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[Seite der Druckausgabe: 5 / Fortsetzung]

2. Was ist soziale Qualifikation?



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2.1 Hauptkomponenten sozialer Qualifikation sind: Sensibilität und Selbstreflexion

Im Gegensatz zu dem differenzierten Wissen über den Umgang mit Stoffen, Gegenständen oder Technologien gibt es kein vergleichbar gut ausgearbeitetes Wissen über den Umgang der Menschen miteinander. Es liegt keine einzelwissenschaftlich fundierte Theorie sozialer Qualifikation vor, wenn auch Erkenntnisse aus dem Bereich der psychologisch orientierten Intelligenzforschung, der Persönlichkeitsforschung oder der Sozialpsychologie Lösungen zu dem Problem liefern, was soziale Qualifikation sein könnte.

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In einer empirischen Untersuchung, die der Frage nachging, welche Anforderungen an die soziale Qualifikation im beruflichen Alltag auftreten, wurde folgende Definition sozialer Qualifikation empirisch entwickelt (Damm-Rüger, Stiegler 1996):

Soziale Qualifikation im beruflichen Umgang mit anderen Menschen bezeichnet die Fähigkeit, die eigenen Gefühle, Interessen und Bedürfnisse zu erkennen, die Gefühle, Interessen und Bedürfnisse der jeweiligen Partner und Partnerinnen in der beruflichen Handlungssituation wahrzunehmen, die Rahmenbedingungen, unter denen der berufliche Umgang stattfindet, zu berücksichtigen und eine Balance zwischen diesen drei Polen im gezeigten Verhalten zu finden.

Ein solcher Prozeß des Abgleichens kann innerlich ablaufen, etwa durch das Zurückdrängen eigener Interessen und Gefühle, oder aber auch äußerlich, also in Form eines hör- und sichtbar werdenden direkten, meist verbalen Aushandelns und Abstimmens mit den jeweiligen Interaktionspartnern. Sozial qualifiziertes Verhalten zeichnet sich dadurch aus, daß es erfolgreich ist, wobei der Erfolg nach der hier gebrauchten Definition im Ausgleich, in einer spezifischen Balance zwischen eigenen und fremden Interessen und Bedürfnissen sowie in der Berücksichtigung der beruflichen Handlungssituation liegt. Die Analysen von Anforderungssituationen, in denen soziale Qualifikationen gebraucht werden, kommen zu dem Ergebnis, daß Selbstreflexion und Sensibilität als entscheidende Komponenten bei der Bewältigung sozialer Anforderungen anzusehen sind. Das bedeutet, daß man in der Lage sein muß, die eigene Rolle in der sozialen Handlungssituation zu reflektieren, aber auch die Position, Rolle und Bezüge des jeweils anderen, mit dem gehandelt wird, zu erkennen. Dazu gehört nicht nur das Reflexionsvermögen über das eigene Verhalten, es müssen auch Annahmen über Hintergründe und Motive des Verhaltens anderer entwickelt werden, Rahmenbedingungen müssen erkannt und kritisch eingeschätzt werden. Wer die eigenen Interessen, Gefühle und Werte und die der anderen nicht erkennt und wahrnimmt, wer kein Fingerspitzengefühl hat, der wird in sozialen Situationen scheitern.

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2.2 Soziale Qualifikation ist keine geschlechtsspezifische Fähigkeit

Die verbreitete Vorstellung, daß Frauen besonders geeignet sind zum Helfen, Heilen oder zur Beziehungsarbeit, führt auch zu der Hoffnung, daß bei der steigenden Relevanz dieser Aufgaben die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt in Führungspositionen besser würden. Die Analysen über die Prozesse der Vergeschlechtlichung von Berufen und Fähigkeiten verweisen aber eher auf den gegenteiligen Effekt: Immer, wenn Berufe oder Fähigkeiten mit den polaren und hierarchischen Geschlechterbildern verknüpft wurden, wenn Berufe oder Fähigkeiten als typisch männlich oder typisch weiblich definiert wurden, hatten Frauen das Nachsehen: Die Berufe und Fähigkeiten, für die sie als besonders geeignet betrachtet oder die ihnen qua Geschlecht zugeordnet wurden, entpuppten sich im Laufe der Zeit immer als die weniger angesehenen, schlechter bezahlten Berufe oder gar als völlig unbezahlt nutzbare Fähigkeiten.

Wenn soziale Qualifikation als Teil eines sogenannten weiblichen Arbeitsvermögens definiert wird, wird dadurch eine Vergeschlechtlichung menschlicher Handlungspotentiale vorgenommen. Soziale Qualifikation wird innerhalb der Zuschreibungen, die die kulturellen, polaren Geschlechterbilder kennzeichnen, positioniert. Wenn Qualifikationen jedoch mit den herrschenden Geschlechterbilder verknüpft werden, erschweren genau diese Verknüpfungen alle Versuche, die als weiblich typisierten Qualifikationen aufzuwerten,

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insbesondere im Hinblick auf Bezahlung und statusbezogene Anerkennung. Immer noch ist es nämlich üblich, weibliche Fähigkeiten als naturgegebene Tatsachen zu verstehen, deren Einsatz nicht etwa als Ergebnis von Lernprozessen, sondern als Ausdruck geschlechtsbezogenen So-Seins behandelt wird. Die unentgeltliche Nutzung dieser naturgegebenen Kompetenzen liegt bei dieser Betrachtungsweise nahe.

Empirisch lassen sich soziale Fähigkeiten nicht als geschlechtsgebundene Merkmale nachweisen. Selbst die Versuche, männliche und weibliche Moralvorstellungen trennscharf voneinander abzuheben, haben sich empirisch nicht halten lassen. Die Unterschiede zwischen Frauen sind genauso erheblich wie die zwischen den Geschlechtern. Auch das häufig als Beleg herangezogene sogenannte andere Führungsverhalten von Frauen, ein sogenannter weiblicher Führungsstil, basiert nicht auf einem weiblichen Arbeitsvermögen, sondern ist, wie genauere Analysen zeigen, auf die Position zurückzuführen, die den Frauen zugestanden werden: Jüngere Männer praktizieren einen weichen Führungsstil genauso wie Frauen, wenn sie, wie die meisten Frauen in Führungspositionen, nur mittlere Leitungsaufgaben innehaben (Hadler, Domsch 1994).

Wer aber die Vergeschlechtlichung von Handlungspotentialen kritisiert, leugnet damit nicht die Geltung geschlechtsspezifischer Erwartungen, Normen, Bilder und Zuschreibungen. Auch die Tatsache, daß sich jede Person im Laufe ihrer Entwicklung mit den gesellschaftlich definierten Geschlechterbildern auseinandersetzen muß, wird nicht übersehen. Die jeweiligen individuellen Verhaltenszüge und Fähigkeitsprofile werden allerdings als aktuelles Ergebnis dieser Prozesse und nicht als Entfaltung natürlicher Anlagen betrachtet. Bezogen auf die sozialen Qualifikationen bedeutet eine solche Sichtweise, die die polare geschlechterhierarchische Positionierung von Handlungspotentialen kritisiert, daß auch soziale Qualifikation als Fähigkeit gesehen wird, die jede Person erlernen kann. Soziale Qualifikation basiert auch auf beruflichen Lernprozessen, sie ist trainierbar und ihr Einsatz ist eher von Arbeitsbedingungen als vom Geschlecht der handelnden Personen abhängig.

In der geschlechtshierarchisch strukturierten Gesellschaft werden Frauen häufiger in Situationen gebracht, die zu Sensibilität und Reflexion anregen. Sie machen andere soziale Erfahrungen als Männer, weil sie aufgrund ihres Geschlechts anderen Normen und Erwartungen ausgesetzt sind und sie sich mit anderen Ansprüchen an ihr Denken, Fühlen und Verhalten auseinandersetzten müssen. Insbesondere die Familienarbeit, die ja primär durch das enge Zusammenleben mit nahestehenden Personen unterschiedlichen Alters gekennzeichnet ist und die Sorge im materiellen und immateriellen Bereich umfaßt, beinhaltet hohe Anforderungen an Sensibilität und Reflexion. Das legt den Schluß nahe, daß Personen mit einem solchen Erfahrungshintergrund sozial qualifizierter sind als Personen ohne einen solchen Erfahrungshintergrund. In einer Gesellschaft, in der vornehmlich den Frauen die Familienarbeit zugeschrieben und aufgebürdet wird, werden es entsprechend eher Frauen sein, die soziale Qualifikationen dort erworben haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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