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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 9 / Fortsetzung] 1. Das Geschlecht als Platzanweiser für spezifische Positionen auf dem Ausbildungs- und Erwerbsarbeitsmarkt Mitgliederstatistiken werden nach Geschlechtern getrennt geführt und in allen Großorganisationen fällt dabei die relativ geringe Beteiligung der Frauen auf. In der ÖTV wird z. B. ein alarmierender Rückgang bei Berufsanfängern und -anfängerinnen verzeichnet. Eine Befragung von Jugendfunktionären ergab, daß sich die Mitgliederwerbung bei neu eingestellten Auszubildenden oder jungen Beschäftigten von Jahr zu Jahr schwieriger gestaltet (Napolski 1995). Allerdings ist die Entwicklung in einzelnen Gewerkschaften sehr unterschiedlich: Die Differenz zwischen dem prozentualen Rückgang bei jungen [Seite der Druckausgabe: 10] Männern gegenüber dem bei jungen Frauen ist besonders hoch bei der IG BSE (Männer: -5,8%, Frauen: -17,4%), der IGM (Männer: -16%, Frauen: -23,2%), der CPK (Männer: -14,7%, Frauen: -21,3%), und der ÖTV (Männer: -19,8%, Frauen: -24,9%). Eine genauere Analyse der Mitgliederentwicklung zum Beispiel der IG Metall (Mitgliederstatistik 1993 -1995) zeigt,
Bei der Interpretation von Statistiken ist zunächst die Frage zu stellen, ob die Grundgesamtheit für die potentielle Mitgliedschaft einer Großorganisation überhaupt eine gleiche Verteilung der Geschlechter aufweist. Für eine Partei ist diese Frage zu bejahen, für eine Gewerkschaft nicht mehr: Ihre potentiellen Mitglieder sind durch geschlechtsspezifische Strukturen des beruflichen Bildungssystems und des Erwerbsarbeitsmarktes bereits segregiert: Diese Vorsortierung wird durch Krisen auf dem Ausbildungsstellenmarkt und durch Probleme im Beschäftigungssystem noch verstärkt, weil diese Krisen Frauen härter als Männer treffen, insbesondere im Osten der Republik. Zunächst sollen die spezifischen Positionen junger Frauen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie Aspekte ihrer Lebenslagen untersucht werden, die die relativ geringere Beteiligung von Frauen in Gewerkschaften erklären können. [Seite der Druckausgabe: 11] Dabei wird das Merkmal Geschlecht in seiner gesellschaftlichen Zuweisungsfunktion als struktureller Platzanweiser angesehen: Die relativ niedrigere Beteiligungsquote junger Frauen wird also nicht mit ihrem subjektiven Frausein erklärt, sondern wird zunächst in den spezifischen Lebenslagen und Positionen begründet gesehen, die junge Frauen im Vergleich zu jungen Männern einnehmen müssen: Frauen sind im Grundgesamt der potentiellen Mitglieder von gewerkschaftlichen Organisationen bereits geringer vertreten, weil ihnen andere Plätze auf dem Ausbildungs- und Erwerbsarbeitsmarkt offen stehen als Männern.
2.1 Junge Frauen nehmen nicht im gleichen Umfang wie junge Männer am Erwerbsleben teil.
Die Beteiligung am Erwerbsleben ist aber eine Grundvoraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Die Erwerbsquote junger Frauen (zwischen 15 bis 20 Jahren) ist geringer als die junger Männer: 1993 lag diese Quote im Westen bei jungen Frauen mit 33% um 5 Prozentpunkte niedriger als bei jungen Männern, im Osten sogar um 6,5 Prozentpunkte (BMA 1995). Das bedeutet: Der Anteil junger Frauen an allen jungen Frauen, die überhaupt erwerbstätig bzw. in Ausbildung sind, ist bereits geringer als derselbe Anteil bei den jungen Männern. Junge Frauen haben es schwerer, auf dem Erwerbsarbeitsmarkt Fuß zu fassen, wie der überproportionale Anteil junger Frauen an den arbeitslosen Jugendlichen sowie an unvermittelten Bewerbern zeigt. 1994 betrug die Quote der Frauen unter den noch nicht vermittelten Bewerbern im Westen 49,3% und im Osten 57,3% und lag damit höher als ihr Anteil an allen Bewerbern (im Westen 48,2%, im Osten 52%) (Berufsbildungsbericht 1994, S. 26). Besonders im Osten sind die Chancen für junge Frauen, einen Ausbildungsplatz im dualen System zu bekommen, schlecht. Obwohl junge Frauen 52% aller Bewerber stellen, ist ihr Anteil an denen, die einen betrieblichen Ausbildungsplatz erhalten, nur 45%. Dafür sind sie zu 71% in den über die Gemeinschaftsinitiative Ost finanzierten außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen für "marktbenachteiligte" Jugendliche vertreten. Der Frauenanteil an den berufsbildenden Maßnahmen für Jugendliche mit schulischen und/oder sozialen Defiziten beträgt dagegen nur 34% (Berufsbildungsbericht 1994, S. 29).
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2.2. Junge Frauen werden im Verhältnis zu jungen Männern häufiger nicht im Rahmen des dualen Systems ausgebildet.
Sie sind überproportional in den vollzeitschulischen Berufsausbildungen vertreten, die entweder gar keinen Abschluß (Berufsfachschulen für Hauswirtschaft oder Sozialwesen) oder einen Abschluß mit geringeren Chancen, eine Arbeitsstelle zu finden, vermitteln. In diesen Ausbildungsformen ist die gewerkschaftliche Organisation sehr schwach.
2.3. Die geschlechtsspezifischen Zuweisungsprozesse in bestimmte Berufe befördern Frauen eher in Positionen, in denen eine gewerkschaftliche Organisation nicht die Regel ist.
Der Trend zu typischen Frauen- und Männerberufen ist ungebrochen, auch die erstaunliche Tatsache, daß die geschlechtstypische Berufswahl für junge Männer noch stärker zutrifft als für junge Frauen - allerdings mit dem Effekt, daß junge Männer in den für sie typischen Berufen mehr Sicherheit, Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten finden. Wie die "Berufswahl" bei Jugendlichen erfolgt, ist bekannt: Über eine lange biographische Phase wird den Mädchen und Jungen immer deutlicher, welche Plätze für sie offenstehen und für welche Plätze sie als geeignet gelten: Die Entscheidung für einen Beruf ist aber wichtig für den Prozeß der Identitätsfindung. Die Entscheidung für einen Frauen- bzw. Männerberuf, in dem sichtbar viele Frauen bzw. Männer arbeiten, bringt dabei zumindest keine Irritation der Geschlechtsidentität - wenn auch die konkreten Erfahrung in den Berufen viele dennoch zum Ausbildungsabbruch treibt. Die geschlechtsspezifische Struktur des Ausbildungsstellenmarktes und Arbeitsmarktes ist eine wichtige Weichenstellung für die subjektive Orientierung: Sie hat eine "gender doing"-Funktion für die Identitätsentwicklung. Ob Anpassung erfolgt oder Widerstand gegen regionale und geschlechtsspezifische Normalitätszumutungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes entwickelt wird, ist eine Frage der individuellen Stärke und Orientierung: Einige junge Frauen setzen es sich in den Kopf, einen geschlechtsuntypischen gewerblich-technischen Beruf zu ergreifen und wenige werden auch mit den dort vorhandenen Widerständen fertig. Ebenso geht es einigen jungen Männern, die im sozialen Dienstleistungsbereich arbeiten wollen, wenn auch die Widerstände, die ihnen hier [Seite der Druckausgabe: 13] entgegenkommen, weniger massiv sind. Ganz im Gegenteil werden in ihnen häufig sogar die zukünftigen Vorgesetzten gesehen. In diesen Fällen produzieren geschlechtsspezifische Berufssegmente die Geschlechterhierarchie in doppelter Weise: Zum einen erhalten sie die unteren Positionen überwiegend für Frauen, zum anderen offerieren sie bessere Positionen den wenigen Männern: Segregation und Hierarchie als Element der Geschlechterbeziehung sind hergestellt. Junge Frauen im gewerblich-technischen Bereich, in der Männerdomäne, bleiben allerdings weiterhin vereinzelt. Im industriellen Bereich ist der Platz für weibliche Auszubildende das kaufmännische oder technische Büro oder das Labor. So münden junge Frauen überwiegend in Berufsbereiche ein, in denen gewerkschaftliche Organisierung weniger zur Tradition und Betriebskultur gehört als es in den Bereichen der Fall ist, in die junge Männer überwiegend einmünden.
2.4. Junge Frauen landen häufiger als junge Männer in Betriebsstrukturen und betrieblichen Segmenten, in denen eine gewerkschaftliche Organisierung nicht traditionell zur Betriebskultur gehört.
Junge Frauen bekommen überwiegend und noch stärker als junge Männer in Klein- und Mittelbetrieben einen Ausbildungsplatz: Hier ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad generell geringer. In Klein- und Mittelbetrieben ist branchenübergreifend die Entscheidung, einer Gewerkschaft beizutreten, weitaus seltener als in Großbetrieben. Auch Büros oder Labors sind betriebliche Segmente, in denen die gewerkschaftlichen Organisationsgrade auch bei Männern niedriger sind als in den Produktionsbereichen. Junge Frauen haben damit häufiger als junge Männer Teil an einer betrieblichen Kultur, bei der die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft eher eine Seltenheit darstellt.
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2.5 Für junge Frauen ist die Ausbildungssituation selbst prekärer als für junge Männer.
Für junge Frauen ist es weitaus ungewisser, ob sie in ein Erwerbsarbeitsverhältnis von Dauer münden, als dies bei jungen Männern der Fall ist. Trotz ihres geringeren Anteils an den Auszubildenden in betrieblichen Ausbildungen sind 56% aller Nicht-Übernommenen Frauen und 73% aller Arbeitslosen, die aus einem Ausbildungsverhältnis in die Arbeitslosigkeit geraten, sind junge Frauen (IG Metall 1994, Ausbildung aktuell). Junge Männer sind in der Ausbildung deutlich zufriedener mit der getroffenen Wahl als junge Frauen, das heißt, relativ weniger junge Frauen können sich überhaupt mit dem Ausbildungsplatz anfreunden als junge Männer (Berufsbildungsbericht 1994, S. 42). Die Plätze, die für sie zur Verfügung stehen, entsprechen weniger ihren Vorstellungen als dies bei jungen Männern der Fall ist. Für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft wirkt jedoch die prinzipielle Akzeptanz der eigenen Situation eher begünstigend.
2.6 Die Lebenssituation junger Frauen ist im Hinblick auf Zeit, Geld und Mobilität eingeengter als die junger Männer.
82% aller Auszubildenden haben einen Nebenjob, mit dem sie sich ihre finanziellen Ressourcen aufbessern (Tully, Wahler 1994). 18% jobben sogar mehr als zehn Stunden pro Woche. Junge Frauen sind zwar durch Nebenjobs zeitlich weniger belastet, verfügen dennoch über weniger freie Zeit als junge Männer, weil sie sehr viel mehr Zeit für Hausarbeiten brauchen, insbesondere wenn sie bei ihren Eltern wohnen. Über freie Zeit zu verfügen, ist jedoch für ein Engagement in einer Großorganisation erforderlich, will man mehr als nur den Mitgliedsbeitrag bezahlen. Auch auf finanzielle Ressourcen können junge Frauen nicht in demselben Umfang zurückgreifen wie junge Männer: In typischen Frauenberufen sind die Ausbildungsvergütungen geringer als in typischen Männerberufen. Selbst bei vergleichbaren Tarifen verfügen junge Frauen über weniger Geld als junge Männer, weil ihre Hinzuverdienste aus den Nebenjobs geringer sind. 50% der [Seite der Druckausgabe: 15] jungen Frauen aber nur 33% der jungen Männer verdiente bis zu 200 Mark monatlich dazu, der Schwerpunkt der Zuverdienste lag bei jungen Männern bei 300 Mark. Auch der Anteil junger Frauen an Sozialhilfeempfängern ist überproportional: 1993 waren von den Sozialhilfeempfängern im Alter von 18 bis 25 Jahren 55,2% weiblich.(Haupt, Schubert 1995 S. 13). Eine Folge der geringeren materiellen Ressourcen ist die eingeschränkte Mobilität junger Frauen: Sie verfügen deutlich weniger häufig über eine eigenes Fahrzeug als junge Männer. Gerade im ländlichen Raum ist abendliche Mobilität aber eine entscheidende Voraussetzung für aktive Beteiligung an Großorganisationen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999 |