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[Seite der Druckausgabe: 6]

1. Fragestellung

Der Anteil jugendlicher Mitglieder, insbesondere der junger Frauen, schwindet in allen Großorganisationen, so auch in den Gewerkschaften, immer mehr. Die Mitgliederstatistik des DGB, in der die jugendlichen Mitglieder (überwiegend bis 25 Jahre) der Mitgliedsgewerkschaften erfaßt sind, weist von 1993 zu 1995 bei den jungen Frauen einen Rückgang um 44,8%, bei jungen Männern um 28% auf. Der Anteil junger Frauen an den jugendlichen Mitgliedern im DBG ging von 33,9% (1993) auf 27,6% (1995) zurück.

In der jugendpolitischen Debatte werden verschiedene Gründe für den allgemeinen Rückgang der Beteiligung Jugendlicher in Großorganisationen wie den Gewerkschaften angeführt:

  • die Bevölkerungsentwicklung, nach der die Anzahl der 18- bis 25-jährigen generell stetig abnimmt. Gab es 1983 noch 9,5 Millionen Jugendliche in diesem Alter, werden es im Jahre 2000 nur 5,2 Millionen sein
  • die Labilisierung der sozio-strukturellen Lebensverhältnisse: die biographische Mobilität, der Zeitdruck, die Auflösung sozialer Milieus, die geringere personelle Konstanz in Familie und sozialem Nahbereich
  • die schwindende Gewerkschaftsmitgliedschaft wird mit der Enttraditionalisierung politischer Bindungen erklärt, die sich auch in dem zunehmend schlechter werdenden Image der Gewerkschaften niederschlägt (Heitmeyer 1990).

Immer schon war die Jugend ein Problem, das die älteren als solches definieren: Jugend ist anders, grenzüberschreitend, normenverwerfend. In Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Verbänden muß die Jugend als politischer Nachwuchs beobachtet, umworben und herangezogen werden. Eine Überalterung von Großorganisationen ist letztlich deren politisches Ende. Ganz im Interesse des Erhalts der Organisation wird hier die Frage nach der Attraktivität und Anziehungskraft der Organisation, aber auch nach der Befindlichkeit

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und den Lebenswelten der Jugendlichen gestellt. Es wird nach Berührungspunkten zwischen Großorganisation und jugendlicher Lebenswelt gesucht. Der interne Diskurs über die mangelhafte Beteiligung der Jugend ist durchzogen durch gängige und verbreitete Erklärungsmuster: So wird die Frage gestellt, ob die Geschlechtszugehörigkeit die Beteiligung junger Leute beeinflußt und welche Gründe es für die relativ geringere Beteiligung junger Frauen gibt. So gestellt wird das Problem androzentrisch formuliert: Nicht die Gründe für die relativ höhere Beteiligung junger Männer werden gesucht. Wie so oft, gilt das Verhalten der jungen Männer als Maßstab für das Normale, während das Verhalten der jungen Frauen als Abweichung davon und damit erklärungsbedürftig erscheint. Ein solcher Androzentrismus verkürzt die Geschlechterfrage, indem er sie zur Frauenfrage erklärt: Die Einsichten, die zu erwarten wären, wenn man die Verbindung zwischen männlicher Geschlechtsrolle und Großorganisation nicht als natürlich setzt, sondern ebenfalls zum Gegenstand der Fragestellung macht, werden von vornherein ausgeblendet.

Neuere theoretische Ansätze zur Geschlechterfrage (Sgier 1994) kehren nicht nur den Androzentrismus um. Sie richten ihr Augenmerk auf die Entstehung dieser Differenz. Sie fragen damit nicht nach den Auswirkungen der Geschlechtszugehörigkeit, sondern interessieren sich für die Mechanismen ihrer Entstehung. Folgt man dem Denkansatz dieser Theorien, so ist bereits die Frage nach der Geschlechterdifferenz, in diesem Falle also danach, warum junge Frauen sich weniger beteiligen als junge Männer, selbst eine Konstruktionsform dieser Differenz. Wer danach fragt, ob und warum junge Frauen sich weniger politisch beteiligen, sucht nach Merkmalen, Verhaltensweisen und Lebensumständen, die zu Frauen - im Gegensatz zu Männern - gehören. Die Antworten auf eine solche Fragestellung weisen auf ein Anderssein und Andersdenken der Frauen hin und liefern damit die Gründe für die mangelnde politische Beteiligung. Schnell werden Frauen wieder als das andere, minderwertige Geschlecht definiert, dem allenfalls eine spezifische Förderung zur Überwindung dieses Defizits zuteil werden müßte.

Eine Behandlung der Frage nach der relativ geringen Beteiligung junger Frauen an Großorganisationen, speziell Gewerkschaften, die sich auf eine Differenztheorie der Geschlechter bezieht, verdoppelt durch das Aufzeigen besonderer Merkmale, die zum Teil empirisch nachweisbar sind, die Differenz zwischen den Geschlechtern. Die tief verankerte geschlechterpolarisierende Kategorisierung von Individuen wird damit theoretisch und argumentativ reproduziert.

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Aber: Zur Überwindung der vorfindbaren Unterschiede zwischen den Geschlechtern ist ein Aufbrechen der hierarchischen Geschlechterdifferenz und nicht deren Verstärkung erforderlich. Wer nur die Privilegierung der Männer und Deprivilegierung der Frauen als solche aufzuzeigen versucht, dem bleibt auch nur der Versuch, die Frauen in Position und Macht den Männern anzugleichen. Das kann durch spezifische Förderung geschehen oder aber dadurch, daß die spezifischen Merkmale der Frauen als weibliche hervorgehoben und den männlichen gegenüber aufgewertet werden. In beiden Fällen wird die hierarchische Geschlechterdifferenz akzeptiert und nicht kritisiert. Eine Geschlechtertheorie, die nicht der Gefahr erliegen will, selber die Geschlechterdifferenz zu reproduzieren, darf die Differenz nicht zum Ausgangspunkt, sondern vielmehr zum Gegenstand der theoretischen Betrachtung und Fragestellung machen. Um die statistisch festgestellte noch stärkere Nichtbeteiligung junger Frauen zu erklären, muß man nach dem Zustandekommen dieser geschlechtsspezifischen Differenz fragen. Dazu müssen Prozesse und Mechanismen gesucht werden, die die Individuen über die Geschlechtskategorie unterschiedlich betreffen. Solche Prozesse sind in der Sozialisation der einzelnen als auch in den Strukturen und Mechanismen von Großorganisationen verankert. In beiden Bereichen spielt die kulturelle Polarisierung und Hierarchisierung der Geschlechter eine bedeutende Rolle: Geschlechtsidentität gilt es in der individuellen Biographie herzustellen, das heißt, in dieser Gesellschaft Frau oder Mann zu werden, ist eine entscheidende Entwicklungsaufgabe. Subjektiv ist die Geschlechterpolarisierung präsent, vielfach wird sie zum Gegenstand von Auseinandersetzung. In Großorganisationen sind geschlechtshierarchische Strukturen vorhanden. Hier wird durch Hierarchisierung und die Ausblendung des weiblichen Lebenszusammenhangs die Macht geschlechtsspezifisch verteilt, zugunsten der Männer und zu Ungunsten der Frauen.

Von einer Geschlechtertheorie ausgehend, die die polarisierende Differenz zum Gegenstand der Fragestellung macht und die die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht primär als Ergebnis gesellschaftlich produzierter Prozesse sieht, werden im folgenden diese Prozesse untersucht und zur Erklärung des Phänomens der relativ geringeren Beteiligung von Frauen herangezogen.

Zum einen ist dabei aufzuzeigen, wie geschlechtsspezifische Identitäten gebildet, verfestigt, aber auch gelöst werden können, wie also Frauen und Männer sich selber so definieren, daß ihre Beteiligung an Großorganisation wie Ge-

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werkschaften nicht oder gerade doch naheliegt, wie Frauen und Männer aber auch Großorganisationen wahrnehmen und sie auf ihr Geschlecht bezogen erleben. Es geht also im folgenden nicht darum, in der empirische festzustellenden Ausprägung von Merkmalen und Einstellungen von Frauen Erklärungen für ihre mangelnde politische Beteiligung zu suchen. Mit einer solchen Sichtweise ließe sich auch schwer erklären, warum es dennoch junge Frauen gibt, die sich in Großorganisationen wie auch Gewerkschaften beteiligen und warum es auch junge Männer gibt, die das nicht tun. Die Geschlechtszugehörigkeit ist auch empirisch ein Merkmal, das bei weitem weniger erklärt, als gemeinhin angenommen wird. Immer wieder zeigen Untersuchungen, daß die Unterschiede innerhalb der Gruppen der Frauen und der Männer bei weitem größer ausfallen als zwischen Frauen und Männern (Hagemann-White 1984). Vielmehr werden die empirischen Befunde, die die Geschlechterdifferenz hervorheben, als Ergebnisse von "gender doing"-Prozessen interpretiert, als jeweils gefundene Balance bei der Identitätsentwicklung.

Zum anderen ist aufzuzeigen, wie die Strukturen und Mechanismen von Großorganisationen, ihre sichtbaren Politiken und Maßnahmen, ihre Werbeprodukte und Beteiligungsformen die Geschlechterpolarisierung verstärken und damit in einer Art heimlichen Lehrplan die Frauen ausgrenzen, außen vorlassen oder nur in begrenztem Umfang beteiligen und ermächtigen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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