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TEILDOKUMENT:
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6. Konzeptionelle Alternative zum Erziehungsgehalt
Gerade das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat auch zum Perspektivenwechsel im Blick auf die Familie beigetragen: Nach diesem Urteil ist mehr als früher die Perspektive auf das Kind zu legen, dessen existentieller Sachbedarf und dessen Betreuungsbedarf stehen im Mittelpunkt staatlicher Unterstützung. Wer diese Perspektive ernst nimmt, muß fragen, welche Entwicklungsbedingungen Kinder in den unterschiedlichsten Formen der Familien überhaupt haben können: Wie sehen Familien aus, die unter besonderen Belastungen stehen, wie Trennung und Scheidung, Gewalttätigkeit, Erkrankung eines Elternteils, Erwerbslosigkeit oder Armut. Bei den gegebenen Bedingungen in den Familien ist es Aufgabe des Staates, zu einer gewissen Kompensation der Entwicklungsbedingungen beizutragen: Öffentliche Einrichtungen haben bereits in der Vergangenheit immer auch die Absicht verfolgt, allen Kindern möglichst ähnliche Entwicklungsbedingungen zu schaffen und sie nicht vom Schicksal ihrer jeweiligen Familie, vom sozioökonomischen und auch vom psychischen Schicksal ihrer Eltern abhängig zu machen. Darüber hinaus dienten sie auch immer der Kompensation der verbreiteten Tatsache, daß Kinder in der Regel alleine mit ihrer Mutter aufwachsen müssen, daß ihnen in vielen Fällen die Geschwister in der Familie fehlen, zumindest der Kontakt zu Gleichaltrigen nicht automatisch gegeben ist. Das Erziehungsgehalt-Konzept argumentiert damit, daß es Schieflagen in den gesellschaftlichen Verhältnissen gibt. Dem ist wohl zuzustimmen. Allerdings sind die Schieflagen nicht so sehr zwischen Menschen mit Kindern und ohne Kindern in einer Einkommensstufe zu sehen, wie immer wieder vorgetragen wird: Diese Schieflage scheint weniger bedeutend als der Schieflage der Kinder, die je nach soziokulturellem Hintergrund in dieser Gesellschaft aufwachsen. Vom Bedarf des Kindes aus gesehen ist es notwendig, nicht nur das Existenzminimum zum Leben zu sichern, sondern auch die angemessenen Entwicklungsbedingungen, Anregungs- und sozialen Einbettungsmöglichkeiten zu bieten. Das geht allerdings nicht, wenn man sie ausschließlich in ihrem privaten soziokulturellen Hintergrund beläßt, sondern nur dann, wenn sie an dem gesellschaftlichen Niveau dessen, was an Qualität von Entwicklungsförderung bereits vorhanden ist, teilhaben können. Der Perspektivenwechsel, der nun den Bedarf des Kindes als Grundlage jeder Familienförderung sieht, führt folgerichtig dazu, die Schieflage zwischen den Kindern möglichst zu beseitigen und allen Kindern ein ausgeglichenes Angebot an Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, in denen sie optimale Entwicklungsbedingen haben, sind dabei die privilegierten, die übrigen Kinder darauf angewiesen, daß ihnen die öffentliche Hand dasselbe bietet. Daß die Geburtenentwicklung auch ein Seismograph für die soziale Sicherheit, die Frauen und Männer in ihrer Gesellschaft fühlen, ist, hat die Entwicklung in ostdeutschen Ländern nur zu deutlich gezeigt. Während nach der Einführung des Erziehungsurlaubs im Westen die Geburtenzahlen von 1985 (= 100%) bis 1993 auf 129% gestiegen sind, hat dieselbe Maßnahme, nämlich die Einführung des Erziehungsurlaubs im Osten die Zahlen auf 26,7% sinken lassen (Munz, S. 14). Es ist eine Herausforderung an die politischen Zielbestimmungen, wie dieser Verunsicherung begegnet werden soll. Das Beispiel anderer Länder zeigt, daß dem Erziehungsgehalt genau konträr angelegte Konzepte, die auf eine kontinuierliche Erwerbsarbeit von Müttern und Anreize für Väter zur Teilhabe an der Kinderbetreuung setzen, einen positiven Effekt auf die Geburtenraten haben konnten, so in Frankreich und Schweden. Das Erziehungsgehalt-Konzept setzt die bestehende Struktur und das Ausmaß der privaten Haus- und Familienarbeit voraus. In der feministischen Sozialstaatsdiskussion wird betont, daß diese Struktur dazu führt, daß über das Geschlecht bestimmt wird, wieviel Teilhabe die Mitglieder der Gesellschaft am gesellschaftlichen Reichtum und an der [Seite der Druckausg.: 21] Macht haben: Frauen wird aufgrund ihres Geschlechts die viele unbezahlte Arbeit und die damit verbundene Machtlosigkeit bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zugewiesen, Männer werden ebenso aufgrund ihres Geschlechts von der unbezahlten Arbeit weitgehend verschont und ihnen werden mehr Chancen zur Macht vermittelt: Der Reichtum und der Einfluß ist geschlechtsspezifisch verteilt zugunsten der Männer. Im Kontext der neueren Diskussion um die Bürgerrechte wird deutlich, daß Frauen die weitergefaßten Bürgerrechte auf Bildung, Erziehung, Gesundheit, Pflege und auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und ein Leben entsprechend den gesellschaftlichen Standards längst nicht in gleichem Maße wie Männern zugestanden wird (Gerhard 1996). Nicht nur ein Blick über die Grenzen, auch ein Blick in die Vergangenheit der ostdeutschen Länder zeigt, daß Struktur und Umfang der privaten Arbeit einer gesellschaftspolitischen Steuerung zugänglich sind und sich verschiedene Länder darin sehr stark unterscheiden. Arbeiten, die in der Bundesrepublik privat und unbezahlt zu leisten sind, sind in anderen Ländern weitaus mehr professionalisiert, werden also von ausgebildeten und qualifizierten Personen erledigt. Insbesondere die Erziehungsarbeit ist in vielen europäischen Staaten weitaus stärker als öffentliche Aufgabe erkannt und wird entsprechend in professioneller Weise geleistet. Alternativen zur weiterhin privaten, wenn auch finanziell unterstützten Erziehungsarbeit liegen demnach in der Professionalisierung und in der öffentlichen Organisation eines großen Teils sowie im egalitären Bewältigen des privat verbleibenden Teils. Der Ausbau von Kinderbetreuungsstätten und deren Qualitätsverbesserung für Kinder ab dem ersten Lebensjahr wäre ein beschäftigungspolitisches Mammutprogramm, das viele neue qualifizierte Arbeitsplätze nicht nur für Frauen schaffen könnte und den dort Beschäftigten neben der sozialen Sicherheit auch ausreichendes Einkommen und eine kollektive Einbindung bietet. Ergänzt werden kann diese Ausdehnung professioneller Kindererziehung bis zum sechsten Jahr durch Ganztagsschulen, öffentliche Freizeitangebote für ältere Kinder und Jugendliche. Diese öffentlichen Angebote bieten Kindern und Jugendlichen weitaus mehr elternunabhängige Chancen zur Entwicklung und Bildung. Parallel zu diesem Ausbau öffentlicher Betreuung könnte die Erwerbsarbeit flexibel auf die Bedürfnisse von Kindern hin gestaltet werden und finanziell unschädliche Zeiten gewährt werden, damit Väter und Mütter für ihre Kinder da sein können. Zeitkonten pro Kind und Person, die als bezahlter Zusatzurlaub zu gestalten sind, böten beiden Geschlechtern die Unterstützung, die sie zur Erziehung ihrer Kinder brauchten (vgl. DGB 1996). Die Forderung nach einer gerechten Verteilung der noch verbleibenden privaten Arbeit mit und für Kinder gründet nicht nur auf dem Egalitätsprinzip zwischen den Geschlechtern. Auch von der Entwicklung des Kindes her gesehen sind egalitäre Rollenmodelle wichtig, wirken sie doch als faktische Lebensumstände weitaus stärker als Argumente und Moral. Darüber hinaus fördert es die Entwicklung des Kindes, wenn es gleichermaßen von Vater und Mutter, Mann und Frau kontinuierliche Zuwendung erfährt und mit beiden vielfältige Interaktionsmöglichkeiten hat. Die Mutter könnte bei einer gleichen Verteilung der Erziehungsarbeit eine qualifikationsangemessene Erwerbsarbeit mit sozialer Sicherung genauso aufnehmen wie der Vater und das eheliche, partnerschaftliche Machtgefüge hätte keine ökonomische Basis mehr. Den Vätern würde es mehr Einfluß und Teilhabe an der Entwicklung von Kindern bieten, die sie nicht über materielle, sondern über persönliche Zuwendung erreichen. Diese auch für die weitere Entwicklung erwachsener Personen bedeutsamen Erfahrungen blieben nicht ohne Wirkungen auf die übrigen Lebensbereiche, auf die zur Zeit Männer Einfluß haben, denen gerade diese Erfahrungen zur Zeit verschlossen sind. [Seite der Druckausg.: 22] Die meisten Frauen wollen nicht vor die Alternative Beruf oder Kinderbetreuung, auch nicht in zeitlich verschobenen Phasen, gestellt werden, sondern sie wollen beides, und zwar gleichzeitig. Gleichzeitigkeit ist aber nur möglich, wenn auf ihnen nicht die volle Last der privaten Erziehungsarbeit lastet, sondern sie durch öffentliche Einrichtungen unterstützt werden. Die Forderung nach der Gleichzeitigkeit zwischen Erziehungsarbeit und Berufsarbeit ist auch eine Brücke für die Väter: Das im Erziehungsgehalt verborgene Modell des jahrzehntelangen Ausscheidens aus der Erwerbsarbeit erscheint bei der herrschenden Geschlechterkultur der Bundesrepublik für Väter absurd, die wenigsten Männer werden sich auf eine so lange Berufspause als Lebensentwurf einlassen. Die Idee, mehr tägliche Zeit für die Kinderbetreuung zu haben und trotzdem im Beruf zu bleiben, entspricht der Erwerbsarbeitsorientierung männlichen Denkens eher. Sie bietet zudem auch mehr: die doppelte Qualifikation von Familien- und Berufsarbeit wird beiden Geschlechtern eröffnet, und Erfahrungen aus dem Umgang mit Kindern und alten Menschen nicht einseitig über das Geschlecht vermittelt bzw. verschlossen. Doppelt qualifizierte Männer haben in der Tat mehr Humanqualifikationen als die einseitig beruflich orientierten. Die Kritik am männlichen Lebensmodell wird auch von immer mehr Männern formuliert (vgl. Schnack,Gesterkamp 1996). Zu einer so strukturierten Unterstützung der Familien, die von den Bedürfnissen des Kindes ausgeht, braucht der Staat Geld. Das Erziehungsgehalt-Konzept hat die Finanzierungsmöglichkeiten für die gewaltige Summe von cia 25 Milliarden aufgezeigt, durch Einsparungen, Umschichtungen sowie durch zusätzliche Abgaben (Familien-Soli). Ähnliche Bewegungen für das alternative Konzept wären denkbar: Eine Aufwertung der Erziehungsarbeit würde dann in der Professionalisierung und öffentlichen Organisation liegen, in einer Anhebung des Niveaus der erzieherischen Ausbildungsgänge, einer Umverteilung zwischen den Geschlechtern, die die Frauen von der privaten Arbeit entlastet und die Männer mit Alltagsarbeit genauso belastet wie die Frauen. Realisierbar ist das, wenn die Erwerbsarbeit flexibel für die Alltagsarbeit gestaltet wird. Die Benachteiligungen von Frauen in der Erwerbsarbeit, die sie aufgrund ihrer privaten Arbeit immer noch hinnehmen müssen, ließen sich abbauen, wenn die Männer in gleicher Weise belastet würden: Statt Wiedereingliederung von ehemals privat arbeitenden Frauen gäbe es Risikopersonen beiderlei Geschlechts, wenn sie im Alter sind, in dem sie Kinder zu betreuen haben. Über das Ausmaß der im Privatbereich verbleibenden Arbeit und die Angebotsseite öffentlicher Betreuung läßt sich politisch streiten. Das Erziehungsgehalt ist ein konservativer Entwurf, er fordert Alternativen heraus. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1999 |