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TEILDOKUMENT:


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Gisela Dybowski
Perspektivwechsel in der Qualifizierungspolitik: Lebensbegleitendes Lernen


1. Herausforderungen des wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Wandels


Wirtschaft, Politik und Wissenschaft betonen die Bedeutung der Humanressource auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene. Die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist wettbewerbsentscheidend - so wird immer wieder hervorgehoben. Doch berufliche Qualifikationen und personelle Kompetenzen lassen sich nicht auf „Knopfdruck„ bereitstellen, wie wir aus den jüngsten Entwicklungen in der Computerbranche gelernt haben. Aber auch jenseits der Diskussion um die Green Card sind Veränderungen, wie im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien kaum noch exzeptionell, sondern eher symptomatisch für die Schnellebigkeit von Entwicklungen, die heute alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche erfassen.

Schaubild 1: Dimensionen des Strukturwandels

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Wir leben in einer Zeit, die durch einen vielfältigen und umfassenden Wandel gekennzeichnet ist. Dieser betrifft viele Bereiche und Aspekte in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, z. B.:

  • Die Internationalisierung von Wirtschaft und Handel, maßgeblich vorangetrieben durch die modernen elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten;

  • den Strukturwandel innerhalb der Volkswirtschaften zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft;

  • neue Formen der Arbeit und Arbeitsorganisation, auch der Selbständigkeit;

  • Berufsverläufe und Erwerbsbiographien, die Stellung der Erwerbsarbeit an sich, das Verhältnis von Aus- und Weiterbildung sowie

  • den gesellschaftlichen Wertewandel.

Diese Wandlungsprozesse tangieren nicht nur den Bereich der Berufstätigkeit, sondern alle Lebensbereiche. Sie erzeugen einen immer größer werdenden Bedarf an Qualifikationen und personellen Kompetenzen, den ich im folgenden nur umrisshaft skizzieren möchte [Vgl. dazu auch Programmbeschreibung für das BLK-Modellversuchsprogramm „Lebenslanges Lernen„ vom 17. August 1999. Hektographiertes Manuskript sowie Pahl, V.: „The Position of the German Federal Government on Vocational Training and Liefelong Learning„. Referat anlässlich der Konferenz „Vocational Training and Lifelong Learning in Australia and Germany. Potsdam, 30.05.2000. Hektographiertes Manuskript.].

  • Die sich rasch wandelnden Anforderungen im persönlichen und gesellschaftlichen Leben erhöhen den Bedarf an umfassendem Orientierungswissen sowie personellen, interkulturellen und sozialen Kompetenzen, wie z.B. Kommunikations-, Konflikt- und Teamfähigkeit und Handlungskompetenz.

  • Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien stellen nicht nur einen Strukturwandel in der Arbeitswelt, sondern in allen Lebensbereichen dar. Sie müssen daher auch als Gegenstand betrachtet werden, mit dem das Bildungswesen sich zunehmend auseinanderzusetzen hat. So müssen nicht nur Fragen der Medienkompetenz, sondern auch der

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    Bedeutung von Technik und Innovation im Zusammenspiel mit Qualifikationsprozessen geklärt werden.

  • Der zunehmende Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung erfordert einen Ausbau der Weiterbildungsangebote, vor allem während des Erwerbslebens, aber auch nach Ende der Erwerbstätigkeit.

  • Aufgrund der fortschreitenden technologischen Entwicklung schwindet die Beschäftigungssicherheit im einmal erlernten Beruf. Die Notwendigkeit, sich mehr als früher auf Tätigkeits- und Berufswechsel einzulassen, steigt. Neues beruflich-fachliches know-how wird notwendig. Auf der betrieblichen Ebene wächst die Bedeutung einer Anpassung der Qualifikationen an veränderte Formen der Arbeitsorganisation. Wichtiger wird auch die Verknüpfung von Qualifikationsänderungen mit technischen Innovationen zur Entwicklung neuer Produkte. Qualifikationsanforderungen ändern sich ferner im Zuge mit der wachsenden Bedeutung von Dienstleistungen.

  • Nicht zuletzt erfordern kulturelle Vielfalt, Rechtsradikalismus und Umweltprobleme neue gesellschaftliche Konzepte, bei denen Bildung und Qualifizierung helfen und den sozialen Zusammenhalt in der Demokratie stärken können.

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2. Stellenwert von Bildung und Berufsbildung

Bildung, Qualifikationen und Kompetenzen sind von entscheidender Bedeutung für die Lebenschancen der Menschen, für die wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Entwicklung und damit für den allgemeinen Wohlstand unseres Landes. Ständige Weiterentwicklung nicht nur der beruflichen Qualifikationen und Kompetenzen, sondern auch die Weiterentwicklung des allgemeinen Wissens und Orientierungsvermögens, der Selbständigkeit und Eigenverantwortung sind heute unverzichtbar. Nur kontinuierliches Lernen befähigt die Menschen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ständig weiterzuentwickeln, ein eigenständiges Leben zu führen, die Gesellschaft mitzugestalten und ihren beruflichen Aufstieg und ihre Existenz zu sichern.

Welche Konsequenzen haben dieser Anforderungen für das Bildungs- und Berufsbildungssystem? Ist Bildung und Berufsbildung flexibel genug, um

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sich rasch auf die veränderten Anforderungen einstellen zu können und aktiv bei der Gestaltung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels mitwirken zu können?

Ich denke, auf diese Frage mag z. Zt. niemand eine zielsichere Antwort geben. Denn kontinuierliches Lernen setzt nicht nur eine veränderte Einstellung zum Lernen voraus, sondern ist auch in hohem Maße an einen Paradigmenwechsel im Bildungs- und Berufsbildungssystem gebunden, der gleichermaßen die Lernfähigkeit dieses Systems auf den Prüfstand stellt, wie dessen Flexibilitätspotentiale auf struktureller, organisationaler und individueller Ebene.

Strukturell liegt eine große Chance im gestiegenen Qualifikationsniveau der großen Mehrheit der Erwerbstätigen. Dieser Vorteil ist jedoch nur dann offensiv zu nutzen, wenn sich das Bildungs- und Berufsbildungssystem als lernfähig erweist und Strukturen auf- und ausbaut, die eine breite Entwicklung des lebensbegleitenden Lernens fördern, an der alle Mitglieder der Gesellschaft teilhaben können. Eine solche Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Bildung und Ausbildung nicht in einer ersten Lebensphase abgeschlossen, sondern ständige Aufgabe sind. Dafür ist allerdings ein Reformansatz nötig, der auf eine neue Lernkultur, auf Kontinuität von Bildung und Ausbildung in einem lebenslangen Lernprozess ausgerichtet ist. Das ist nicht allein damit getan, angebotsförderliche Rahmenbedingungen zu schaffen oder Jugendlichen und Erwachsenen eine zweite oder dritte Chance zur Qualifizierung zu geben. Alle sollen vielmehr vorbereitet, motiviert und aktiv unterstützt werden, lebenslang zu lernen. Dementsprechend sind auch Benachteiligungen beim Zugang zu einer bestmöglichen Erstausbildung ebenso wie zu weiterführender Bildung abzubauen.

Aber auch organisatorisch erfordert die Realisierung lebenslangen Lernens ein Umdenken. Denn es geht dabei kaum um einen bloß quantitativen Zuwachs an Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Den innovativen Kern einer Bildungsinfrastruktur, die auf Lebensbegleitendes Lernen ausgerichtet ist, bilden vielmehr bildungs-, bereichs- und trägerübergreifende Netzwerke auf regionaler und überregionaler Ebene. Zu den wesentlichen Aufgaben, die derartige Netzwerke leisten sollen, zählen:

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  • die Zusammenarbeit zwischen Bildungs-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik zu stärken und die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen zu fördern;

  • die Transparenz der Bildungsangebote i.S. einer stärkeren Kundenorientierung zu erhöhen;

  • Qualität und Verwertbarkeit der Bildungsangebote zu sichern, z.B. durch Vereinbarungen gemeinsamer Qualitätskriterien sowie

  • eine intensivere Nutzung der Möglichkeiten der neuen Medien zur Entwicklung neuer Lern- und Qualifizierungsangebote.

Schließlich ist die Realisierung lebensbegleitenden Lernens mit neuen Anforderungen an die Individuen verbunden, verlangt also mehr individuelle Flexibilität. Denn lebensbegleitendes, kontinuierliches Lernen setzt vor allem auf die Eigenverantwortung des Lernens, d.h., die Eigenverantwortung der Lernenden wird zum Grundprinzip des Lernens. Damit sind umfassende curriculare und didaktisch-methodische Veränderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems verbunden. Denn die Stärkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem, selbstgesteuertem Lernen ist eine der wesentlichen Aufgaben zukünftiger Bildungspolitik, aber auch zukünftiger Qualifizierungspraxis. Selbstgesteuertes, eigenverantwortliches Lernen bedeutet nicht, die Lernenden sich selbst zu überlassen nach dem Motto „wer lebt, der lernt„. Selbstgesteuertes Lernen erfordert vielmehr Anleitung und Unterstützung, erfordert Coaching sowie Beratung und Ermutigung. Unterstützung ist unabhängig davon notwendig, an welchem Lernort - Schule, Betrieb, Hochschule, Weiterbildungseinrichtung oder im Privatleben - und in welcher Lernphase sich die Lernenden befinden. Die Aufforderung zum lebensbegleitenden Lernen beinhaltet die Verpflichtung, hierfür geeignete Rahmenbedingungen und Systemvoraussetzungen zu entwickeln und bereitzustellen.

Selbstgesteuertes Lernen ist der Weg zur Professionalisierung des eigenen Lernens und damit die Voraussetzung dafür, dass das lebenslange Lernen nicht auf dem Niveau verharrt, das sich von alleine einstellt. Beim lebenslangem Lernen liegt der Schwerpunkt auf der lernenden Person, auf dem subjektiven Vorgang des eigenen Lernens. Diesen Prozess gilt es zu fördern und zu unterstützen. In diesem Sinne muss das Lernen in den Bildungseinrichtungen auch die persönliche Entwicklung des Einzelnen fördern, das

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Lernen des Lernen ermöglichen und dazu beitragen, dass jeder Einzelne mehr Verantwortung für den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten übernehmen kann, von Anfang an und ein Leben lang.

Was ich mit diesen drei Dimensionen der Flexibilität skizzieren wollte, sind folgende Grundprinzipien:

  • Lebensbegleitendes Lernen setzt nicht auf Sicherheit und Stabilität durch feste, unveränderbare Strukturen, bewährtes Wissen, routinierte Wiederholungen und etablierte Organisationsformen. Im Konzept „Lebensbegleitendes Lernen„ ist der individuelle und gesellschaftliche Veränderungswille, die Lernbereitschaft und Entwicklung von Neuem sowie Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein immer wieder neu herzustellen. Lebensbegleitendes Lernen zielt nicht auf eine starre Definition der Lernorganisation, sondern auf eine lernende Organisation.

  • Die Stärkung der Eigenverantwortung ist die Voraussetzung dafür, dass der Einzelne unter den Bedingungen des Wandels seine Potentiale optimal entfalten und sich selbst immer wieder neu orientieren kann. Die Förderung der Kooperation und Vernetzung der Akteure ist Voraussetzung dafür, dass die vorhandenen Potentiale benutzt werden und neue Strukturen und Synergieeffekte zur Bewältigung der Komplexität entstehen.

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3. Perspektivwechsel in der Qualifizierungspolitik

Was bedeuten diese Prinzipien für berufliche Qualifizierungsprozesse? Sie beinhalten zweifellos eine andere berufliche Lernkultur als die heutige. Der Aufbau effizienter, kontinuierlicher Lernstrukturen ist ebenso erforderlich wie eine Differenzierung und neue Gestaltung beruflicher Lernprozesse und die Förderung neuer Wege beruflicher Kompetenzentwicklung.

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Schaubild 2: Die Zukunft der beruflichen Bildung

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Ein wesentliches zukünftiges Moment einer neuen beruflichen Lernkultur wird es sein, informelles Lernen stärker zu fördern und besser zu nutzen - eine Diskussion, die in anderen Ländern bereits sehr viel intensiver geführt wird als in Deutschland und auf die ich daher im folgenden etwas genauer eingehen möchte [Vgl. dazu „Informelles Lernen besser nutzen„. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Impulse für die Berufsbildung. BIBB Agenda 2000plus. Bielefeld 2000, S. 213 bis 220.].

Mit der in den letzten Jahren aufgestellten und zunehmend von allen politischen Seiten gestützten Forderung nach mehr Verantwortlichkeit des Einzelnen für die Sicherung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit rücken Selbstorganisation und Eigeninitiative für das Lernen auch in der beruflichen Bildung in den Mittelpunkt. Die Fähigkeit des „Lernens zu lernen„ gehört nicht zuletzt aus diesem Grund neben der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit zu den weltweit am stärksten betonten Schlüsselqualifikationen. Die Sicherung individueller Beschäftigungsfähigkeit ist das arbeitsmarktliche Pendant zum bisher überwiegend pädagogisch formulierten Ziel des „Lernen lernen„. In dieser Perspektive erhält selbständiges, informelles Lernen ein weitaus höheres individuelles, aber auch berufsbildungspolitisches Gewicht. Wissenschaft und Praxis müssen sich intensiver damit auseinandersetzen.

Dabei signalisiert die verstärkte Hinwendung auf informelles Lernen - neben seiner von vielen Betrieben erwarteten und begrüßten Kostenersparnis - auch die Auffassung, dass pädagogisch organisierte, institutionalisierte Lehr- und Lernprozesse häufig hinter dem aktuellen und teilweise sehr speziellen Qualifikationsbedarf einer sich rasch verändernden Wirtschaft zurückbleiben (müssen). Folglich setzt man auf das flexible, lernbereite Individuum, das je nach Situation und Anforderungen eigenständig und oft unbemerkt die notwendigen Kompetenzen kurzfristig erwirbt. Ein überzeugendes Beispiel für dieses individuelle Lernen ist „Job-Rotation„: Meist ohne formalisierte Weiterbildung wird in kurzer Zeit die neue Aufgabe bewältigt.

Die gegenwärtige Entwicklung ist jedoch durchaus zweischneidig. Niemand wird bestreiten, dass dem Menschen eine spontane Lernfähigkeit zu Eigen ist, die durch ein „Zuviel„ an externer Steuerung und didaktischer Überformung allmählich zurückgedrängt wird, und zwar insbesondere dort, wo

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professionell gelehrt wird: also in Bildungseinrichtungen. Denn bezeichnenderweise wird in anderen Situationen durchaus weiter spontan und selbstmotiviert gelernt. Andererseits ist angesichts wachsender Komplexität des Arbeitshandelns sowie der zunehmenden Abstraktheit von Geschäfts- und Produktionsprozessen für viele eine systematische, zielgruppengerechte Unterstützung unverzichtbar: organisiertes, strukturiertes Lernen auch am Arbeitsplatz wird gebraucht. Alles nur der persönlichen Erfahrung und dem Selbstlernen zu überlassen, ist problematisch. Selbstgesteuertes Lernen, der Gewinn von übertragbaren, richtigen Erkenntnissen aus der Arbeit sowie anderer lebensweltlicher Zusammenhänge und die individuelle Wahl von Bildungsangeboten haben ihre Grenzen. Eine einseitige Ausrichtung auf informelle Kompetenzentwicklung schafft zweifellos Probleme und neue Benachteiligungen. Folglich ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser Lernform als Komponente lebenslangen Lernens notwendig.

Was jedoch unbestritten ist, betrifft die Quantität informellen Lernens. Die entsprechenden empirischen Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen 70 bis 90% des beruflichen Kompetenzerwerbs auf informellem, selbstgesteuertem Wege geschieht. Dabei spielt zweifelsohne die Qualität des Arbeitsplatzes eine hervorragende Rolle, aber ebenso die Persönlichkeitsstruktur des Individuums.

Arbeit ist in unserer Gesellschaft jedoch sehr unterschiedlich verteilt - auch was ihre Qualität und ihre Lernpotentiale angeht. Überall dort, wo (Weiter-)
Lernen zwangsläufig zur Arbeitsaufgabe gehört (wie z.B. in Wissenschaft, Forschung, Beratung), hat der Betreffende vom Grunde her weitaus bessere Bedingungen, seine Kompetenzen und damit auch seine Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten oder weiterzuentwickeln. Im Vergleich dazu bestehen für die Fachkräfte geringere, aber in modern organisierten Betrieben beachtliche Möglichkeiten, in Arbeitssituationen zu lernen. Der unqualifizierte Arbeiter hat dagegen kaum Chancen. Daraus resultiert bildungsmäßige Polarisierung/Segmentierung der Beschäftigten in Abhängigkeit von den Lernpotentialen ihrer Arbeit. Diese Situation verschärft sich, wenn informelles Lernen in der Arbeit immer mehr gefordert wird und unterstützende, organisierte Lernangebote zurückgehen.

Sicher lässt sich Arbeit vielerorts lernförderlicher gestalten, und es können mehr Lernanreize gesetzt werden als das bisher in vielen Unternehmen geschieht. Aber dies hat Grenzen - aufgabenimmanente genauso wie öko-

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nomische. Deshalb ist bei aller Notwendigkeit, informelles Lernen zu fördern und anzuerkennen (zu zertifizieren), pädagogisch vorbereitetes, strukturiertes Lernen in der Arbeit sowie intentionales Lernen in Bildungseinrichtungen nicht zu reduzieren, sondern im Hinblick auf die Entwicklung einer Informations- und Wissensgesellschaft eher auszubauen. In der Wissensgesellschaft wird von jedem mehr Lernen erwartet, ein größerer Zuwachs an persönlicher Kompetenz in kürzerer Zeit. Dieser ist nur durch innovative Kombination von formalisiertem und informellem Lernen zu erreichen.

Lassen Sie mich dabei noch auf einen letzten, zunehmend dringlicheren Punkt eingehen: die Anerkennung und Anrechnung informellen Lernens. Berufs-/Arbeitserfahrung spielt für lebensbegleitendes Lernen und Beschäftigungsfähigkeit eine zentrale Rolle. Sie werden jedoch - bis auf wenige Ausnahmen (z.B. im Rahmen von Meisterprüfungen oder nachträglichen Externen-Prüfungen) - bisher in Deutschland kaum als „Bildungsbeitrag„ formell anerkannt, d. h. die in der Berufstätigkeit aufgebauten Kompetenzen kann man sich nicht zertifizieren und für angestrebte formale Abschlüsse anrechnen lassen. In anderen Staaten, beispielsweise Australien, England, den Niederlanden und Dänemark, ist man hier bereits weiter und geht neue Wege, wenngleich diese (noch) ihre eigenen Schwierigkeiten haben. Wesentlich ist jedoch die in anderen Ländern gezeigte Bereitschaft, informelles Lernen als Quelle von Kompetenzerwerb anzuerkennen.

Hier besteht ein dringlicher Forschungs- und bildungspolitischer Handlungsbedarf in Deutschland, denn die Entscheidung, individuellen Kompetenzerwerb nachträglich zu „sanktionieren„, hat zweifelsohne weitreichende Implikationen.

Vor dem Hintergrund ausländischer Erfahrungen sind folgende Anforderungen an eine Dokumentierung oder Zertifizierung informeller Lernergebnisse zu stellen:

  • Die Anerkennung muss auf einem transparenten und ausgereiften sowie zugleich praktikablen Bewertungs-/Prüfverfahren beruhen.

  • Das muss von einer vertrauenswürdigen, einschlägig kompetenten Institution durchgeführt und das entsprechende Zertifikat von ihr ausgegeben werden.

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  • Alle Hauptverantwortlichen in der beruflichen Bildung sollen beteiligt werden und einvernehmlich Bewertungsprozess und Zertifikat „sank-tionieren„.

  • Das Zertifikat soll sich auf die anerkannten Qualifikationsstandards der formalen Berufsbildung (Aus- und Weiterbildung) beziehen, um damit seine Gleichwertigkeit sicherzustellen.

Letztlich entscheiden über die Qualität eines solchen Zertifikats der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem. Es wird zu einer „harten Währung„, wenn sich die Beschäftigungschancen dadurch erhöhen sowie weiterführende formale Bildungskarrieren ermöglicht werden.

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Literatur

„Informelles Lernen besser nutzen„. In: Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.): Impulse für die Berufsbildung. BIBB Agenda 2000plus. Bielefeld 2000, S. 213 bis 220.

Pahl, V.: „The Position of the German Federal Government on Vocational Training and Lifelong Learning„. Referat anlässlich der Konferenz „Vocational Training and Lifelong Learning in Australia and Germany." Potsdam, 30.05.2000. Hektographiertes Manuskript.

Programmbeschreibung für das BLK-Modellversuchsprogramm „Lebenslanges Lernen„ vom 17. August 1999. Hektographiertes Manuskript.

[Seite der Druckausg.: 30 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

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