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2 Anhebung der Altersgrenzen, Ausgliederung älterer Beschäftigter und altersspezifische Zuschreibungsmuster

Im betrieblichen Umgang mit älteren Beschäftigten hat sich in der Bundesrepublik in den letzten Jahren eine anwachsende Frühverrentungspraxis entwickelt. Nachfolgend soll auf diese Entwicklung sowie ihre mögliche Abschwächung durch neue gesetzliche Rahmenbedingungen eingegangen werden. In einem weiteren Schritt ist dann nach den spezifischen Zuschreibungsmustern zu fragen, mit denen betriebliche Personalstrategien gegenüber älteren Beschäftigten legitimiert werden.

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2.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen und betriebliche Externalisierungspraxis

2.1.1 Die schrittweise Anhebung der Altersgrenzen als staatliche Reaktion auf die betriebliche Externalisierungspraxis

Mit dem am 23. 7. 1996 in Kraft getretenen ‘Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand’ und dem am 1.1.1997 in Kraft getretenen ‘Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz’ hat der Gesetzgeber „die nach dem Rentenreformgesetz 1992 bereits vorgesehene Anhebung der Altersgrenze von 60 auf 65 Jahre vorgezogen und beschleunigt" (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Januar 1997: S. 26). Mit der bis zum Jahre 2001 schrittweisen Anhebung des Rentenzugangsalters reagiert der Staat auf eine bisher von ihm, den Betrieben und den Beschäftigten konsensuell getragene Entwicklung in der betrieblichen Personalpolitik, die letztlich der Sozialversicherung enorme Kosten verursachte. Die Rede ist hier von der Ausgliederung älterer Beschäftigter im Rahmen betrieblicher Externalisierungsstrategien. Gesetzliche Rahmenbedingungen sowie die Interessen der Betriebe und Beschäftigten führten zu einer Frühverrentungspraxis, die aufgrund der Überbeanspruchung der Sozialversicherung staatlicherseits nun nicht mehr weitergetragen wird.

Zunächst soll in aller Kürze dieser Externalisierungstrend mit seinen Konsequenzen für die älteren Beschäftigten beschrieben werden, um dann auf die möglichen Veränderungen durch die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Ausgliederung älterer Beschäftigter aus dem Arbeitsprozeß zurückzukommen.

2.1.2 Der Externalisierungstrend: Ursachen und Akteure

In der Literatur wird der - bis mindestens Mitte 1996 anhaltende - Trend der frühzeitigen Ausgliederung älterer Beschäftigter über die „extensive Nutzung von Frühverrentungsmöglichkeiten" (Rosenow 1996: S. 34) aus der Erwerbsarbeit übereinstimmend konstatiert. [vgl. z.B. Bäcker 1995, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1997, Kohli/Wolf 1987, Rosenow 1989, Rosenow/Naschold 1993, Rosenow/Naschold 1994, Rosenow 1996, Wolf/Kohli 1988, Wolf 1989]
Hatte man zuerst diesen Trend vorwiegend in der privaten Wirtschaft verortet und beleuchtet, so gelangte die wissenschaftliche Analyse der Externalisierungspraxis zu der weiteren Erkenntnis, daß „auch non-profit-Bereiche wie der öffentliche Dienst .. gleiche Entwicklungstrends" (Rosenow 1996: S. 34) aufwiesen. Ist dieser Trend zwar in den meisten westlichen Industriestaaten zu verzeichnen, [vgl. Wolf/Kohli 1988: S. 188] so nahm jedoch Deutschland „mit den Niederlanden (und Frankreich) den internationalen Spitzenplatz unter den Ländern ein, die das Produktivitätspotential Älterer zunehmend weniger nutzen" (Rosenow/Naschold 1993: S. 147). Das ‘deutsche Externalisierungsregime’ zeichnete

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sich dabei in seinem Kern durch das hohe Austrittsniveau (extensive Nutzung von Frühverrentungsmöglichkeiten) und durch sein charakteristisches Austrittsmuster (gänzliche Aufgabe der Erwerbsarbeit und gleichzeitiger Bezug einer Frührente mit Lohnersatzfunktion) aus. [vgl. Rosenow/Naschold 1993: S. 147]

Die Ursachen für die frühzeitige Ausgliederung älterer Beschäftigter bis zur Anhebung des Rentenzugangsalters Mitte 1996 lagen primär in den betrieblichen Personalstrategien und entsprechen damit „weitgehend der Rationalität betriebswirtschaftlichen Handelns" (Rosenow/Naschold 1993: S. 151).

So schwächte z.B. die rationalisierungsbedingte Einführung neuer Technologien die Position der Älteren, da jüngere Beschäftigte über kohortenspezifische Ausbildungsvorteile verfügen, seitens der Betriebe als flexibler und weiterbildungsmotivierter beurteilt werden sowie die betriebliche Restnutzungszeit dieser Qualifikationen höher ist. Betriebliche Humankapitalinvestitionen in ältere Beschäftigte in Form von Weiterbildung wurden somit weitestgehend eingespart, da die entsprechenden Qualifikationen für den rationalisierten Produktionsprozeß ohne große finanzielle Eigenaufwendungen vom externen Arbeitsmarkt rekrutiert werden konnten. [vgl. dazu z.B. Wolf 1989, Lehr 1990, Rosenow 1989, Rosenow/Naschold 1993, Fritsch 1994]

Ein weiterer Grund für die Externalisierungspraxis war die betriebliche Anpassung von produktions- und absatzbedingten Personalüberhängen. [vgl. Kohli/Wolf 1987] Damit im Zusammenhang ist auch die Freiräumung von Vakanzketten (die Entlassung von Beschäftigten auf statushöheren Positionen) zu sehen, da die Betriebe Karrieremöglichkeiten - und damit Leistungsanreize - für ihre Beschäftigten in Aussicht stellen müssen. [vgl. dazu z.B. Rosenow 1989, Nienhüser 1992]

Entscheidend für die Praktizierung einer auf Externalisierung Älterer ausgerichteten Personalpolitik war nicht zuletzt die bereits oben kurz angedeutete Tatsache, daß es den Betrieben bis vor kurzem noch möglich war, verschiedenste innerbetriebliche Probleme auf Kosten der älteren Beschäftigten über sozialstaatlich finanziell abgefederte Maßnahmen zu lösen. Vor der Anhebung des Rentenzugangsalters 1996 galt: „Über die Verfügbarkeit eines differenzierten Rentenzugangsinstrumentariums mit erheblichen betrieblichen Steuerungsmöglichkeiten des vorzeitigen Rentenzugangs nutzen Unternehmen Ältere als eine bevorzugte personalwirtschaftliche Anpassungsressource, die sie in höchst unterschiedlichen Problemlagen einsetzen können. Empirische Untersuchungen zeigen, daß Frühverrentungen nicht nur zur Bewältigung von Leistungsproblemen Älterer, sondern auch zur Bewältigung von Konjunkturschwankungen, Rationalisierungsfolgen, Strukturkrisen, Prozeß- und Produktinnovationen sowie zur Anpassung betrieblicher Altersstrukturen genutzt werden" (Rosenow 1996: S. 36). [vgl. dazu auch Rosenow 1989, Rosenow/Naschold 1993, Rosenow/Naschold 1994, Wolf 1989]

Die Analyse dieser Praxis, ältere Beschäftigte als betriebliche Anpassungsressource zu nutzen, zeigt, daß dem Externalisierungstrend „ein komplexes institutionelles Bedingungsgefüge von Staat, Unternehmen und Beschäftigten" (Rosenow 1996: S. 38), einschließlich der jeweiligen Interessenvertretungen (Betriebsräte, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände), zugrunde lag.

"Praktisch handelt(e) es sich hierbei um eine staatlich alimentierte Personalpolitik der Unternehmen" (Rosenow 1996: S. 36). [Bundesrat und Bundesregierung sprechen von einer „Subventionierung des Personalabbaus und der Personalverjüngung durch die Sozialversicherung" ( Deutscher Bundestag 1996, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages , 13. Wahlperiode, Drucksache 13/4719: S. 1 u. S. 3, vergleiche auch Drucksache 13/4336: S. 14]
Unter diesen für sie hoch funktionalen Bedingungen sahen die Betriebe keinen Anlaß, gezielte Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Integration Älterer

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sowie die langfristige Nutzung ihres Leistungspotentials ermöglicht worden wäre, zumal auch seitens der Beschäftigten und ihren Vertretungen der sozialstaatlich getragene und betrieblicherseits praktizierte Frühverrentungstrend mitgetragen wurde. [vgl. Rosenow 1996: S. 37]

2.1.3 Konsequenzen der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die betriebliche Personalpolitik

Die gesetzlich festgelegte schrittweise Anhebung der Altersgrenzen für den Rentenzugang auf 65 Jahre läßt die Externalisierungspraxis nun nicht mehr in der Weise zu, wie es bisher der Fall war. Über die im ‘Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand’ geregelte Altersteilzeitarbeit besteht durch die Halbierbarkeit der Arbeitszeit älterer Beschäftigter ab 55 Jahren zwar weiterhin die Möglichkeit einer zumindest zeitlichen Reduzierung der Arbeit Älterer im Betrieb - der Gesetzgeber stellt somit weiterhin ‘unumgängliche betriebliche Personalanpassungen’ [vgl. Deutscher Bundestag 1996, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/4336: S. 1 sowie Drucksache 13/4719: S. 3] in Rechnung -, jedoch kommt der Staat den Betrieben nur noch dann über finanzielle Anreize (Erstattung von betrieblichen Aufstockungen zum Bruttoarbeitsentgeld und geleisteten Rentenversicherungsbeiträgen) entgegen, wenn von diesen Altersteilzeitarbeit ermöglicht und gleichzeitig „der infolge der Altersteilzeitarbeit freiwerdende Arbeitsplatz durch die Einstellung eines Arbeitslosen oder die Übernahme eines Auszubildenden wiederbesetzt wird" (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Januar 1997: S. 7).

Damit soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung die bisherige Frühverrentungspraxis nicht ausgeschlossen werden, jedoch will man sicherstellen, „daß, anders als bisher, die Kosten einer solchen Vorgehensweise vor allem von denjenigen getragen werden, die Frühverrentungen zum eigenen Nutzen durchführen" (Deutscher Bundestag 1996, Drucksache 13/4336: S. 1).

Für die älteren Beschäftigten, die eine Verrentung vor dem gesetzlich festgelegten Zugangsalter anstreben, bedeutet dies, daß sie mit monatlichen Abschlägen ihrer Rentenbeträge zu rechnen haben. Welche Kosten den Betrieben bei einer von ihnen erwünschten Frühverrentung ihrer älteren Beschäftigten entstehen, ist jedoch ungeklärt.

Neben der Anhebung des Rentenzugangsalters und der Subventionierung von Altersteilzeitarbeit wird seitens des Staates zur Vermeidung einer umgreifenden Externalisierungspraxis zukünftig noch mit einer Reform der Renten wegen verminderter Erwerbstätigkeit zu rechnen sein. [vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung , Pressemitteilung vom 27.1.1997]
Kommt es zu den vorgesehenen gesetzlichen Regelungen, so wird eine frühzeitige Ausgliederung älterer Beschäftigter über den - bisher großzügig angelegten und vielfach beschrittenen - Weg der Erwerbsunfähigkeitsrente erheblich erschwert.

Ob sich letztlich ein grundsätzlicher Wandel in der Externalisierungspraxis über die neuen Gesetzesgrundlagen einstellen wird, ist allerdings fraglich. Da die Einführung von Altersteilzeitarbeit optional - also nicht gesetzlich zwingend - ist, wird die breite Annahme dieser Arbeitsform durch die Betriebe und Beschäftigten aufgrund der derzeitigen Arbeitsmarktlage (kein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften) sowie der finanziellen Verschlechterung der betroffenen Beschäftigten seitens verschiedener Sachverständiger in Frage gestellt. [vgl. Deutscher Bundestag 1996, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages , 13. Wahlperiode, Drucksache 13/4877]

Einzelne angedachte und bereits erarbeitete Modelle der (Nicht-)Beschäftigung Älterer unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen verweisen schon jetzt auf ein ungebrochenes Inter-

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esse der Betriebe an einer Ausgliederung ihrer älteren Beschäftigten. So wird bei VW über die Möglichkeit von über die gesamte Erwerbsarbeit ansammelbaren Zeitgutscheinen nachgedacht, um später die Älteren unter der Weitervergütung eines durch die Zeitkontingente gedeckten Arbeitsentgelds vor der Regelaltersgrenze aus der Erwerbsarbeit entlassen zu können. Dort, wo Altersteilzeitarbeit in tarifvertragliche Regelungen aufgenommen wird oder werden soll, zeigen sich Tendenzen zu einer Verwässerung der Gesetzesintentionen. Um die Älteren weiterhin möglichst früh aus dem Arbeitsprozeß ausgliedern zu können, ist vorgesehen, die vereinbarte Altersteilzeitarbeit über Vollzeitbeschäftigung in der ersten Hälfte der Laufzeit abzuarbeiten. In der zweiten Hälfte der Laufzeit beziehen dann die Teilzeitbeschäftigten weiterhin das vereinbarte Teilzeitarbeitsentgeld, ohne erwerbstätig zu sein (so und ähnlich bereits in der Chemischen, Keramik-, Zement-, und Kautschukindustrie vereinbart sowie in den Tarifvereinbarungen des Metallbereichs vorgesehen). [vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung , Januar 1997: S.21f.]

Äußerungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zum ‘Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand’ weisen eindeutig darauf hin, daß in den Betrieben weiterhin ein Interesse nach - möglichst sozialstaatlich mitgetragenen - Ausgliederungsmöglichkeiten älterer Beschäftigter zum Zwecke des Personalabbaus besteht. In einer Stellungnahme zur Beschlußvorlage heißt es, „daß insbesondere die strenge Bindung der Förderung [von Altersteilzeitarbeit, d.V.] der Bundesanstalt an die Wiederbesetzung des freiwerdenden Arbeitsplatzes ein erhebliches Umsetzungshindernis darstelle" (Deutscher Bundestag, Drucksache 13/4877: S. 26); mittlerweile fordert die BDA sogar eine Änderung des Gesetzes zur Altersteilzeit, um Teilzeitarbeitsmodelle über 10 Jahre möglich zu machen. [vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26.03.1997]

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2.2 Altersspezifische Zuschreibungsmuster

Die oben beschriebene - und bis vor kurzem noch ungebremste - altersselektive Praxis der Betriebe muß durch legitimatorische Argumentationsmuster, d.h. die Externalisierung rechtfertigende Aussagen und Begründungen, gestützt werden, da sonst eine illegitime und willkürliche Diskriminierung der Älteren unterstellt werden müßte.

Geht man den betrieblichen Legitimations- und Zuschreibungsmustern gegenüber den Älteren nach, so stößt man jedoch auf widersprüchliche Vorgehensweisen. Einerseits werden ältere Beschäftigte unter Leistungsgesichtspunkten als defizitär beschrieben, was die altersselektive Personalpolitik der Betriebe begünstigt; andererseits finden sich hoch positive betriebliche Alterszuschreibungen, welche den Einsatz und den Verbleib von Älteren in den Unternehmen absichern. Dieser Widerspruch in der betrieblichen Beschreibung und Beurteilung von älteren Beschäftigten, welcher auf eine interessenbedingte Konstruktion von differenzierten Zuschreibungen zu ein und der selben Personengruppe hinweist, soll hier kurz nachgezeichnet und in seiner Funktionalität für die Betriebe aufgezeigt werden.

2.2.1 Das Defizit-Modell des Alterns und Alters

Bis in die späten sechziger Jahre herrschte - u.a. durch die bis dahin vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse mitbedingt - ein Defizit-Modell des Alterns vor, „nach dem die Entwicklung, vor allem intellektueller Funktionen und der Körperkräfte, bis zum Alter von Mitte 20 ansteigt, danach ein unaufhaltsamer, gleichsam biologisch determinierter, Verfall einsetzt, der mit dem Tod endet" (Neumann 1994: S. 68). Dieses unidirektionale Modell des Verfalls und des

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Abbaus der menschlichen Leistungsfähigkeit ab ca. dem 25. Lebensjahr stellte für die Betriebe eine Grundlage der Bewertung der Leistungsfähigkeit älterer Beschäftigter dar. Mit diesem Defizit-Modell stand eine Basis für altersspezifische Zuschreibungsmuster zur Verfügung, die bis heute nichts an Gültigkeit Verloren hat.

„Eine Analyse der relevanten Literatur seit dem Ende der fünfziger Jahre macht deutlich, daß seitens des Betriebes und der Gesellschaft dem älteren Arbeitnehmer immer weniger Fähigkeiten zugesprochen werden, daß er - zumindest seit Beginn der siebziger Jahre - bei uns immer negativer eingeschätzt wird und die Überzeugung von der Abnahme der beruflichen Leistungsfähigkeit Ende des fünften bzw. zu Beginn des sechsten Jahrzehnts zunehmend an Boden gewinnt" (Lehr 1990: S. 99).

Dieses gesellschaftlich und betrieblicherseits konstruierte Zuschreibungsmuster gipfelt darin, daß „man heute nahezu ausschließlich diskriminierende Beschreibungen der älteren Arbeitnehmer [findet]. Ältere Arbeitnehmer erfahren heute einen Verlust an Ansehen und Wertschätzung, werden vielfach von vornherein in die Gruppe der besonders ‘Schutzbedürftigen’ eingestuft und mit dem Vorurteil konfrontiert, ständig kränker zu werden und körperliche und geistige Fähigkeiten einzubüßen. Man geht davon aus, daß schon der Endvierziger sich nicht mehr umorientieren kann, konservativ am Verhalten festhält, gegen Neuerungen eingestellt ist und notwendige Veränderungen scheut" (Lehr 1990: S. 99f.).

Angesichts dieser Bewertung der Leistungsfähigkeit älterer Beschäftigter ist es nicht verwunderlich, daß seitens der Betriebe im Zuge der zunehmenden Technisierung, Computerisierung und Informatisierung die Älteren als Hemmnisse einer innovativen, zukunftstechnologieorientierten und effizienten Produktion gesehen werden. Ausgliederung älterer Beschäftigter scheint unter dieser Leistungseinschätzung die logische und wirtschaftlich gerechtfertigte Folge zu sein. Das alte Defizit-Modell diente - und dient heute noch - als die wissenschaftlich abgesegnete Legitimation zur altersselektiven Personalpolitik in einer hoch technik- und innovationsabhängigen Weltmarktproduktion.

2.2.2 Alter als betriebliche Ressource

Neben dem negativen Zuschreibungsmuster des Defizit-Modells, das die Externalisierungspraxis der Betriebe rechtfertigt, findet sich aber auch ein diametral entgegengesetztes, positives Zuschreibungsmuster für ältere Beschäftigte. Vielfach wird betont, daß es gerade nur die älteren Beschäftigten sind, die bestimmte Positionen besetzen können. Auffällig ist hierbei, daß es sich bei diesen Positionen zumeist um solche handelt, die den höheren Ebenen der Unternehmenshierarchien zuzuordnen sind. So „scheinen besonders verantwortungsreiche Positionen in der Industrie, in Wirtschaft und Verwaltung, aber auch in der Universität, in Kirche oder Militär von älteren Mitarbeitern besetzt zu werden" (Olbrich 1990: S. 147). Auf betrieblicher Ebene handelt es sich z.B. um „Führungs- und Leitungstätigkeiten" (Köchling 1995: S. 444) sowie um verantwortliche Positionen der „Überwachung von hochkomplizierten Anlagen und Anlageverbänden" (Lehr 1990: S. 108).

Es wird argumentiert, daß bestimmte betriebliche Arbeitsprozesse bestimmte Qualifikationen benötigen, die von betrieblichen Entscheidungsträgern, so die Ergebnisse einer empirischen Studie, „eher Älteren und weniger Jüngeren zugerechnet werden" (Köchling 1995: S. 444). Dabei handelt es sich um Qualifikationen für die folgenden Bereiche: [1] Leitungstätigkeiten, [2] Koordination, Planung, Arbeitsvorbereitung, Projektüberwachung, insbesondere Organisation komplexer Arbeitsabläufe mit hohem sozialen und organisatorischen Abstimmungsaufwand, [3] Anforderungen an kontrolliertes, strukturiertes Denken und Handeln, [4] Moderation innerbetrieblicher Kommunikation, [5] Kundenkommunikation, Präsentation vor Kunden, [6] Anforderungen

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an Ruhe und Gelassenheit (soziale Kompetenzen) in Streßsituationen, [7] Anforderungen an Sorgfalt, Verantwortung, Pflichtbewußtsein, Qualitätsbewußtsein (auch im Umgang mit Sachmitteln), [8] Spezialistentätigkeiten, die auf Basis eines langjährigen Erfahrungswissens entstanden sind ('Spezialisten' als 'soziale Nischen')" (Köchling 1995: S. 444).

Daß ältere Beschäftigte für diese Aufgabenbereiche besser qualifiziert sind, wird mit altersbedingten persönlichen Merkmalen begründet. So werden z.B. folgende Merkmale älterer Beschäftigter als funktional für verantwortungsvolle Positionen hervorgehoben:
„[1] Leichtigkeit im Umgang mit komplexen Sachverhalten und größeren Gesamtkonzepten. Ältere Mitarbeiter können sowohl komplexere organisatorische Modelle recht gut handhaben als auch weiter reichende Zeitplanungen durchführen. [2] Herabgesetztes Erleben von Eigenbetroffenheit in potentiell belastenden Situationen. Dies äußert sich vor allem, wenn Konkurrenz etwa bei Beförderung oder bei Teilung von Betriebsmitteln auftaucht. [3] Erhöhte Toleranz in bezug auf alternative Handlungsstile, auf Situationseinschätzungen in bezug auf Entscheidungen und deren Ausführungen. [4] Nutzung von Strategien der Energieeinsparung im Sinne einer Entscheidungs- und Handlungsökonomie. [5] Bessere Einschätzung eigener Fähigkeiten und deren Grenzen; Entscheidungen und Schlußfolgerungen werden von älteren Mitarbeitern mit mehr Bedacht, mit größerer Vorsicht und nüchternem Realismus getroffen. Komplikationen und Konfrontationen werden besser durch vorausschauendes Arrangieren berücksichtigt" (Olbrich 1990: S. 147).

In der aufgezeigten Argumentation wird ein hoch positives Zuschreibungsmuster des Alters erkennbar, das besonders älteren Beschäftigten in Führungspositionen einen wertvollen Ressourcestatus attestiert und damit ihren Verbleib in statushohen Positionen legitimiert.

2.2.3 Die Doppelkonstruktion des altersspezifischen Zuschreibungsmusters und die Doppelstrategie in der betrieblichen Personalpolitik

Aus den knappen Ausführungen zu den unterschiedlichen altersspezifischen Zuschreibungsmustern und den damit legitimierten personalpolitischen Praxen wird eine zweigleisige betriebliche Umgangsweise mit dem Alter deutlich. Einerseits ist eine weitgehende Externalisierungspraxis gegenüber älteren Beschäftigten festzustellen, die mit dem Defizit-Modell des Alters legitimiert wird. Andererseits finden sich aber auch solche betriebliche Handlungen, die als Integrationspraxis gegenüber älteren Beschäftigten beschrieben werden können und die deren Verbleib, besonders in statushohen Positionen, ermöglichen, was dann über ein hoch positives altersspezifisches Zuschreibungsmuster legitimiert wird.

Es stellt sich natürlich die Frage, warum solch widersprüchliche Handlungsweisen und Zuschreibungsformen der Betriebe gegenüber dem Alter festzustellen sind. Ohne dem hier im einzelnen nachgehen zu können - die Literatur geht auf diesen Sachverhalt so gut wie gar nicht ein -, könnte z.B. die angeführte Variable ‘Statusposition’ bzw. ‘Hierarchie’ zur Erklärung der Widersprüchlichkeit herangezogen werden. Ältere Beschäftigte auf hierarchisch übergeordneten Positionen werden allem Anschein nach positiv und für den betrieblichen Arbeitsprozeß als besonders wertvoll eingeschätzt, während den älteren Beschäftigten auf den statusniedrigen Positionen generell eine negative Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit zuzukommen scheint.

Aus den wenigen vorliegenden Befunden ergibt sich der Eindruck, daß die symbolische Doppelkonstruktion von altersspezifischen Zuschreibungsmustern ganz bestimmten ökonomischen sowie individuellen Interessen folgt.

Wird in der Literatur nach den Ursachen von altersspezifischen Zuschreibungsmustern gefragt, so zentriert sich die Aufmerksamkeit seltsamerweise ausschließlich auf die Entstehung des

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Defizit-Modells des Alterns und Alters. [vgl. z.B. Neumann 1994, Lehr 1990, Rosenow/Naschold 1994]
Daß die Doppelkonstruktion von Alterszuschreibungen mit den jeweiligen entsprechenden betrieblichen Handlungspraxen dabei nicht umfassend in ihrer Entstehung und Funktionalität analysiert wird, verweist auf ein systematisches Übersehen zentraler sozialer Ereignisse bezüglich der Bewertung und Einschätzung von Alter.

Dies begünstigt die Annahme, daß die divergierenden personalpolitischen Praxen von Externalisierung und Integration älterer Beschäftigter, samt ihren spezifischen symbolischen Legitimierungen, den betrieblichen Interessen nach Machterhalt, finanzieller Sanierung und Flexibilitätsbereitschaft unter verschärften Marktbedingungen entgegenkommen. Um hier jedoch eine größere Klarheit zu erlagen, wären weiterführende Forschungsarbeiten notwendig.

Zweierlei wird aber bereits jetzt aus diesen Befunden erkennbar:

  1. Es ist nicht das Alter als biologische Kategorie, die zu differentiellen betrieblichen Personalstrategien führt, sondern vielmehr eine interessengeleitete Konstruktionen unterschiedlicher Altersbilder.
  2. Selbst wenn tatsächlich altersabhängige Produktivitäts- und Kompetenzunterschiede festzustellen sind, so sind diese nicht das Resultat des „natürlichen" bzw. biologischen Alterungsprozesses, sondern vielmehr Auswirkungen verschiedenartiger Berufsverläufe und damit ungleicher Arbeitsbedingungen (darauf wird in Kapitel 4 näher einzugehen sein).

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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