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[Seite der Druckausg.: 95]

Helga Nielebock
Die Aktualität des Arbeitsvertragsgesetzes – Innovationen im Spannungsfeld von kollektiven und individuellen Regelungen


Die Beratungen der Arbeitsgesetzbuchkommission standen unter Zeitdruck – so liest man es im Vorwort –, „da das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung beabsichtigt, den Referentenentwurf eines Arbeitsverhältnisgesetzes bereits zu Beginn der 8. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages vorzulegen".

Dies war im Dezember 1976.

Der Referentenentwurf liegt bis heute nicht vor und bestätigt das Faust-Zitat „Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan", auf das Schönste.

Prof. Preis hat ja eben in seinen Ausführungen die Historie der letzten 103 Jahre, nämlich von 1896 bis heute, aufgezeigt.

Von daher zögert man etwas, den Begriff Aktualität im herkömmlichen Sinne zu verwenden.

Vorab möchte ich kurz meine Prämissen nennen, ohne sie diskutieren zu können – wegen der Zeit.

  1. Die Schutz- und Gleichbehandlungsfunktion des Arbeitsrechts hat trotz starker Veränderungen ihre Bedeutung behalten – sie muß teilweise nur auf neue Lebenssachverhalte reagieren und diese einbeziehen.

  2. Es soll bei der bisherigen „Rollenverteilung" zwischen Tarifvertrag und Gesetz bleiben.

    Das Gesetz hat dabei nach wie vor grundlegende branchenübergreifende Schutzregelungen zu treffen und dabei zukünftig stärker den neuen Arbeitsformen und Entwicklungen Rechnung zu tragen.

  3. Die Stärkung der kollektiven Selbsthilfemomente muß im Vordergrund erster Reformen stehen.

    [Seite der Druckausg.: 96]

    Angesichts der Reichweite der Tarifverträge (auch FTV) – 70% der Betriebe im Westen und 52% im Osten, 80% der Beschäftigten sind erfaßt – ist eine bessere Durchsetzung getroffener Vereinbarungen notwendig.

Die Reichweite der Tarifverträge geht aber weiter.

Sie erfaßt nicht nur die Betriebe und Unternehmen, die einem Geltungsbereich eines Tarifvertrags unterfallen. Prof. Preis hat eruiert, daß ca. 90% aller (schriftlichen) Arbeitsverträge durch eine Inbezugnahme von Tarifverträgen auch dem Tarifrecht unterliegen.

Daraus ist auch der Schluß zu ziehen, daß es politisch richtig ist, die kollektiven Möglichkeiten zur Regelung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnissen zu stärken und dort, wo es notwendig ist, durch den Gesetzgeber durch entsprechende Maßnahmen zu unterstützen, wie z.B. durch das bereits in der Koalitionsvereinbarung zur Regelung vorgesehene Verbandsklagerecht und die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes.

Dies heißt aber eben auch eine Verbesserung in den Bereichen der Arbeitsvertragsbedingungen, wenn von dem Primat ausgegangen wird, Lebenssachverhalte zu regeln und besser zu schützen.

Dabei muß man sich m.E. daran orientieren, was an Problemlagen vorliegt: Beschäftigungssicherung, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitsumverteilung an erster Stelle.

Bei den Regelungsnotwendigkeiten kann zwischen alten Versäumnissen und neuen Anforderungen unterschieden werden.

Zu den alten Versäumnissen, die z.B. der Verbesserung bedürfen, zähle ich

  • den unzureichenden Kündigungsschutz mit Beschäftigungssicherung, insbesondere während des Prozesses sowie

  • den Bestandsschutz bei befristeten Verträgen,

  • den unzureichenden Schutz vor Überstunden,

  • die unzureichende Anwendung des Arbeitsschutzes,

  • die Ungleichbehandlung insbesondere von Frauen,

  • die schlechten Arbeitsbedingungen bei Leiharbeit,

  • die unzureichende Sicherung von Wertguthaben bei Arbeitszeitkonten aller Art,

[Seite der Druckausg.: 97]

  • den unzureichenden Daten- und insbesondere Arbeitnehmerdatenschutz sowie

  • die unzureichende Arbeitgeberhaftung bei Arbeitserfüllung und -ausführung,

  • die unzureichenden Regelungen bei Widerruf von Aufhebungsverträgen und bei Ausgleichsquittungen,

um nur einige Themen zu nennen.

Schon die Aufzählung macht deutlich, daß

  1. Regelungsbereiche weit über das Arbeitsvertragsrecht hinaus anstehen – der Reformstau also beträchtlich ist,

  2. andere Rechtsgebiete miterfaßt sind,

zum anderen müssen neue Entwicklungen kodifiziert werden:

Durch die Änderungen der Arbeitsformen, also durch eine Abänderung der tayloristischen Arbeitsweise, ist eine Entwicklung von einer mehr angewiesenen Ausführung von Tätigkeit hin zu stärker selbstbestimmten und eigenentscheidenden Arbeitsweisen zu verzeichnen.

Das bedeutet, daß die Arbeitsinhalte eher in einem größeren Rahmen vorgegeben werden und die Ergebnisse vom Arbeitnehmer selbst gefunden werden müssen.

Diese Autonomiebezüge sind zu unterstützen.

Sie haben aber auch ihre Schattenseiten, nämlich z.B. die jederzeitige Erreichbarkeit, Verhaltens- und Leistungskontrolle, Rund-um-die-Uhr-arbeiten usw.

Mein Fazit hieraus wäre:
Die neuen Freiheiten müssen dort, wo die strukturelle Unterlegenheit einen hinreichenden Selbstschutz nicht zuläßt, durch Gesetz gesichert werden, die Funktion des Rechtes ist hier sozusagen als Gestalter und Begleiter des Prozesses zu definieren.

Dazu gehören z.B.

  • die Frage des Arbeitnehmerstatutes,

  • die Zuordnung zu einem Betrieb,

[Seite der Druckausg.: 98]

  • die Frage von Qualifikation,

  • die Rechte bei ungeklärten oder überhöhten Arbeitsanforderungen,

  • die Klärung der Arbeitnehmer-/Kundenbeziehungen bei Netzwerken und Projektarbeit sowie

  • Haftungsfragen bei Arbeiten zu Hause oder bei mobilen Formen der Arbeit sowie

  • die Probleme lückenloser Leistungs- und Verhaltenskontrolle.

Die Aufzählung dieser Regelungsbereiche wirft die Frage auf, ob es nicht sinnvoll ist, diese Defizite, aber auch die zukunftsweisenden Neuregelungen für neue Arbeitsformen in einem Arbeitsvertragsgesetzbuch zu regeln.

Schließlich handelt es sich um eine fast 100 Jahre alte Forderung der Arbeiterbewegung, es gibt Erfahrungen mit dem früheren Arbeitsgesetzbuch der DDR, und im Einigungsvertrag ist die einheitliche Kodifizierung als ein Ziel des Bundesgesetzgebers genannt.

Das spricht dafür.

Ob ein solches Gesamtkodifikationsprojekt kurzfristig zu realisieren ist, ist auch bei dem Tempo, das die neue Bundesregierung vorgelegt hat, fraglich; schließlich ist die Fehlerquote möglicherweise beträchtlich und die Chancen des Konsenses in wichtigen Punkten sind geringer.

Zugleich sollten qualitative Verbesserungen für die neuen Arbeitsformen und nicht nur der Status quo geregelt werden. Zukunftsweisende, innovative Ansätze müssen aber, so scheint es mir, in der Diskussion erst noch in vielen Bereichen entwickelt werden.

Die bisherige sogenannte Zukunftsdiskussion im Arbeitsrecht generell – nicht im Arbeitsvertragsrecht – fand entweder nicht statt oder ging in Richtungen, die vom Ansatz her eine Deregulierungspolitik verfolgten und dem Arbeitsrecht damit andere Aufgaben zuwiesen.

Zudem müssen bei den von mir für notwendig gehaltenen Reformthemen im Arbeitsrecht (und von den Regierungsparteien laut Koalitionsvereinbarung) Lebenssachverhalte geregelt werden, was Verschränkungen im Sozialrecht und anderen Rechtsgebieten beinhaltet, teilweise aber auch weit über ein Arbeitsvertragsrecht hinausgeht (Arbeitszeitfragen, Bestandsschutzdebatte; Kombilohn).

[Seite der Druckausg.: 99]

Ich möchte mit diesen Bemerkungen nicht die vorliegenden Vorschläge der Länder zu einem Arbeitsvertragsgesetzbuch in Pausch und Bogen bewerten.

Ich muß allerdings bei einer Betrachtung der vorliegenden Vorschläge feststellen, daß diese m.E. je nach politischer Couleur unterschiedliche Defizite der von mir genannten Erwartungen haben.

So fehlt m.E. dem Gesetzentwurf des Landes Brandenburg ein arbeitsrechtlicher Katalog von Grundrechten, bei den Grundrechten fehlen insbesondere die Kommunikationsrechte zwischen Beschäftigten und Gewerkschaften. Die Bezüge zum internationalen Recht fehlen, die Beteiligungsrechte der einzelnen Arbeitnehmer sind nur teilweise geregelt, die Gleichstellungsregelungen sind unzureichend. Neue Arbeitsformen wie Telearbeit sind nicht enthalten, Datenschutzregelungen (naturgemäß) ebenfalls nicht.

Die besonderen arbeitsrechtlichen Regelungen bei Insolvenzen, betrieblicher Altersversorgung und die Regelung von besonderen Situationen besonderer Beschäftigungsgruppen sind ausgegliedert geblieben ebenso wie Regelungen zur Fremdfirmenarbeit und Leiharbeit, aber auch die Thematiken zur Beurteilung und Befristung, jedenfalls letzteres ist nur unzureichend enthalten.

Für die von mir aufgezählten neuen Forderungen an zukunftsgerichteten arbeitsrechtlichen Regelungen fehlt somit einiges.

Außerdem gebe ich zu bedenken, ob nicht bestimmte Thematiken zunächst sorgfältig diskutiert werden und Vorschläge unterbreitet werden sollten, die den jeweiligen Reformcharakter auch unterstreichen und herausarbeiten können.

Bei der Vielfalt der Themen erscheint mir diese Vorgehensweise angebrachter. Diese Wertung erfolgt auch in dem Wissen, daß eine Vereinheitlichung für den Arbeitnehmer, aber auch für die mit dem Arbeitsrecht aus beruflichen Gründen befaßten Personen angenehmer wäre; diesem legitimen Bedürfnis nach Transparenz muß aber entgegengehalten werden, daß es durch ein Arbeitsvertragsgesetzbuch auch nicht befriedigt würde.

Durch die Manteltarifverträge, die, wie ich oben aufgeführt habe, das Arbeitsverhältnis in großem Stil regeln, ist für die Feststellung bestimmter Ansprüche jeweils jede Regelungsebene zu prüfen – es müssen also Tarifvertrag und Gesetz oder auch Betriebsvereinbarung herangezogen werden.

[Seite der Druckausg.: 100]

Insofern ist ein Studium der verschiedenen Rechtsquellen unerläßlich.

Nachgedacht werden könnte über eine Zusammenbindung der verschiedenen Gesetze zu einer Gesetzbuchreihe, wie wir es mit den SGB I bis X kennengelernt haben; das wäre schon eine Hilfe und könnte Transparenz herstellen und in diesem Zusammenhang, also sehr mittelfristig auch das Arbeitsvertragsrecht regeln.

Zum Argument, daß für die Beschäftigten in den neuen Bundesländern das Anknüpfen an frühere Traditionen ein entsprechend positiver Effekt im Hinblick auf ein einheitliches Deutschland beinhalten würde, mache ich darauf aufmerksam, daß die vorzunehmenden Anspruchsprüfungen zwischenzeitlich auch dort, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie in den alten Bundesländern, notwendig sind.

Allein für die Rechtsanwender eine Kodifizierung zu schaffen, die aus beruflichen Gründen mit dem Arbeitsrecht befaßt sind, meine ich, ist kein ausreichender Grund.

Außerdem darf man nicht aus den Augen verlieren, daß selbstverständlich auch Kräfte dahingehend wirken könnten, daß nicht nur fortschrittliche, sondern an einigen Punkten – jedenfalls aus Arbeitnehmersicht – möglicherweise rückschrittliche Regelungen getroffen werden könnten.

Schon allein mehr die dispositiven Regelungen würden Druck auf die Tarifverträge ausüben, und deshalb lehnen wir sie ab.

Klugerweise hat die Regierung auch die Rücknahme der Verschlechterungen beim KSchG und EFZG nicht ins Bündnis für Arbeit hereingenommen.

Dies muß auch für das Arbeitsvertragsrecht gelten.

Hier würde die Frage der Geltung des Tarifvertrags ähnlich wie in den Fragen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auftreten und möglicherweise zu problematischen Ergebnissen führen.

Wenn wir also erkannte arbeitsrechtliche Defizite wirklich korrigieren und auf neue Fragen der Arbeitswelt neue Antworten geben und dies kurzfristig tun wollen, dann müssen wir Detaillösungen in Angriff nehmen.

Hier wäre es auch am ehesten möglich, den zu erwartenden Widerständen der Arbeitgeber zu begegnen.

[Seite der Druckausg.: 101]

In der Stellungnahme der BDA zum Entwurf eines Arbeitsgesetzbuchs heißt es: „Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat sich bisher sachlich begründeten Bestrebungen nach Bereinigung und Zusammenführung des geltenden Arbeitsrechts nicht verschlossen und ist auch in Zukunft bereit, an solchen Vorhaben mitzuarbeiten."

Wenn sich die BDA nur gegen eine Gesamtkodifikation des Arbeitsrechts wendet, dann müßte es möglich sein, zunächst vorab einzelne wichtige Bereiche zu regeln.

Mein Vorschlag wäre also, Prioritäten hinsichtlich zu regelnder Lebenssachverhalte zu bilden und diese Themen, und zwar auf den Ebenen, an denen sich die Vorarbeiten messen lassen können, zu bearbeiten und zu diskutieren.

Dies würde aus meiner Sicht bedeuten, die überfälligen Regelungen im Datenschutz und in der Arbeitnehmerhaftung sowie die Fragen des Bestandsschutzes und der Leiharbeit als Teile der Versäumnisse im Individualrecht anzugehen.

Scheinselbständigkeit im Arbeitsrecht könnte durch eine einheitliche Definition im Wege eines Artikelgesetzes verhindert werden.

Dies würde aus meiner Sicht auch bedeuten, die ganzen Zukunftsfragen zunächst einer wissenschaftlichen Diskussion zu unterziehen und danach erst eine Zusammenführung in ein einheitliches Arbeitsvertragsrecht anzustreben – neben anderen Regelungsbereichen, die notwendig werden, ggf. als ein Buch in der Gesetzbuchreihe.

Ich sehe diesen Vorschlag zur Vorgehensweise – das möchte ich nicht verhehlen – auch unter einem politischen Aspekt:

Ich bin der Auffassung, daß der Selbsthilfegedanke nach wie vor in unserer Gesellschaft gestärkt und im Sinne des Zeitgeistes von Dezentralisierung und Flexibilisierung weiterhin nutzbar und effizienter gemacht werden sollte.

Wenn das unter den veränderten politischen Verhältnissen nicht zu Besserungen führen sollte oder für Branchen, in denen sich keine Erfolge hierdurch abzeichnen sollten, könnten Lösungen auf anderen Rechtsetzungsebenen angegangen werden.

[Seite der Druckausg.: 102]

Deshalb denke ich, daß zunächst die Stärkung durch die notwendigen Korrekturen und Anpassungen in den kollektiven Rechten erfolgen sollte, damit ggf. auch von hier aus Innovationen im Bereich der kollektiven Regelungen für das Arbeitsvertragsrecht angegangen werden können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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