern bei Geschwindigkeiten um 70 km/h zur maximalen Leistungsfähigkeit (durchfließende Fahrzeuge je Zeiteinheit) führt. Dieser gebundene Verkehr stellt sich auch aus der Umweltperspektive außerordentlich positiv dar, denn er ist der energie- und emissionsgünstigste Zustand. Dagegen kommt es bei freier Fahrt wegen der stark wachsenden Sicherheitsabstände zu einer suboptimalen Durchflußmenge. Und auch die Umweltbilanz fällt ungünstiger aus, denn die Verbrauchswerte verschlechtern sich bei freier Fahrt auf Strecken mit Tempolimit um 20% gegenüber dem gebundenen Verkehr, und auf Strecken ohne Tempolimit erhöht sich der Verbrauch nochmals deutlich.

Hinsichtlich der Frage, durch welche Maßnahmen und mit welchen Kosten eine Reduzierung der Stauanteile möglich wäre, besteht nach Auffassung des Wuppertal Instituts noch Untersuchungsbedarf. Hierbei reiche es nicht aus, die Bundesregierung und die Länder aufzufordern, durch Straßenbau den Stau zu beseitigen und dadurch volkswirtschaftliche Gewinne zu realisieren. Vielmehr müssen auch die entsprechenden Kosten ermittelt werden; dieser Bereich sei aber bislang nur unzureichend geklärt.

Im wesentlichen hält das Wuppertal Institut eine Verringerung des Stauumfangs durch Infrastrukturausbau allenfalls bei Autobahnen für vertretbar. Dabei wären aber die Baumaßnahmen sowie die höheren und ungleichmäßigen Geschwindigkeiten auch als Stauverursacher zu berücksichtigen. Das Institut schlägt vor, die Baumaßnahmen mit Gegenmaßnahmen wie Tempolimit und Geschwindigkeitsbegrenzer unter dem Aspekt der Kosteneffizienz vergleichend zu analysieren. Im Innerortsverkehr gäbe es dagegen kaum noch einfache kapazitätserweiternde und staubeseitigende Möglichkeiten. Zwar werden hier immer wieder einzelne Großprojekte diskutiert. Deren Kosten sind aber sehr hoch. Außerdem ist wegen des bestehenden Nachfrageüberhangs und des im Vergleich zum gesamtstädtischen Verkehr geringen Fahrleistungsanteils der betreffenden Streckenabschnitte nur mit begrenzten Wirkungen zu rechnen.

Das Wuppertal Institut weist weiter darauf hin, daß es weder in Europa noch in Deutschland ein generelles Stauproblem gibt, für das Investitionsprogramme auf europäischer bzw. nationaler Ebene sinnvoll und notwendig erscheinen. Nach den Feststellungen verschiedener Gutachten für das Treffen der Europäischen Verkehrsminister im Mai 1998 gibt es nur Stauprobleme in Regionen. Diese haben auch nur regionale Ursachen und können auch nur regional gelöst werden.

Die Chancen, solche regionalen Stauprobleme auf Dauer durch Ausweitungen der Verkehrsflächen zu lösen, werden vom Wuppertal Institut als gering eingeschätzt. Überspitzt stelle sich heute die Situation so dar, daß sich Straßenbaumaßnahmen dort, wo sie gebraucht werden, als nicht mehr durchsetzbar erweisen, und dort, wo sie noch realisiert werden können - nämlich im ländlichen Raum -, bräuchte man sie eigentlich nicht. Das führe letztlich zu der Frage, ob durch Straßenbau gesamtwirtschaftliche Vorteile erreicht werden können. Die Antwort falle für staugeplagte Regionen anders aus als für Regionen mit einem schwach ausgebildeten Verkehrsnetz, die durch verbesserte und neue Straßen erst erschlossen und in einen effizienten Warenaustausch auf nationaler und internationaler Ebene einbezogen werden könnten. Die Ballungsgebiete mit ihrem dichten Straßennetz leiden dagegen unter den hohen Verkehrsdichten, die den Verkehrsfluß beeinträchtigen. Ihre besondere Problemsituation ergibt sich aus der Überlagerung des Fernverkehrs mit dem Kurz- und

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Mittelstreckenverkehr, dessen alltägliche Verkehrszwecke in Arbeit/Aus-bildung, Einkaufen, Freizeit und Geschäftsreisen bestehen. Kommt es hier wegen der hohen Verkehrsbelastungen auf bestimmten Streckenabschnitten zu Straßenausbau und Straßenneubau, durch den neuralgische Punkte tatsächlich entlastet werden und sich zugleich die Verkehrssicherheit erhöht, verbessern sich die Verkehrsbedingungen für alle Fahrzeuge, also auch für den dominierenden Alltagsverkehr innerhalb des Ballungsgebiets. Dann tritt nach Feststellungen des Wuppertal Instituts ein interner Regelungsmechanismus in der Verkehrsnachfrage in Kraft, der als Folge freier Kapazitäten bislang verdrängte Nachfrage des Arbeitspendler-, Einkaufs- und Freizeitverkehrs auf den betreffenden Streckenabschnitt fließen läßt und die erstrebten Zeitgewinne vor allem für den Wirtschaftsverkehr zunichte macht.

Die Struktur der regionalen Stauprobleme mit ihren Überlagerungen von Stadt- bzw. Nahverkehr (80%) mit Fernverkehr (20%) könnte Anlaß für die Forderung von restriktiven Maßnahmen bei den Bundesverkehrswegen und eine Konzentration der Investitionsprojekte auf den kommunalen Verkehrsbereich - insbesondere zugunsten des ÖPNV - geben. Ein solches Konzept erscheint aus der Sicht des Verkehrsministeriums NRW aber nicht tragfähig. In diesem Bundesland werden zur Staubekämpfung u.a. Zuflußregelungen für Autobahnen und Fernstraßen geplant. Diese Straßen werden also bei Überlastungen für zusätzlich auffahrende Autos gesperrt. Das hat zur Konsequenz, daß mehr Verkehr vom innerstädtischen Verkehrsnetz zu bewältigen ist. Als Retter in der Not wird dann wieder der ÖPNV entdeckt, der Teile des MIV übernehmen soll. Hier zeigen die Erfahrungen aber, daß entsprechende Versuche nur begrenzte Erfolgsaussichten haben. So gibt NRW zur Zeit zur Stärkung des ÖPNV etwa 3,5 Mrd. DM pro Jahr aus. Trotzdem liegt dessen Verkehrsanteil nur bei 10 bis 12%. Die meisten Bürger wollen also nicht auf die Nutzung ihres Pkw verzichten, und der Autoverkehr bleibt die wichtigste Säule des Verkehrsgeschehens - trotz der massiven Förderung des ÖPNV, die die Landesregierung NRW auch in Zukunft fortsetzen wird: Bis zum Jahr 2015 ist für den Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur und die Modernisierung der ÖPNV-Fahrzeuge ein Investitionsvolumen von rund 25 Mrd. DM festgelegt. Das bedeutet zugleich, daß aus der Sicht des Landes NRW auch im Straßennetz ein Ausbaubedarf zur Ergänzung, Vervollständigung und Qualitätsverbesserung besteht. Der Staatssekretär im Verkehrsministerium NRW betont, daß die Sicherung der Mobilität von Menschen und Gütern ein eng geknüpftes, funktionierendes Gesamtverkehrsnetz erfordert. Hierfür sind Verbesserungen beim Umweltverbund, aber auch bei der Straße notwendig.

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In diese Richtung zielt auch das Anti-Stau-Programm, mit dem die Bundesregierung über die normalen Verkehrsinvestitionen hinaus schnellstmöglich gravierende Engpässe auf Autobahnen, Schienen- und Wasserwegen beseitigen will. Zur Stärkung der Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur sollen neue Quellen erschlossen werden. Ab dem Jahr 2003 sollen Einnahmen aus der streckenbezogenen Autobahngebühr für Lkw, die die heutige zeitbezogene Straßenbenutzungsgebühr (Eurovignette) ablösen soll, zum Ausbau von Bereichen im Verkehrsnetz bereitgestellt werden, die fast permanent Staus aufweisen. Damit schließt dieses Programm nahtlos an die Baumaßnahmen des Investitionsprogramms 1999 bis 2002 an. Anfang Februar 2000 betonte Reinhard Klimmt, Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf dem Zukunftsforum der SPD „NRW macht mobil! Verkehrspolitik 2000", daß insbesondere die Engpässe auf Autobahnen zwischenzeitlich so gravierend seien, daß damit erhebliche gesamtwirtschaftliche Nachteile verbunden sind, die abgebaut werden müssen. Staus seien schädlich für die Wirtschaft und Umwelt und für die betroffenen Bürger eine Zumutung. Das Anti-Stau-Programm biete die Chance, einige besonders problematische Strecken erheblich früher von täglichen Staus zu befreien, als bisher geplant.

Für den Ausbau des Autobahnnetzes sollen zusätzlich 3,7 Mrd. DM bereitgestellt werden. Weitere 3,7 Mrd. seien für Schienen- und Wasserwege eingeplant. Bundesminister Klimmt betonte ausdrücklich, daß die Projektauswahl nach streng objektiven, verkehrstechnischen Kriterien erfolgen werde. Solche Kriterien seien bei Autobahnen ein Verkehrsaufkommen von über 65.000 Fahrzeugen pro Tag oder entscheidende Lücken im Netz sowie hohe Lkw-Verkehrsanteile, fehlende Standstreifen und große Steigungen bzw. Gefälle. Die ausgewählten Strecken sollen zur Entlastung ergänzt oder sechsspurig ausgebaut werden. Auswahlkriterien sind im Schienennetz beispielsweise gravierende Verspätungen, die beispielsweise

  • durch stark eingeschränkte zulässige Geschwindigkeit (u.a. aufgrund maroder Bausubstanz),

  • durch eingleisige Streckenabschnitte mit hoher Zugbelegung oder

  • durch Lücken im Hochgeschwindigkeitsnetz

entstehen. Bei den Bundeswasserstraßen werden als Engpaßkriterien zu lange Wartezeiten (Staus) an Schleusen und Schiffshebewerken und nicht ausreichende Wassertiefe, die zu starken Reduzierungen der Leistungsfähigkeit (Wirtschaftlichkeit der Transporte) führt, herangezogen.

Städte und Gemeinden, aber auch Umweltverbände befürchten, daß es durch die Einführung einer streckenbezogenen Lkw-Maut zu Verlagerungen von Güterverkehr auf andere Straßen kommt, die für die Bewältigung

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von zusätzlichem Verkehr noch weniger als Autobahnen geeignet sind. In der Bilanz könnten sich deshalb anstelle der beabsichtigten Entlastungseffekte insgesamt mehr Staus und größere Umweltbelastungen ergeben.

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2.6 Gesellschaft im Wandel

Auch die gesellschaftlichen Veränderungen haben Auswirkungen sowohl auf das Verkehrsvolumen als auch auf die Struktur der Verkehrsnachfrage, und sie sind deshalb bei der Bundesverkehrswegeplanung zu berücksichtigen. Relevant ist beispielsweise die sich abzuzeichnende zunehmende Individualisierung und Auflösung der Familienverbände. 36% der Menschen leben bereits heute in Einpersonenhaushalten. Immer mehr Ehen werden geschieden. Diese Tendenzen haben auch Konsequenzen für die Verkehrsmittelwahl im Personenverkehr. Sie spiegeln sich in der Entwicklung des Modal Split, die einerseits durch eine ungebremste Bevorzugung des Pkw-Verkehrs und andererseits durch einen z.T. erschreckenden Rückgang des ÖPNV-Anteils gekennzeichnet ist.

Insbesondere der Trend zur mobilen Freizeit- und Konsumgesellschaft trägt zum Wachstum des Verkehrsaufkommens bei. Große Teile der Gesellschaft drängen vermehrt zu Events, zu Sportveranstaltungen und Großereignissen aller Art. Starken Zuspruch haben auch neue Geschäfts- und Freizeitzentren. In das Zentrum Oberhausen z. B. fahren jährlich ca. 20 Millionen Menschen, und zwar nicht nur zum Einkaufen, sondern auch, weil der Besuch des Zentrums wegen seiner Funktionsvielfalt ein Erlebnis darstellt. Während diese hohe Anziehungskraft des Zentrums für die regionale Wirtschaft positiv zu bewerten ist, sind die erheblichen damit verbundenen zusätzlichen Verkehrsströme kontraproduktiv zum Ziel der Verkehrsreduzierung bei gleichzeitiger Sicherung einer hohen Mobilität.

Eine der Ursachen für den großen Anteil des Reise- und Freizeitverkehrs ist die zunehmende europäische und weltweite Verflechtung, die sich nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Von den in Deutschland gefahrenen Pkw-Kilometern entfallen über 50% auf Freizeit und Urlaub. Darin ist der Einkaufsverkehr, der, wie das Beispiel des Zentrums Oberhausen zeigt, z. T. auch als Freizeit angesehen werden kann, nicht enthalten. Verkehr dient also nicht nur der Erzielung von wirtschaftlichem Wohlstand. Große Teile des Pkw-Verkehrs sind vielmehr schon Konsum von Wohlstand.

Fraglich ist, ob dieser hohe Freizeitanteil am Verkehr als sinnvoll angesehen werden muß, oder ob er ohne größere negative Effekte reduziert werden sollte. Eine differenziertere Betrachtung zeigt, daß der Freizeitverkehr weitgehend zu Zeiten stattfindet, wo er nicht so problematisch ist,

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also außerhalb der Rush-hour. Große Teile des Freizeitverkehrs sind zudem regional stark konzentriert. Es handelt sich also nicht um Fernverkehr zwischen den Regionen. Wenn es auf der lokalen Ebene gelingen würde, eine nennenswerte Quote dieser Binnenverkehre auf den ÖPNV zu verlagern, müßten der Wirtschaftsverkehr und der Transitverkehr nicht mehr im Stau stehen.

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2.7 Veränderte Arbeitswelt

Vor allem international läßt sich eine starke Abkehr von den Vollzeitbeschäftigungsverhältnissen beobachten. Doppelt so hoch wie in Deutschland ist die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze bspw. in den Niederlanden, wo dies durch gesetzliche Regelungen ermöglicht und auch stark gefördert wird. Begründet wird die Entscheidung gegen einen Vollzeitarbeitsplatz oft mit dem Wunsch nach mehr Freizeit - und diese Freizeit soll zunehmend auch nicht am Wohnort verbracht werden.

Die Veränderungen der Erwerbsstrukturen beinhalten auch eine Zunahme der Berufstätigkeit von Frauen. Deren Erwerbsquote liegt inzwischen bei über 60 %. Diese und weitere Entwicklungen haben auch Konsequenzen für den Mobilitätsbedarf. So führt die mit der wirtschaftlichen Arbeitsteilung zunehmende Spezialisierung dazu, daß Menschen oft dort wohnen, wo sie auf dem Markt Arbeit finden, und nicht mehr dort arbeiten, wo sie zu Hause sind.

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2.8 Globalisierung

Die europäische Integration und die Globalisierung bestimmen derzeit auch in Deutschland weitgehend die wirtschaftlichen Trends. Die deutsche Wirtschaft wickelt etwa ein Drittel ihrer Geschäfte mit dem Ausland ab und ist deshalb stark vom internationalen Handel abhängig. Damit verbunden ist ein überproportionales Wachstum des grenzüberschreitenden Verkehrs und der internationalen Transporte. Deutschland ist das wichtigste Transitland in Europa, bedingt u. a. durch die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa. Beispielsweise haben für Nordrhein-Westfalen die Häfen an der Nordseeküste, vor allem Antwerpen und Rotterdam mittlerweile fast die Bedeutung von Hamburg und Bremerhaven erreicht. Diese enormen Zuwachsraten bei den niederländischen und belgischen Häfen sind ein Indikator für die immer stärkere wirtschaftliche Integration innerhalb der EU, die auch zu stark steigenden Verkehrsströmen führt.

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Globalisierung bedeutet auch Zunahme der weltweiten Arbeitsteilung. Es kommt zu einer Auflösung traditioneller Wirtschafts- und Produktionsstrukturen und auch zu einer Verschärfung der internationalen Konkurrenz. Verbunden ist hiermit in vielen Fällen der Verlust von Arbeitsplätzen an einem Ort, und gleichzeitig entstehen an anderen Standorten zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten. Hinzu kommt, daß Standortentscheidungen heutzutage weniger dauerhaft sind. Es gibt einen zunehmenden Standortwettbewerb zwischen Städten und Regionen sowohl innerhalb Deutschlands als auch weltweit. Neuansiedlungen von Unternehmen, aber auch von großen Einkaufszentren und Vergnügungsparks werden häufig mit staatlichen Fördermitteln unterstützt. Beispiele zeigen, daß es hierbei auch zur Verlagerung von Betrieben oder Betriebsteilen kommen kann. Der Neuansiedlung an einem Ort steht dann die Betriebsschließung an einem anderen Ort - z. T. sogar im selben Bundesland - gegenüber und dabei oft auch mit der Konsequenz, daß jetzt die Produkte vom neuen zum alten Standort transportiert werden müssen. Es kommt also zu zusätzlichem Verkehr. Deshalb sollten entsprechende Förderprogramme nach Auffassung des UBA auch dahingehend überprüft werden, ob sie zur Nachhaltigkeit beitragen.

In Nordrhein-Westfalen z. B. ging in den letzten Jahren ein Drittel aller industriellen Arbeitsplätze verloren. In anderen Bereichen sind aber neue Jobs entstanden. Mittlerweile hat das früher montan geprägte Ruhrgebiet einen Dienstleistungsanteil von zwei Dritteln. Das Land Nordrhein-Westfalen plädiert dafür, die Chancen dieser Entwicklungen zu nutzen. Die Möglichkeiten der Schaffung von Arbeitsplätzen liegen nicht nur im traditionellen Dienstleistungssektor und im Mediensektor, sondern auch im expandierenden Bereich des Verkehrs und der Logistik. Dabei ist zu beachten, daß sich das logistische Anforderungsprofil um den unmittelbaren Transport herum in den letzten Jahren stark verändert hat. Hierauf hat der Lkw sehr viel flexibler als die Bahn reagiert, wobei er auch seine spezifische Leistungsfähigkeit ausspielen konnte. Dagegen ist es der Bahn, die traditionell vor allem Montangüter, also Kohle, Stahl, Erze etc. transportiert hat, nur unzureichend gelungen, ihr Leistungsangebot den veränderten Anforderungen anzupassen. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Schiene im Güterverkehr große Marktsegmente verloren hat und trotz der Ansätze für eine unternehmenspolitische Neuorientierung, die im Zuge der Bahnreform umgesetzt werden, weiter an Boden verliert.

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts stellt sich für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft die Herausforderung, Kompetenz im Umgang mit Informations- und

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Kommunikationstechnologien zu beweisen. Daß hierbei schon Erfolge erzielt worden sind, spiegelt sich darin, daß die Informations- und Kommunikationstechnologie Ende der 90er Jahre die Wirtschaftsleistung der Automobilindustrie in Deutschland übertroffen und damit als wichtigste Branche abgelöst hat. Um die auch im internationalen Wettbewerb gute Position in diesem Wirtschaftssektor zu behaupten oder weiter auszubauen, bleiben umfangreiche Qualifizierungen erforderlich. Deshalb können nach Auffassung des Wuppertal Instituts Investitionen in die Bildung sinnvoller sein, als neue Straßen zu bauen. Dies wäre eine nachhaltigere, zukunftsfähigere und intelligentere Möglichkeit, die Gesellschaft und die Wirtschaft zu unterstützen. Der BDI warnt in diesem Zusammenhang vor einseitigen Strategien. Entscheidend sei es, sowohl Bildungsinfrastruktur als auch Mobilitätsinfrastruktur zu schaffen, um die Standortqualität insgesamt zu erhöhen.

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2.9 Verkehr als Standortfaktor

Der internationale Standortwettbewerb erfordert auch eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur. Das Beispiel der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung in Manchester zeigt nach Ansicht des BMVBW exemplarisch die Bedeutung einer guten Verkehrsanbindung. Ähnlich wie andere Montanregionen hatte Manchester einen Beschäftigungseinbruch erlitten. In wenigen Jahren gingen hier 15.000 Arbeitsplätze verloren. Mittlerweile sind in einem sehr kurzen Zeitraum auf dem zuvor von der Montanindustrie genutzten Gebiet über 30.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Einziger Grund für die erfolgreiche Ansiedlung von Unternehmen aus aller Welt sei der Bau eines Flughafens ohne jede Restriktion gewesen.

Insgesamt ist die englische Verkehrsinfrastruktur aber im Vergleich zur deutschen wesentlich leistungsschwächer. Gerade im Straßengüterverkehr sind die durchschnittlichen Transportzeiten deutlich höher. Im Ballungsraum London werden tagsüber durchschnittlich Geschwindigkeiten von 20 km/h gefahren. Der Verkehr bewegt sich also nicht schneller als zu Zeiten der Pferdekutsche. Trotzdem fließt sehr viel Kapital auch aus Deutschland nach England. Offenbar sind die Investoren also nicht allein auf die verkehrliche Infrastruktur fixiert. Andere Faktoren spielen wohl eher eine entscheidende Rolle. Verkehrliche Infrastruktur ist zwar auch wichtig. Mit ihrem Ausbau allein kann aber kein Wirtschaftswachstum geschaffen werden. Ein internationaler Vergleich verdeutlicht, daß auch andere Länder der Europäischen Union und die USA - ähnlich wie früher Japan und die südostasiatischen Länder - bei deutlich schlechteren Verkehrsinfrastrukturen wesentlich höhere Wachstumsraten und z.T. auch eine bessere Arbeitsplatzentwicklung erzielen. In Deutschland ist da-

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gegen trotz hoher Investitionsraten im Verkehr die Anzahl der Arbeitsplätze in den letzten Jahrzehnten rückläufig. Zu beobachten ist damit eine Entkoppelung des wirtschaftlichen Wachstums von der infrastrukturellen Ausstattung. Dies belegt, daß es keinen monokausalen Zusammenhang zwischen der Qualität der Verkehrsinfrastruktur einerseits und dem Wachstum von Wirtschaft und Beschäftigung andererseits gibt. Die Argumentation, daß Verringerungen beim Verkehrswegebau zu negativen Effekten auf das Bruttoinlandsprodukt und den Arbeitsmarkt führen, ist insofern auch in Deutschland nicht stichhaltig.

Fest steht, daß ein gut ausgebautes Verkehrsnetz auch zu Beeinträchtigungen des Ziels der Beschäftigungssicherung beitragen kann, indem die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland begünstigt wird. Niedrige Verkehrskosten und hohe Verkehrsqualität haben in Deutschland einerseits zwar die dezentrale Wirtschaftsstruktur und die aufgesplitterten Wertschöpfungsketten ermöglicht, andererseits aber auch zu Produktionsverlagerungen z. B. ins östlich benachbarte, billigere Ausland geführt. Insofern können sich gute verkehrliche Standortbedingungen also nachteilig auswirken. Gleichzeitig erhöhen sie aber auch die Exportfähigkeit inländischer Unternehmen und bilden so einen Vorteil für Deutschland bei der Nutzung der Chancen, die sich aus der bevorstehenden Osterweiterung der EU ergeben. Der BDI warnt deshalb vor Protektionismus und Einschränkungen der internationalen Arbeitsteilung, die auch durch den Verzicht auf einen weiteren Ausbau des Straßennetzes gefördert würden.

Das Wuppertal Institut weist darauf hin, daß die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen wesentlich von den Lohnkosten und Lohnnebenkosten abhängt. Für Deutschland ist festzustellen, daß die Arbeitskosten weltweit zu den höchsten gehören. Dies ist ein entscheidender Grund für die Entwicklung zu einem im Vergleich zu Japan - und heute auch schon gegenüber Großbritannien und den Niederlanden - teuren Produktionsstandort. Gleichzeitig wurde in Deutschland ein qualitativ hochwertiges Straßennetz aufgebaut, auf dem ein Lkw heute die dreifache Tagesleistung ausliefern kann, die vor etwa 30 Jahren möglich war. Zusätzlich wurde sichergestellt, daß sich die Verkehrskosten nur relativ geringfügig erhöhen und damit im internationalen Vergleich weiterhin günstig liegen. Niedrige Kosten und hohe Qualität im Verkehr sind auf der einen Seite ein Standortvorteil für die Wirtschaft. Auf der anderen Seite kann hierdurch allein der Standortnachteil hoher Arbeitskosten aber nicht aufgewogen werden. Die Standortbilanz und die Ansiedlung von Arbeitsplätzen hängen vielmehr auch noch von anderen Faktoren ab.

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Demnach sind gute, preiswerte und effektive Verkehrswege zwar wichtig, aber andere Faktoren wie Arbeitskosten, Steuersätze oder die Regulierungsdichte spielen für die Standortentscheidung vieler Unternehmen eher noch eine größere Rolle. Wenn also ein internationaler Vergleich zeigt, daß in Deutschland der Ausbau der verkehrlichen Infrastruktur überdurchschnittlich gut ist und die Kosten der Verkehrswegenutzung unterdurchschnittlich hoch sind, während sich die Situation bei anderen Aspekten - wie z. B. den Arbeitskosten - aber relativ ungünstig darstellt, erscheint es sinnvoller, den Produktionsfaktor Arbeit zu verbilligen als die verkehrlichen Standortbedingungen weiter zu optimieren. In diese Richtung zielt die ökologische Steuerreform, auf die im Kapitel 3.2.3 kurz eingegangen wird. Das Ökoinstitut schlägt vor, dieses Instruments auch mit der Bundesverkehrswegeplanung zu vernetzen. Beispielsweise könnten durch den Verzicht auf die Realisierung bestimmter Verkehrsprojekte freigesetzte Mittel für zusätzliche Reduzierungen der Lohnnebenkosten verwendet werden.

Das Problem der Verlagerung von Arbeitsplätzen aufgrund neuer Verkehrsinvestitionen besteht nicht nur zwischen verschiedenen Ländern. Erste Ergebnisse einer Studie für das englische Verkehrsministerium deuten darauf hin, daß auch auf nationaler Ebene die regionalen und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Straßenbaumaßnahmen nicht eindeutig sind. Vielmehr gibt es auf der einen Seite positive Beispiele, wie z. B. Manchester und verschiedene Hafenstädte. Auf der anderen Seite zeigen Gegenbeispiele aber auch, daß durch Infrastrukturinvestitionen Entleerungseffekte eintreten können. Hier wird die Wirtschaftskraft einer Region negativ beeinflußt, weil sie gerade in einem neuen oder verbesserten Korridor zwischen wirtschaftsstarken Räumen liegt und so anstelle von Wirtschaftsaktivitäten das Auspendeln gefördert wird. Solche Befürchtungen teilt das BMVBW nicht. Vielmehr wird die Auffassung vertreten, daß Verkehrswegeinvestitionen positive Arbeitsplatzeffekte haben, d.h. Arbeitsplätze schaffen oder sichern können. Diese Einschätzung wird nach Angaben des BDI durch andere Gutachten bestätigt.

Beschäftigungspolitisch erfolgreich war beispielsweise die Deutsche Bahn AG (DB). Das Unternehmen berücksichtigt bei seinen Investitionen nach eigenen Angaben insbesondere mittelständische Unternehmen der Region. Im Geschäftsjahr 1998 wurden Aufträge an die Wirtschaft im Gesamtvolumen von 22,8 Mrd. DM mit einem Anteil von 6,6 Mrd. (29%) an den Mittelstand vergeben. Damit erzielte die DB eine Beschäftigungswirkung von insgesamt 200.000 Arbeitsplätzen, davon 60.000 in den neuen Bundesländern.

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Nicht nur auf nationaler Ebene versucht man, mit Infrastrukturprojekten im Verkehrsbereich zur Stabilisierung von Wirtschaft und Beschäftigung insbesondere in unterentwickelten Regionen beizutragen. Auch die Europäische Kommission investiert erhebliche Teile der Mittel des Regionalfonds und des Kohäsionsfonds in Infrastruktur, um so auch in den weniger entwickelten Gebieten einen wirtschaftlichen Aufschwung in Gang zu bringen. Ähnlich sieht das Europäische Raumentwicklungskonzept (EUREK), dessen Grundsätze das BMVBW in den neuen BVWP einbeziehen will, in der Verbesserung der Erreichbarkeit eine wichtige Bedingung, aber keine Garantie für eine wirtschaftliche Belebung bislang unzureichend erschlossener Regionen. Dabei kann auch durch den Ausbau der transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN), für die die im Juli 1996 verabschiedeten gemeinschaftlichen Leitlinien einen verkehrspolitisch modernen und aktuellen Orientierungs- und Bezugsrahmen bilden, die Lagegunst peripherer Räume generell in Europa und auch in Deutschland günstig beeinflußt werden. In diesem Zusammenhang ist aber auch zu berücksichtigen, daß nur die relative Isolierung der abseits der Hauptverkehrskorridore liegenden Gebiete in einer Reihe von Fällen dort für das Überleben der regionalen Wirtschaft ausschlaggebend war. Durch zusätzliche Verkehrserschließungen wird dieser Schutz durch Abgrenzung beseitigt und das Umland der ökonomisch starken Gebiete erweitert. Dadurch können 'Pumpeffekte' entstehen: Neue Infrastruktur in Gebieten mit bislang geringer Verkehrsanbindung fördert die Ausschöpfung von deren endogenen Ressourcen durch weiter entferntere wirtschaftsstärkere Regionen. Die mit zusätzlichen Verkehrswegen ausgestatteten Wirtschaftsräume müssen sich jetzt also im Wettbewerb um Industriebetriebe und Dienstleistungsanbieter verstärkt gegen Gebiete mit ökonomischen Standortvorteilen behaupten. Dies wird um so eher gelingen, je intensiver die Verbesserung der Erreichbarkeit mit einer Stärkung der endogenen Potentiale der Regionen verknüpft wird. Dabei erscheint eine Abstimmung mit neueren europäischen Konzepten von international konkurrenzfähigen Regionen und Städtenetzen wie EUREK erforderlich. Mit solchen Tendenzen zu ausgewogenen Städteverbünden und Regionalkomplexen ergeben sich auch andere Anforderungen an eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur, die in einem neuen BVWP auch berücksichtigt werden sollten.

Zwischen Arbeitsplätzen und Verkehrswegeinvestitionen bestehen direkte und indirekte Zusammenhänge. Neben den längerfristigen Beiträgen, die aus den wirtschaftlichen Impulsen der besseren verkehrlichen Erschließung von Regionen resultieren, gibt es unmittelbar durch eine Baumaßnahme geschaffene Arbeitsplätze, die nur für die Dauer der Bauphase entstehen. Der BUND weist darauf hin, daß nach Zahlen der deutschen

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Straßenliga für ca. 10 Mio. DM im Durchschnitt 300 m Autobahn gebaut werden können. Mit diesem Investitionsbetrag werden ca. 150 Arbeitsplätze geschaffen. Wenn diese 10 Mio. DM aber in Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung, in den ÖPNV oder in das modernisierungsbedürftige Gleisnetz der DB investiert würden, dann hätte dies erheblich größere Arbeitsplatzeffekte. Die deutsche Straßenliga spricht von 200 Arbeitsplätzen, die bei einer solchen alternativen Verwendung der Investitionsmittel entstehen würden. Diese Differenzen sind bei der Entscheidung über die Verwendung der umfangreichen Investitionsmittel des Verkehrshaushalts des Bundes zu beachten, zumal die Schaffung von Arbeitsplätzen für die neue Bundesregierung die höchste Priorität hat. Auch der VDA betont, daß die Wachstums- und Beschäftigungsaspekte zusätzlicher Infrastrukturinvestitionen wieder stärker ins Blickfeld gerückt werden müssen. Nach Angaben des Verbandes lassen sich mit einer Investitionssumme von 1 Mrd. DM 12.500 Arbeitsplätze schaffen oder sichern.

In diesem Zusammenhang ist aber auch ein oft vernachlässigter Aspekt des Verkehrswegebaus zu berücksichtigen. Dabei geht es um die Zerstörung von Arbeitsplätzen vor allem in der Landwirtschaft. Für den Bau von Straßen und Eisenbahnstrecken werden in erheblichem Ausmaß auch Ackerflächen verwendet. Dadurch gehen zunächst Arbeitsplätze in den häufig strukturschwachen Regionen verloren, denen oft erst Jahre später neue Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Wirtschaftssektoren gegenüberstehen.


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