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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 59]
Gerhard Leminsky
Den Vorschlägen und Begründungen von Hanau und Streeck kann ich aus sozialwissenschaftlicher Sicht weitgehend folgen, möchte sie zugleich in einen weiteren Zusammenhang stellen. Dabei fasse ich meine Überlegungen in drei Punkten zusammen:
1. Daß insbesondere in Kleinbetrieben und in weiten Teilen des Dienstleistungssektors keine Betriebsräte existieren, ist an sich nicht neu. Es ist nur bisher kaum wahrgenommen worden. [Es ist das Verdienst der Bertelsmann - und Hans-Böckler-Stiftung, dies öffentlich wirksam als Problem formuliert zu haben. Zahlenangaben finden sich schon bei Wassermann, Wolfram (1992), Arbeiten im Kleinbetrieb – Interessenvertretung im deutschen Alltag (HBS Praxis, Bd. 4), Bund-Verlag, Köln.] Die Mitbestimmungskommission hat jedoch vor allem den besorgniserregenden Trend der Zunahme dieser Entwicklung herausgestellt und darauf hingewiesen, daß es nicht akzeptabel ist, wenn weit mehr als die Hälfte der arbeitenden Menschen ohne die industriellen Bürgerrechte der Betriebsverfassung auskommen müssen. Gleichzeitig wird eine moderne Tarifpolitik, die auf die Bedürfnisse der einzelnen Betriebe bezogen werden kann, unmöglich gemacht, weil der notwendige Verhandlungspartner für betriebliche Konkretisierungen nicht existiert. Es liegt somit im öffentlichen Interesse, diese Situation zu verbessern und doch teile ich die Auffassung von Hanau und Streeck, daß allein durch gesetzlichen Zwang die Probleme nicht zu lösen sind. Unter dem Stichwort der Mitbestimmungskommission Mitbestimmungsfreie Zone" verbergen [Seite der Druckausg.: 60] sich sehr unterschiedliche betriebliche Wirklichkeiten, die deshalb auch verschiedene Ansätze erfordern:
Zusammenfassend muß sich also eine Eingrenzung der mitbestimmungsfreien Zonen auf [Seite der Druckausg.: 62]
2. Bei der Beschäftigungsförderung stimme ich dem Grundansatz von Hanau und Streeck uneingeschränkt zu, daß diese Frage Aufnahme in den allgemeinen Katalog der Aufgaben des Betriebsrats nach § 80 BetrVG finden sollte. Ebenso, daß dabei die Förderung der Teilzeitarbeit und die Berücksichtigung familiärer Verpflichtungen besonders verankert werden (bisher sind im § 80 BetrVG bekanntlich bezüglich der Beschäftigungsförderung die Eingliederung schwerbehinderter und sonstiger besonders schutzbedürftiger Personen, die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer im Betrieb und die Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer im Betrieb erwähnt). Wenn man schon einzelne Kategorien von Arbeit und Beschäftigung erwähnt, dann wäre ebenfalls an die Weiterbildung und Qualifizierung zu denken, die eine ständig zunehmende Bedeutung für die employability" der Beschäftigten gewinnt. Ich gehe jedoch über diese Empfehlungen hinaus und stelle sie in einen über den Betrieb hinausreichenden Zusammenhang: Erstens setzt eine Beschäftigungsförderung, die mehr sein soll als nur eine reaktive Anpassung von Einzelmaßnahmen und ihrer kurzfristigen Umsetzung, eine Verständigung über die Unternehmensstrategie in mittelfristiger Perspektive voraus über Standorte, Investitionen, Produktlinien sowie die Personalentwicklung in quantitativen und qualitativen Dimensionen. Dies sind jedoch Fragen der Unternehmenspolitik, die auch im Aufsichtsrat behandelt werden müßten. Die Tarifpolitik spielt dabei ebenfalls eine große Rolle, zumal wenn die tarifvertraglich begleitete Differenzierung von Löhnen sowie mögliche Ertrags- und Gewinnbeteiligungen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Solche Zusammenhänge stellen übrigens keine theoretischen Konstrukte dar, sie haben sich in einer Vielzahl von Standortsicherungsverträgen der letzten Jahre praktisch niedergeschlagen: Tarifpolitik, Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung wirken in einer Konfiguration zusammen, die [Seite der Druckausg.: 63] den traditionellen Rahmen dieser Politikansätze überschreitet. Diese produktiven Erfahrungen sollte man nutzen. [Leminsky, Gerhard (1998), Bewährungsproben für ein Management des Wandels – Gewerkschaftliche Politik zwischen Globalisierungsfalle und Sozialstaatsabbau, edition sigma, Berlin, S. 203ff.] Zweitens kann ein strategisches Konzept der Beschäftigungsförderung nicht nur auf einzelne Elemente wie Überstundenabbau und Teilzeitarbeit und vielleicht Altersteilzeit verkürzt werden. Streeck hat darauf hingewiesen, daß es nicht nur um die Sicherung von bestehenden Arbeitsplätzen gehen kann, sondern vielmehr auch um die Arbeitsuchenden. Mehr noch: Aus Gründen schneller und oft unvorhersehbarer wirtschaftlicher Veränderungen, aus der Vielfalt sehr unterschiedlicher, schon jetzt einvernehmlich praktizierter Arbeitszeitmodelle wie aus den gewandelten Wertvorstellungen und Sozialstrukturen arbeitender und arbeitsuchender Menschen kommt es darauf an, für jeden systematisch Brücken und Übergänge zwischen verschiedenen Arbeits-, Lebens- und Qualifizierungsformen zu schaffen. Auf diese Weise kann jeder im Rahmen betrieblicher Entscheidungen und individueller, auch öffentlich geförderter finanzieller Möglichkeiten die sich ihm bietenden Gestaltungschancen nutzen, die Optionen zwischen Vollzeit und Teilzeit, familiären Pflichten und beruflicher Tätigkeit, Arbeit oder Qualifizierung oder Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit gleicherweise betreffen. Die Eröffnung solcher Wahlmöglichkeiten, die stärker als bisher im Betrieb genutzt werden sollten, müßten jedoch mit inhaltlichen Mindestabsicherungen verbunden werden, die nur zum Teil in der Betriebsverfassung selbst verankert werden können. Hier sind Öffnungen zu Kommune und Region, zu den Einrichtungen der beruflichen Bildung und zu den Arbeitsämtern mit in Betracht zu ziehen, die betriebliche Ansätze flankieren könnten. [Vgl. zum Gesamtkomplex Leminsky, Gerhard (1998), Bewährungsproben …, a.a.O., S. 69ff. Erstmalig ist der Gedanke der „Brücken und Übergänge" von Günther Schmid (1993) ausformuliert worden (Übergänge in die Vollbeschäftigung – Formen und Finanzierung einer zukunftsgerechten Arbeitsmarktpolitik, WZB Berlin, discussion paper FSI 93–208).] Zusammenfassend sollte man bei dem Konzept der Beschäftigungsförderung
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3. Dem, was Hanau größere Gestaltungsfreiheit bei der Organisation der Betriebsverfassung" nennt, ist grundsätzlich zuzustimmen. Für mich persönlich liegt die wichtigste perspektivische Frage in der Öffnung und Verbindung der Betriebsverfassung, also der gesetzlichen, formellen und repräsentativen Form der Beteiligung mit direkten und spontanen Formen der Partizipation, exemplarisch diskutiert bei Gruppen-, Projekt- oder Teamarbeit, also den modernen Entwicklungen der Arbeitsorganisation. Dadurch wird vor allem beim Einsatz neuer Technologien ein Teil früher durch das Management vorgegebener Entscheidungen auf die Gruppen selbst verlagert. Direkte Beteiligung ist gerade bei innovativen Prozessen von großer praktischer Bedeutung und wird oft als Kern einer neuen Unternehmenskultur bezeichnet. [Beyer, Heinrich, Ulrich Fehr, Hans-G. Nutzinger (1995), Unternehmenskultur und innerbetriebliche Kooperation – Anforderungen und praktische Erfahrungen, Gabler-Verlag, Wies baden.] Unbeschadet ihrer Ambivalenzen, wenn sie nur als Managementstrategie angewendet wird, eröffnet sie Chancen direkter demokratischer Teilhabe. Damit kann in dem stark repräsentativ angelegten System der industriellen Beziehungen durch die direkte Beteiligung der unmittelbar Betroffenen ein enormer Vitalisierungsschub" ausgelöst werden, der gleicherweise Teilhabe, Innovation und Effizienz verbindet. Wie bei der Beschäftigungsförderung wird mit der Öffnung der Betriebsverfassung für direkte Partizipation die betriebliche Dimension mit einer wünschenswerten gesellschaftspolitischen Entwicklung verknüpft. Rechtstechnisch hat Hanau vorgeschlagen, dieser Öffnung entsprechend den Empfehlungen 7 und 8 der Mitbestimmungskommission Rechnung zu tragen durch die §§ 3 und 4 Tarifvertragsgesetz und § 3 Betriebsverfassungsgesetz. Auch hier sollten neue betriebliche Entwicklungen durch tarifliche und betriebliche Vereinbarungen an die Vielfalt der realen Strukturen angepaßt werden können. Die Organisation der Betriebsverfassung müßte also solche Regelungen zulässig machen. Der Betriebsrat kann dann einen Teil seiner Kompetenzen, [Seite der Druckausg.: 65] ggf. rückholbar, auf die Gruppen delegieren. Wegen der großen Vielfalt und Komplexität solcher neuen Formen der Arbeitsorganisation könnte man auch hier, nicht zuletzt wegen ihrer gesellschafts- wie betriebspolitischen Bedeutung, daran denken, daß der Staat die Selbstorganisation der Betroffenen analog zum HdA-Programm der Bundesregierung aus dem Jahre 1974 durch Plattformen für Information, Erfahrungsaustausch sowie Unterstützung und wissenschaftliche Begleitung von Modellvorhaben flankiert und fördert. Unter den Grundfragen der Organisation der Betriebsverfassung subsumiere ich ebenfalls Fragen, die den Arbeitnehmerbegriff betreffen, wie Heimarbeit, Telearbeit, Scheinselbständigkeit usw., sowie mit dem Betriebsbegriff (einschließlich Umwandlung und Betriebsspaltung) in Zusammenhang stehen. Hier ist offensichtlich das notwendige Problembewußtsein gegeben, wozu gleicherweise die Öffnung dieser Sachverhalte für Regelungen der Tarifparteien gehört. Schließlich geht es um die Arbeitsgrundlagen der Betriebsräte, die sich für die beschriebenen neuen Aufgaben rüsten müssen. Dazu gehören die Nutzung der Kommunikationsmöglichkeiten des Betriebes, die erleichterte Hinzuziehung von Experten, Vereinbarungen über problembezogene Freistellungen von Betriebsräten oder die Einrichtung von Arbeitsgruppen. [Nicht nur zu diesen Fragen, sondern zum Gesamtkomplex der Modernisierung der Betriebsverfassung sei hingewiesen auf: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand (Hrsg.) (1998), Novellierungsvorschläge des DGB zum Betriebsverfassungsgesetz, Düsseldorf 1972.] Die Funktionsfähigkeit der Betriebsräte ist somit nicht nur ein betriebliches Problem, sie liegt ebenso im öffentlichen Interesse und stellt eine ständige Herausforderung für gewerkschaftliche Politik, Betreuung und Bildungsarbeit dar. 4. Nach der Besprechung der drei in meinen Augen zentralen Schwerpunkte der Modernisierung der Betriebsverfassung möchte ich zum Abschluß folgende Aspekte hervorheben:
[Seite der Druckausg.: 68 = Leerseite] © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999 |