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1. Verkehrspolitische Grundsätze

Der Verkehrsinfarkt in den Städten, Staumeldungen auf den Autobahnen, Massenkarambolagen im Nebel, Unfalltote, Schwerverletzte, aber auch Klimaveränderungen und der Treibhauseffekt kennzeichnen die Situation in den alten wie in den neuen Bundesländern übereinstimmend. Es gibt aber auch große Unterschiede, sowohl im Bewußtsein und im Denken der Menschen als auch in der aktuellen Realität. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen die einzelnen Problembereiche mit unterschiedlichen Prioritäten zur Kenntnis. Ihre verkehrspolitischen Erwartungen sind außerordentlich vielfältig.

Gefordert werden hohe Mobilität und hohe Verkehrssicherheit, verkehrsfreundliche Städte und Wohnqualität, schnelle Straßen sowie schnelle Autos und geringe Lärmbelästigung, niedrige Benzinpreise und wirksamer Umweltschutz. Ähnlich verhält es sich mit den Erwartungen der Wirtschaft. Während etwa die Automobil Industrie auf hohe Verkaufsraten hofft, erwarten andere Branchen ein stau- und störungsfreies, effektives Beförderungs- und Transportsystem. Diese widersprüchlichen Haltungen und Zielkonflikte zeigen, daß das herkömmliche politische Instrumentarium über Jahre hinweg versagt hat.

Ein Sachverhalt, der sich leider mehr und mehr auch in den neuen Bundesländern zeigt. Der Umstieg von Bahn und Bus auf PS-starke Westautos läuft auf hohen Touren, der Ausbau der Straßen rangiert meist vor dem der Schienen. Die Verkehrsentwicklung der alten Bundesländer wird jetzt im östlichen Deutschland offenbar im Zeitraffertempo nachgeholt. Damit sind die bekannten negativen Ergebnisse vorprogrammiert.

Trotzdem gibt es Chancen, die verkehrspolitischen Fehler, die während der letzten 40 Jahre in der alten Bundesrepublik gemacht wurden, in den neuen Bundesländern nicht zu wiederholen.

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Die Verkehrspolitik braucht eine neue gesellschaftliche Wertordnung - ein Fortschrittsmodell, das die Einheit des technischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Fortschritts herstellt.

Mobilität ist ein Bedürfnis der Menschen. Aber ihr Umfang und ihre Qualität können durch neue Verkehrskonzepte ökologisch und ökonomisch befriedigender geregelt werden. Insoweit erhält gerade der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ein neues Selbstverständnis und neue Aufgaben für die Zukunft.

Dieser Meinungsschwenk wird in der Öffentlichkeit immer deutlicher spürbar. Auch die Industrie, insbesondere die Automobilindustrie, erkennt die Zeichen der Zeit. Der Verband der Automobilindustrie propagiert zum Beispiel für den ÖPNV eine neue Aufgabenstruktur und eine Arbeitsteilung mit dem Pkw, der eben nicht für alle Beförderungsbedürfnisse das optimale Verkehrsmittel ist.

Am deutlichsten wird dies im Berufsverkehr in den Ballungsräumen. Hier steht sich der Pkw oft selbst im Weg:

aus dem F a h r -zeug wird ein S t e h -zeug. Damit ist der Verkehrsinfarkt morgens und abends an vielen Stellen bereits Realität.

Neue Lösungen sind nötig. In den großen Städten drängen die Probleme am stärksten. Die Schwierigkeiten können nur bewältigt werden, wenn Busse und Bahnen, aber auch andere alternative Verkehrsmittel deutlich stärker genutzt werden.

Notwendig ist ebenfalls eine neue Generation von Pkw:

Fahrzeuge, die speziell für den Stadtverkehr entwickelt werden - sparsam, wendig, mit geringem Parkraumbedarf. Leider ist diese Aufgabe bisher nur recht halbherzig angefaßt worden. Vertreter der Automobilindustrie reichen den "Schwarzen Peter" an die Politiker weiter mit dem Argument, daß eindeutige politische Vorgaben im Rahmen eines

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integrierten Verkehrskonzepts fehlen. Dieser Vorwurf ist berechtigt.

Für die Qualität der Verkehrsleistungen im ÖPNV spielt die Tür-zu-Tür-Reisezeit eine wichtige Rolle. Hier hapert es jedoch vielfach, wenngleich nicht die öffentlichen Verkehrsmittel dafür verantwortlich zu machen sind. Gerade im Berufsverkehr produzieren die Pkw viele Verkehrsstaus, blockieren auch Busse und Bahnen und berauben sie damit einer Attraktivität, auf die diese dringend angewiesen sind. Das ist grundsätzlich nicht zulässig. Hier müssen vor allem die Kommunen ihre Handlungsmöglichkeiten nutzen. Die Kommunalpolitiker können vor Ort sehr wohl pragmatische Lösungen umsetzen, die zu kürzeren Fahrzeiten im ÖPNV führen. In vielen Städten geschieht das bereits, und die Bereitschaft der Bevölkerung, diese Entscheidungen mitzutragen, wächst.

Die Bundesrepublik ist ebenso in der Pflicht. Sie muß bessere Rahmenbedingungen für den ÖPNV schaffen. Investitionen für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr werden abhängig gemacht von ihrem betriebswirtschaftlichen Nutzen. Beim Straßenbau erfolgen solche betriebswirtschaftlichen Prüfungen dagegen nicht. Dem ÖPNV werden hohe Kosten für Bau und Unterhaltung - beispielsweise von Tunneln - angelastet; dabei könnte die Verkehrssituation in vielen Fällen wesentlich besser dadurch entschärft werden, daß man den Autoverkehr unter die Erde verbannt. Auch sonst wird oft mit zweierlei Maß gemessen. Dies zeigt z.B. die nichtssagende Forderung nach Orientierung der Verkehrsinvestitionen am Bedarf. Für den Straßenbau wird in diesem Zusammenhang immer der Maximalbedarf des morgendlichen Berufsverkehrs oder der beginnenden Ferienzeit zugrundegelegt. Bezogen auf den nächtlichen Straßenverkehr sind heute alle Straßen überdimensioniert.

Im öffentlichen Verkehr wird dagegen fast immer nur der minimale Bedarf genannt. Weil abends oder an Wochenenden die Züge nur schwach besetzt oder gar leer sind, soll dann

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eine ganze Strecke geschlossen oder eine Linie eingestellt werden.

Die Verkehrspolitik braucht also neue Strukturen. Allen Verkehrsträgern sollten faire Wettbewerbsbedingungen und Chancengleichheit zugebilligt werden; zwischen dem ÖPNV und dem eigenen Kraftfahrzeug sollte der Bürger eine gleichwertige Alternative vorfinden.

Entscheidende Voraussetzung hierfür ist die vergleichbare Gestaltung der Kostenstruktur, die bisher einseitig den ÖPNV benachteiligte. Die Fixkosten beim Pkw müssen deshalb in variable Kosten umgewandelt werden, so daß der Preis pro Kilometer auch für jeden Nutzer sichtbar und als reale, schnell nachvollziehbare Vergleichsgrundlage erkennbar wird. Die Abschaffung der Kfz-Steuer und eine Erhöhung der Mineralölsteuer sind unter ökologischen Gesichtspunkten für die Verminderung des Energieverbrauchs zweckmäßig und verkehrspolitisch sogar notwendig, wenn die Wettbewerbsvorteile des Pkw im Vergleich zu öffentlichen Verkehrsmitteln abgebaut werden sollen.

Ein weiteres Beispiel: Busse und Bahnen sind sehr viel sicherer und viel weniger umweltschädlich als der Pkw. Trotzdem können sie diesen Vorteil am Markt nicht umsetzen, denn Umweltschädlichkeit und Verkehrssicherheit sind bisher keine Komponenten für die Preisgestaltung. Sie müßten dort jedoch als besonderer Vorteil zur Geltung kommen.

Die Städte ersticken im Berufsverkehr, weil der Individualverkehr alles zuwuchert. Dieser Zustand wird ständig beklagt - aber er wurde bislang toleriert und sogar noch steuerlich gefördert: Wer seinen Pkw im Berufsverkehr fährt, darf ein deutlich höheres Kilometergeld bei der Lohn- und Einkommensteuer geltend machen als der Nutzer des ÖPNV. Diese steuerliche Bevorzugung des Pkw ist nicht länger zu verantworten. Sie muß vielmehr umgewandelt wer-

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den in eine allgemeine Entfernungspauschale, die für Autofahrer, Fahrgäste des ÖPNV und Mitglieder von Fahrgemeinschaften in gleichem Umfang gilt.

Nicht nur steuerlich wird die Pkw-Nutzung im Berufsverkehr umfangreich gefördert. Viele Arbeitgeber stellen ihren Beschäftigten kostenlos Parkplätze an der Arbeitsstelle zur Verfügung. Auf dem freien Markt würde der monatliche Mietpreis für einen Einstellplatz - je nach Lage und Ausstattung - zwischen 50,- und 250,- DM betragen. Andere Beschäftigte, die beispielsweise Busse und Bahnen für ihren Arbeitsweg benutzen, erhalten keine vergleichbaren Leistungen ihrer Arbeitgeber. Aber gerade sie sorgen, weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, für die kürzeren Fahrzeiten bei ihren motorisierten Kollegen.

Auch hier muß eine gerechtere Lösung gefunden werden, die den Pkw-Benutzer nicht begünstigt. Der Präsident einer Industrie- und Handelskammer im Ruhrgebiet bezifferte die Kosten für einen Parkplatz auf DM 8,- pro Stunde, wenn man den Grundstückspreis in den Innenstädten zugrundelegen würde! Gäbe es diese Subventionen nicht, würden viele Arbeitnehmer ihr Fahrzeug in den Außenbereichen stehenlassen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Zentrum kommen: ein Ergebnis, von dem viele Stadtplaner träumen.

Die jetzigen Verkehrsstrukturen sind demnach auch die Folge falscher Preissignale. Die mit dem Verkehr verbundenen Kosten einschließlich der externen Kosten spiegeln sich nur unzureichend, wenn überhaupt, in den Preisen für verschiedene Verkehrsleistungen wider. Besonders die wachsenden ökologischen Folgeschäden des Verkehrs erfordern eine Politik, die im marktwirtschaftlichen Rahmen vor allem das Preisgefüge schrittweise so ändert, daß sich darin auch die tatsächlichen Kosten des Verkehrs ausdrücken.

Deshalb muß mehr als bisher das Verursacherprinzip gelten. Die Verkehrsträger haben für die von ihnen hervorgerufenen

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Wege-, Unfall- und Umweltkosten selbst einzustehen. Erforderlich ist im Sinne der Wettbewerbsgleichheit eine Vollkostenkalkulation. Auch die "externen" Kosten müssen sich adäquat in Preisen ausdrücken. Damit wird die dynamische Punktion des Marktes in den Dienst der Verkehrspolitik gestellt.

Die Verkehrspolitik muß zum Ziel haben, Angebot und Struktur der ÖPNV-Leistungen durch eine stärkere Integration zu verbessern sowie politische und finanzielle Verantwortung und Zuständigkeit regional konzentrieren. Hierfür ist eine verbesserte Finanzausstattung für die Träger des ÖPNV erforderlich, die die volle Abdeckung der Verluste der Deutschen Bundesbahn im Nahverkehr, die Aufhebung der Beschränkungen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG), die Schaffung von ÖPNV-Sonderfonds und die Umschichtung von Bundesmitteln entsprechend der Verantwortung für den ÖPNV umfaßt. Die Bundesbahn muß bereit sein, sich mit ihren Busdiensten und dem Schienenpersonennahverkehr aktiv am ÖPNV zu beteiligen. Die Länder und die kommunalen Gebietskörperschaften müssen mehr als bisher Verantwortung für einen "vor Ort" zu organisierenden ÖPNV übernehmen.

Die Förderung und der konsequente Ausbau attraktiver öffentlicher Verkehrssystem tragen dazu bei, die Umwelt für die Bürger wieder menschlicher und lebenswerter zu machen. Deshalb gehört der ÖPNV an die Spitze der Prioritätenliste in Bund, Ländern und Kommunen. Die Bürger müssen eine echte Alternative zum Individualverkehr bekommen. Handlungskonzepte hierfür gibt es zur Genüge. Notwendig bleibt der politische Wille, sie auch umzusetzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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