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[Seite der Druckausgabe: 20 / Fortsetzung]

6. Die Anerkennung der Qualifikationen aus der Familienarbeit rühren an den Kern des hierarchischen Geschlechterverhältnisses

Wer die Fähigkeiten aus der Familienarbeit anerkennt und bei der Beurteilung einer Person positiv berücksichtigt, muß sich von einer patriarchalen Sichtweise verabschieden. Die ihr eigene Trennung von privater und öffentlicher Arbeit und die Abwertung und Unsichtbarmachung der privaten Arbeit sowie die Priorisierung der Erwerbsarbeit passen nicht mehr. Bei einer gleichgewichtigen Bewertung von privater unbezahlter und öffentlich bezahlter Arbeit wird das vorhandene Ungleichgewicht in der gängigen Wertschätzung angetastet. Nicht nur die in der Erwerbsarbeit vermittelten und kontrollierten Fähigkeiten werden als relevant für die berufliche Arbeit angesehen, es werden auch die Fähigkeiten für wichtig gehalten, die in der unsichtbar gehaltenen Privatsphäre erworben und eingesetzt werden. Der Dualismus und die hierarchischen Bewertungsmuster werden erschüttert. Das führt zu der logischen Folgerung, daß Menschen, die in der privaten Sphäre keine Erfahrungen besitzen, im Vergleich zu denen, die diese Erfahrungen haben, in diesem Punkt als defizitär anzusehen sind. Und das bedeutet konkret, daß vielen Männern Qualifikationen fehlen, die sehr viele Frauen vorzuweisen haben. Damit wird das männlich geprägte Weltbild nicht etwa nur ergänzt im Sinne: „Frauen können das auch", sondern revolutioniert im Sinne: „Frauen können mehr."

Die Berücksichtigung der Qualifikationen aus der Familienarbeit bedeutet aber nicht nur eine Aufwertung dieser Qualifikationen als Handlungspotential bei den Personen, die diese Familienarbeit geleistet haben. Ebenso bietet sie eine neue Sichtweise bei der Bestimmung der Anforderungen am Arbeitsplatz. Frauen beanspruchen, daß die Qualifikationen, die sie aus dem Erfahrungshintergrund der Familienarbeit als privater Familienarbeit mitbringen, in die Anforderungsprofile der Erwerbsarbeitsplätze einbezogen werden. In Stellenbeschreibungen und Tarifverträgen fehlt z.B. das Merkmal „soziale Qualifikationen" fast durchgängig, obwohl jeder und jede weiß, daß sie unabdingbar sind, um einen normalen Arbeitsalltag erträglich erleben zu können. Die Akzeptanz der Bedeutung dieser Qualifikationen an jedem Arbeitsplatz, wenn auch in unterschiedlichem

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Ausmaß und mit unterschiedlicher Gewichtung, trägt dazu bei, die wirklichen Anforderungen zu erkennen und korrigiert damit Defizite der herrschenden Sichtweise. Mit der Forderung nach der Berücksichtigung sozialer Qualifikationen an allen Arbeitsplätzen treten Frauen also nicht etwa als Bittstellerinnen auf, sie sind vielmehr die Kritikerinnen der herrschenden Beurteilungsmaßstäbe und treten an, sie zu verändern und zu vervollständigen. Sie beanspruchen zu definieren, wann welche Qualifikation für eine vorgesehene Tätigkeit von Bedeutung ist und beziehen sich dabei auf ihre Erfahrungen mit der Familienarbeit.

Alle, die die herrschenden patriarchalen Denkweisen kennen, unter ihnen leiden und gegen sie ankämpfen, werden ermessen, welchen Zündstoff für das Geschlechterverhältnis solche kritischen Umwertungsprozesse bringen und welche Zeit und Kraft ihre Umsetzung erfordert. Die patriarchale Sichtweise wird sowohl von einzelnen Männern als auch von einzelnen Frauen geteilt. Auch Frauen sind nicht davor bewahrt, die Abwertung der von ihnen selbst geleisteten Familienarbeit zu betreiben und ihre eigenen Fähigkeiten zu unterschätzen. Die Übernahme patriarchaler Sichtweisen scheint für einige Frauen eine angemessene Strategie, ihre eigene Position Männern gegenüber zu verbessern. Sie versuchen dabei, dadurch an der Macht der Männer teilzuhaben, indem sie sich mit ihnen und ihren Denkweisen identifizieren. Auch dies ist eine Strategie, der geschlechtsspezifischen Ohnmacht zu entkommen, sie verhindert aber die Verbindung zu den Frauen, die sich auf ihre Erfahrungen in der ihnen zugewiesenen Familienarbeit positiv beziehen. Die Konflikte bei der Umsetzung der Klausel werden also nicht nur zwischen Frauen und Männern laufen, sie könnten auch die Frauen gegeneinander aufbringen. Eine solche Konfliktlinie verweist auf die Tatsache, daß allein das Geschlecht nicht automatisch spezifische Denkweisen, Erfahrungen und Selbstinterpretationen vermittelt, sondern daß Männer wie Frauen sich immer mit den herrschenden Geschlechterbildern und den damit verbundenen Zumutungen auseinandersetzen müssen. Ihre konkreten Anschauungen, ihre Lebenssituation und ihre aktuellen Einstellungen sind immer eine je spezifische Form des Ergebnisses solcher Prozesse, damit allerdings auch wandelbar. Frauen, die nach dem Muster leben, wie es für Männer in dieser Gesellschaft vorgegeben ist, werden wenig Nähe zu den Erfahrungen aus der Familienarbeit besitzen und in deren Aufwertung genau wie viele Männer eine Bedrohung ihrer Positionen sehen. In diesen Fällen müssen Frauen sich Zeit nehmen und Geduld aufbringen, um gemeinsame Erfahrungen zu thematisieren, und um eine Kultur gegenseitiger Unterstützung zu entwickeln.

Immer schon haben Frauen gegen die Diskriminierung ihres Geschlechts gekämpft. Je nach ihrem Selbstverständnis erhält die Forderung nach einer gesetzlichen Förderung der Gleichstellung der Geschlechter ein unterschiedliches Gewicht. Die Frauenbewegung verfolgt nicht in erster Linie das Ziel einer quantitativen Gleichstellung der Geschlechter bei der Besetzung von Positionen, wie sie etwa über Quotierung oder verbindliche Zielvorgaben erreicht werden kann. Für viele Frauen bedeutet Geschlechtergleichheit nämlich nicht eine den Männern gleiche Positionierung von Frauen, sondern vielmehr eine feministische Kritik an den Positionen selbst und die Idee ihrer innovativen Veränderung. Den Maßstab dieser Veränderung bildet der für Frauen typische Erfahrungshintergrund. Frauen entwickeln die Vision einer komplexen Veränderung in den kulturellen Geschlechterbildern und in den Lebensbedingungen, die sowohl das männliche als auch das weibliche Stereotyp und sowohl die männliche als auch weibliche Biographie betreffen. Diese Vision wird getragen von der Wertschätzung bestimmter, traditionell den Frauen zugeschriebenen Orientierungen, Arbeitsweisen und Organisationsformen und von der Kritik

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an bestimmten, traditionell den Männern zugeschriebenen Orientierungen, Arbeitsweisen und Organisationsformen. In dieser Vision wird die Gleichstellung mit den Männern nicht etwa nur formal gesehen, sondern sie wird immer auch verbunden mit einer neuen Qualität in den Lebensbedingungen. Wesentlich dabei ist die Kraft der Frauen, die die für sie neuen Positionen nicht nur besetzen, sondern auch verändern. Nicht Weiblichkeit an sich, aber die den Frauen zugewiesenen Orte und die dort möglichen Erfahrungen und entwickelten Kompetenzen schaffen die neuen Kriterien und verrücken die Maßstäbe. Bislang gelten Menschen, die für Hilfsbedürftige, seien sie jung, krank oder gebrechlich, im privaten Bereich Verantwortung und Sorge tragen, im Erwerbsarbeitssystem als behindernd und kontraproduktiv. Sie werden an die jeweils unteren Positionen der von Männern konstruierten Arbeitssysteme verwiesen. Wenn das überwiegend Frauen trifft, liegt es daran, daß die private Familienarbeit geschlechtsspezifisch verteilt wird und Männer von ihr weitgehend ausgeschlossen bzw. entlastet sind. In einer Gesellschaft ohne eine solche geschlechtshierarchische Arbeitsteilung gäbe es kein Problem der Berücksichtigung der Qualifikationen aus der Familienarbeit, vielmehr hätten Frauen wie Männer gleichermaßen Anteil an privater Familienarbeit und Erwerbsarbeit und entsprechende Qualifikationen erworben – sicher hätte sich in einer solchen Gesellschaft auch die Erwerbsarbeit wesentlich verändert.

Die Stärke der Frauen liegt nun darin, in diesem Ausschluß der Männer von Familienarbeit auch ein wesentliches Defizit im männlichen Sozialcharakter zu sehen und die Konsequenzen dieses Defizits in Arbeitssystemen aufzuzeigen. Die Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten, nicht ihre Verachtung oder Erniedrigung, stärkt die Frauen dabei, den kritischen Blick auf männlich besetzte und definierte Positionen zu entwickeln. Frauen teilen dann nicht die männliche Verachtung und Abwertung der privaten Familienarbeit. Sie lösen diese Arbeit und die damit verbundenen Erfahrungen und Fähigkeiten vielmehr aus ihrer Zweitrangigkeit und verleihen ihr einen kulturellen Wert und gesellschaftliche Bedeutung.

Die Klausel in den Gleichberechtigungsgesetzen, nach der den im privaten Arbeitsbereich entwickelten Fähigkeiten bei der Besetzung einer Erwerbsarbeitsposition Bedeutung zukommt, ist ein kleiner Schritt in die Richtung dieser Vision.

Die Schwierigkeiten mit der Umsetzung dieses Anspruches in der Praxis verschärfen sich auch dadurch, daß es bislang noch wenig konkrete Erkenntnisse über die tatsächlichen Qualifizierungsprozesse in der Familienarbeit oder in der ehrenamtlichen Arbeit gibt. Dieser Mangel ist nicht den Frauen zuzuschreiben, sondern eine Folge der patriarchalen Verdrängung dieser Arbeit.

Frauen dürfen sich dabei nicht irre machen lassen: Die Geschichte der Frauenrechte zeigt, daß häufig Gesetzestexte dem Bewußtsein voraus sind. Das erschwert die Umsetzung, macht sie aber nicht unmöglich.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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