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[Seite der Druckausgabe: 15 / Fortsetzung]

5. Wie können Qualifikationen aus der Familienarbeit in der Erwerbsarbeit berücksichtigt werden?



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5.1 Die Definition von Familienarbeit ist unklar

So umstritten wie die Definition der Familie ist – mal wird sie tot gesagt, mal wird sie als stabile Institution beschworen –, so wenig Klarheit herrscht entsprechend auch über die Familienarbeit. Gerade weil die Diskussion um Familie besonders stark von moralischen, oft religiösen Vorstellungen bestimmt wird, gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens über die genaue Abgrenzung der Mitglieder einer Familie (verwandtschaftliche und/oder eheliche und/oder frei gewählte Beziehungen), oder über die Arbeitsteilung in der Familie (Geltung des Ernährermodells; Drei-Phasen-Modell der Berufstätigkeit der Frau; Partnerschaft). Auch der Gegenstand der Familienarbeit ist nicht klar bestimmt: Handelt es sich vorwiegend um hauswirtschaftliche Arbeiten, Konsumarbeit, Erziehungsarbeit, Pflegearbeit oder gar das Management eines Kleinbetriebes?

Familienarbeit wird in der herrschenden Ökonomie sowohl quantitativ als auch qualitativ verschleiert. Sie fällt aus der ökonomischen Betrachtung heraus, weil sie unbezahlt ist und ihr entsprechend kein monetärer Geldwert zugeordnet werden kann. Der Wert der Erwerbsarbeit wird im Bruttosozialprodukt berechnet, der Wert der unbezahlten Arbeit wird nicht entsprechend erfaßt, wenn auch erste Schätzungen dafür sprechen, daß der Wert der unbezahlten Arbeit mindestens dem der bezahlten Arbeit entspricht. Auch über ihren Umfang gibt es wenig Daten, erste Erhebungen zeigen allerdings, daß sie mindestens so viel Zeit beansprucht wie die Erwerbsarbeit in der Gesellschaft (Blanke u.a. 1996). Qualitativ wird die Familienarbeit verschleiert, da es kaum spezifische Untersuchungen und damit Erkenntnisse über die Formen und Arten gibt, so daß man bisher nur schwerlich Beanspruchung, Belastung oder Qualifikationen definieren kann. Einzelne Qualifikationsbereiche aus der hauswirtschaftlichen Arbeit sind in Berufsbildern erfaßt und ihnen ist eine entsprechende Ausbildung zugeordnet. Aller-

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dings umfaßt die Familienarbeit sehr viel mehr als die hauswirtschaftliche Arbeit und ist offenbar gerade dadurch zu definieren, daß vielfältige Tätigkeiten in komplexen und verschränkten Zusammenhängen erfüllt werden. Untersuchungen aus der Frauenforschung weisen gerade auf diesen ganz anderen Charakter dieser Arbeit hin, der es deswegen schwierig macht, sie mit den gängigen arbeitswissenschaftlichen Methoden zu messen (Jurczyk, Rerrich 1993). Die Familienarbeit muß also ins Blickfeld von Berechnungen und Untersuchungen gelangen, damit sowohl quantitative als auch qualitative Erkenntnisse über die Arbeit zur Verfügung stehen.

Familienarbeit in privaten Haushalten unterliegt keinen Qualifikationsstandards. Wenn es auch oft unterstellt wird: Die weibliche Sozialisation ist nicht mit dem unauffälligen Erlernen aller in der Familie notwendigen Arbeiten verkoppelt. Die Annahme einer geschlechtsspezifischen Eignung für bestimmte Arbeiten dient immer der Verschleierung einer Privilegierung oder Diskriminierung. Das Arbeitsfeld in privaten Haushalten ist höchst variabel, schichtenspezifisch unterschiedlich, immer aber hoch komplex und vielfältig. So sind z.B. die Anforderungen an die Koordinierungsfähigkeit in einem Haushalt mit drei schulpflichtigen Kindern, einer betreuungsbedürftigen älteren Person und Haustieren in einer Großstadt nicht vergleichbar mit den Anforderungen in einem Haushalt, in dem drei erwachsene, erwerbstätige Menschen wohnen, auch wenn sie die klassische Familie darstellen. Sicher ist, daß die Vermischung von hauswirtschaftlichen Arbeiten und personaler Betreuung von Kindern und Alten eine anforderungsreiche Arbeit ist, die Vielseitigkeit und Flexibilität, soziale Kompetenz und Streßresistenz erfordert. Familienarbeit hat mit den unmittelbaren Lebensbedürfnissen von Menschen jeden Alters zu tun. Es geht hier um einen Typ von Arbeit, dessen Charakter ebenso hohe Qualifikationsanforderungen beinhalten kann wie spezialisierte technische Arbeit, insbesondere durch die spezifische und widersprüchliche Mischung in den Anforderungen: zwischen Zeitersparnis durch rationelle Arbeit und Zeitverausgabung bei persönlicher Zuwendung. Daneben beinhaltet sie Koordinierungsleistungen für alltägliche Lebensführung, stellt aber auch hohe Anforderungen, die aus dem neuen Wissen über ökologische und medizinische Zusammenhänge stammen.

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5.2 Ansätze zur Berücksichtigung der Qualifikationen aus der
Familienarbeit


Für den Bereich der hauswirtschaftlichen Arbeit liegen bereits eine Reihe von Ansätzen zur Analyse von Qualifikationen vor (vgl. Kettschau 1991). Diese Ergebnisse nutzen besonders dann, wenn professionalisierte hauswirtschaftliche Tätigkeiten die Erwerbsarbeit bilden und die diesbezüglichen Erfahrungen von Personen beurteilt werden sollen.

Demgegenüber gibt es Ansätze, die eine pauschal definierte „Familienkompetenz" messen wollen und sich dabei auf psychologische Testverfahren stützen (Vollmer 1995). Hier wird der Versuch unternommen, die notwendige, detaillierte und umfangreiche Anforderungsanalyse der Familienarbeit dadurch zu umgehen, daß statt dessen bestimmte Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen als Ergebnis von Familienarbeit angesehen werden. Bei einem solchen Ansatz bleibt völlig im Dunkeln, in welcher Weise welche Anforderungen in der Familienarbeit welches Persönlichkeitsmerkmal hervorruft oder in bestimmter Weise konturiert. Eine solche „Messung" erweckt den Anschein objektiver Bewertung, bietet aber keinerlei Validität, also keinerlei Sicherheit darüber, daß wirklich etwas gemessen wird, was mit der Familienarbeit zu tun hat. Qualifikationsmessungen mit herkömmlichen Tests oder die Nutzung psychologischer Eignungsuntersuchungen

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sind erst dann sinnvoll, wenn die benutzten Instrumente von einer Theorie über das Untersuchungsfeld, also die Familienarbeit, geleitet werden: Beim heutigen Erkenntnisstand spricht nicht viel dafür, daß es so etwas wie Familienkompetenz als pauschale Qualifikation überhaupt gibt, und daß sie mit Tests zu messen wäre.

Eine umfassende Beschreibung der Qualifikationen, die in der Familienarbeit erworben werden können, läßt sich heute nicht geben. Im folgenden werden drei verschiedene Ansätze vorgestellt, die in der Praxis mit dieser defizitären Lage umzugehen versuchen.

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Erstes Muster: Relevanzadäquanz

Nach diesem Muster geschieht der Einbezug der Qualifikationen aus der Familienarbeit dadurch, daß diese Arbeit gesellschaftlich für genauso wichtig wie die Erwerbsarbeit angesehen wird. Diese Betrachtung führt zu einer Gleichsetzung der Zeit, die für Familienarbeit geleistet wird mit der Zeit, die mit Erwerbsarbeit verbracht wird. Bei diesem Muster wird kein Bezug auf den konkreten Arbeitsinhalt oder die entsprechenden Qualifikationen genommen, es wird nur die Dauer der Familienarbeit berücksichtigt. Einem solchen Ansatz folgt die Anerkennung des sogenannten Baby-Jahres in der Rentenversicherung, die Anrechnung von Erziehungszeiten im Arbeitsförderungsgesetz. Auch im Bundesgesetz zur Durchsetzung der Gleichberechtigung wird dieses Muster genutzt, wenn dort geregelt ist, daß die Dauer der Familienarbeit bei der Beförderung nicht negativ zu Buche schlagen darf.

Eine solche Relevanzadäquanz ist als Mindeststandard bei Personalauswahl zu setzen: Es darf demnach nirgendwo mehr als Nachteil bewertet werden, wenn Frauen statt der Erwerbsarbeitszeit Familienarbeitszeit in ihrer Biographie vorzuweisen haben. Diese mehr quantitative Gleichbewertung ist als ein erster Schritt zur Gleichwertigkeit privater und beruflicher Arbeit anzusehen.

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Zweites Muster: Tätigkeitsadäquanz

Nach diesem Muster findet der Einbezug der Qualifikationen aus der Familienarbeit über die Gleichsetzung bestimmter Arbeitsinhalte statt. Der Arbeitsplatz in der Familie wird mit dem Erwerbsarbeitsplatz verglichen und es wird überprüft, welche ähnlichen Qualifikationen gefordert werden. Sind die Arbeitsinhalte in der Berufsarbeit vergleichbar mit den Arbeitsinhalten, die auch privat anfallen, dann gelten die im Beruf notwendigen Qualifikationen teilweise als erworben, wenn jemand Familienarbeit geleistet hat. Naheliegend sind ist ein solches Muster in Bereichen wie Hauswirtschaft, Altenpflege, aber auch im Bereich Erziehung oder Sozialarbeit. Bislang gibt es einzelne Regelungen, die eine Verkürzung der Ausbildung für die entsprechenden Arbeitsfelder vorsehen oder auch den Anspruch auf Wegfall einzelner Ausbildungsabschnitte. Das Muster der Tätigkeitsadäquanz ist entsprechend nur in den Bereichen nutzbar, in denen die Arbeitsinhalte in der Erwerbsarbeit eine Professionalisierung privater Arbeit darstellt. Dennoch ist auch die Tätigkeitsadäquanzbetrachtung ein Schritt, der die Arbeit im privaten Bereich aufwertet.

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Drittes Muster: Schlüsselqualifikationsadäquanz

Bei diesem Muster geschieht der Einbezug der Qualifikationen aus der Familienarbeit dadurch, daß die Anforderungen aus der Familienarbeit mit denen aus der Erwerbsar-

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beit auf der Ebene der Schlüsselqualifikationen auf ihre Ähnlichkeit hin überprüft werden. Dabei wird angenommen, daß z.B. die Anforderungen an soziale Kompetenz, Organisationsvermögen, Flexibilität und Kreativität in der Familienarbeit den Anforderungen in der Erwerbsarbeit gleich sind. Unter dieser Annahme gelten Personen, die Familienarbeit leisten, als in Schlüsselqualifikationen gut trainiert und damit den Personen überlegen, die dieses Training nicht vorweisen können. Die Zeit, in der private Familienarbeit geleistet wird, und die Tatsache, daß sie geleistet wird, also auch neben der Erwerbsarbeit, gilt hier als ausreichender Indikator für das Vorhandensein sozialer Qualifikationen.

Als ein Beispiel, das zur Anregung und Nachahmung empfehlenswert erscheint, sollen die Vereinbarungen dienen, die in der Schuldirektion Bern getroffen worden sind. In Bern wurde zum einen vereinbart, daß ein abgeschlossenes Erfahrungsjahr im Familienbereich einem Dienstjahr gleichgesetzt wird (Relevanzadäquanz). Darüber hinaus sind einige Schlüsselqualifikationen benannt und konkrete Felder beschrieben, in denen sie erworben werden können (vgl. Schema). Wenn eine solches Schema den personalpolitischen Entscheidungen zugrunde gelegt wird, lassen sich nachvollziehbare Zuordnungen spezieller Qualifikationen zu einer Person treffen. Wenn dann die Anforderungsprofile der Positionen und Stellen ebenfalls diese Schlüsselqualifikationen enthalten, lassen sich Personalentscheidungen mit der Berücksichtigung von Qualifikationen aus der Familienarbeit legitimieren.

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Schlüsselqualifikationen (Beispiel Schuldirektion Bern)

Umschreibung und ausgewählte Beispiele von Aufgaben, in denen sich die Schlüsselqualifikationen erwerben lassen


Bereich
Soziale Kompetenzen

Bereich
Leistungsrelevante Kompetenzen

Bereich
Kreative Kompetenzen

Bereich
Kompetenzen zur Krisenbewältigung

Einfühlungsvermögen

Aufgaben im Zusammenhang mit Personen, die dem eigenen Empfinden und/oder der eigenen Erfahrung relativ fremd sind,

z.B. Kontakte mit Arbeitslosen, Kontakte mit Menschen anderer Kulturen (Ausländer, Flüchtlinge), Kontakte mit psychisch Kranken oder Behinderten.

Teamfähigkeit/Fähigkeit zum Tragen von Mitverantwortung

Aufgaben, die zeitweilig Unterordnung unter gemeinsame Ziele verlangen; Aufgaben, die Arbeitsteilung resp. die Übernahme wechselnder Rollen (Führungsrolle, Fachaufgaben) erfordern,

z.B. Mitarbeit in Arbeitsgruppen, Vereinsvorständen, politischen Gruppen.

Fähigkeit zum Tragen von Selbstverantwortung

Übernahme von Aufgaben im eigenen Kompetenzbereich, auch ohne Unterstützung durch andere; Übernahme von Aufgaben, die eigenständige Entscheide verlangen.

Belastbarkeit

umfangmäßig große und schwierige Aufgaben, die über längere Zeit zu bewältigen sind,

z.B. langfristige Betreuung pflegebedürftiger Personen.

Lernfähigkeit

den Einsatz von neuem Wissen und Können,

z.B. Sitzungsführung, Weiterbildung außerhalb des gelernten Berufes.

Fähigkeit zur Konzentration

Aufgaben, die über längere Zeit hohe Aufmerksamkeit erfordern,

z.B. Korrekturlesen, Dateneingabe, Überwachen von Anzeigen und Kontrollgeräten.

Prioritäten setzen

z.B. gezielt und vernünftig in Situationen vorgehen können, in denen mehrere einander ausschließende Aktivitäten möglich sind.

Fähigkeit zur Planung

längerfristige Vorhaben vorausschauend durchführen,

z.B. Tagungen, Vereinsreisen und Anlässe organisieren.

Organisationsfähigkeit

Aufgaben, die zeitliche und inhaltliche Abstimmung einer Vielzahl von Aspekten und/ oder Personen erfordern,

z.B. Nachbarschaftshilfe einrichten, Angebot und Durchführung von Kursen und Veranstaltungen (kirchlich, kulturell, sportlich etc.).

Initiative ergreifen

Aktivitäten, die ohne betreffende Person nicht in Angriff genommen worden wären,

z.B. Initiierung eines Mittagstisches, Aufbau einer Selbsthilfegruppe.

Flexibilität bei sich ständig verändernden Bedingungen

Aufgaben, bei denen in rascher Anpassung an eine neue Situation mehrere Aktivitäten zugleich zu koordinieren sind,

z.B. bei Reiseleitung und bei der Durchführung größerer Feste.

Fähigkeit zum Mehrfachhandeln

gleichzeitige Ausführung von mehreren Aktivitäten,

z.B. freiwillige und/oder berufliche Aktivitäten und Aktivitäten aus der Familienarbeit erfolgen parallel.

Fähigkeit zu originellem Handeln

unübliche Wege zur Problemlösung aufzeigen.

Verhandlungsfähigkeit

Aufgaben, die die Vermittlung unterschiedlicher Interessen erfordern,

z.B. Umgang mit Behörden, Leitungstätigkeit in Vereinen und Parteien.

Fähigkeit zur Problembearbeitung

Bewährung in komplexen oder konflikthaften Situationen,

z.B. Betreuung von gesellschaftlichen Randgruppen, Auslandeinsätze.

Fähigkeit zur Streßbewältigung

Handlungsfähigkeit bleibt auch unter psychisch oder physisch belastenden Bedingungen erhalten; oder Beschäftigung erfolgt unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und/oder trotz Kritik und Widerstand,

z.B. Einsatz unter großem Zeitdruck.



Je mehr die Bereitschaft wächst, die Begrenzung des herrschenden Qualifikationsbegriffes zuzugeben, je mehr werden die Erfahrungen der Frauen aus der Familienarbeit als wertvoll angesehen. Die tarifliche Erfassung der aus der Familienarbeit erworbenen Qualifikationen steht noch überall aus. Eine Differenzierung von Erfahrungsbereichen, in denen auch außerhalb der Erwerbsarbeit die dort geforderten Qualifikationen erworben werden können, wie sie am Beispiel der Berner Schulbehörde vorliegt, ist zur Zeit eine

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betriebliche Aufgabe. Der Prozeß der innerbetrieblichen Diskussion über diese Qualifikationen ist für die betriebliche Anerkennung enorm wichtig. Das bedeutet, daß der Kampf der Frauen um die Aufwertung der Familienarbeit erst beginnt und in jedem einzelnen Betrieb zu führen ist.

Wenn man zur Berücksichtigung der Qualifikationen aus der Familienarbeit diesem Schema folgen will, sind zwei Schritte möglich und erforderlich:

  1. Die Anforderungsprofile für die betrieblichen Stellen und Positionen sind zu differenzieren und die Anforderungen an die Schlüsselqualifikationen genau zu definieren.

  2. Es ist betrieblich zu vereinbaren, welche Schlüsselqualifikationen in welchem privaten Arbeitsbereich erlernbar sind, also ein Schema zu entwickeln und dessen Gültigkeit durchzusetzen.

  3. Es sind Kriterien zu vereinbaren, nach denen das Vorhandensein der geforderten Schlüsselqualifikationen beurteilt wird (z.B. Dauer der Tätigkeit in dem Bereich, besondere Leistungen, Zeugnisse).

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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