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TEILDOKUMENT:
2. Die Bundesrepublik Deutschland: Einwanderungsland neuen Typs 2.1. Zuwanderung: Ein komplexes System Die Bundesrepublik Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist die Behauptung der Bundesregierung. Dies ist die Prämisse, die der Ausländerpolitik zugrundeliegt und die weitgehende Konsequenzen für die praktische Ausgestaltung dieses Politikbereiches hat. Die Diskussionen um den Begriff der Einwanderung, wie er zu definieren und interpretieren ist, haben nicht in erster Linie eine theoretische und wissenschaftliche Relevanz. Vielmehr entscheidet der Ausgang dieser letztlich politischen Auseinandersetzung, welche Regelungen für die Einreise bzw. Zurückweisung neuer Migranten getroffen werden bzw. wie die bei uns lebenden Zuwanderer behandelt werden. Hier wird bewußt der umfassendere Begriff einer Zuwanderungspolitik anstelle des bisher üblichen Ausdrucks "Ausländerpolitik" verwendet, um deutlich zu machen, daß eine Neuorientierung im politischen Denken erforderlich ist. Es kommt darauf an, den Gesamtkomplex der Wanderungsbewegungen, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist, ins Blickfeld zu nehmen und nicht einzelne Problembereiche bzw. Zuwanderergruppen zu isolieren und zum Gegenstand nicht auf einander abgestimmter politischer Regelungssysteme zu machen (Vorstand der SPD, 1991). Die Ausländerpolitik bezog sich in der Vergangenheit in erster Linie auf die Gruppe der Arbeitsmigranten aus den Mittelmeerländern. Die Asylpolitik beschäftigte sich mit der Regelung der Aufnahme von Flüchtlingen. Im Grundgesetz wurde ein individueller Anspruch auf Asylgewährung bei politischer Verfolgung verankert (Artikel 16 GG). Dieser innerhalb der Staatengemeinschaft einzigartige Rechtsanspruch auf Asylgewährung beruht auf den leidvollen Erfahrungen vieler politisch Verfolgter im Nazi-Deutschland. Die dritte, häufig ausgeklammerte Zuwanderungsgruppe, sind Aussiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die noch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder sich zur deutschen Volkszugehörigkeit bekennen. Bis zur Vereinigung Deutschlands kam darüber hinaus die Übersiedlerzuwanderung aus der DDR hinzu. Die weitgehende Trennung dieser vier Politikbereiche hatte u. a. die Funktion, zwischen erwünschten und unerwünschten Zuwanderergruppen zu unterscheiden und je nach (partei-) politischen Zielsetzungen, die eine oder andere Gruppe zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen zu machen. Die Zuwanderungsthematik eignet sich besonders gut für wahltaktische Überlegungen, weil es ein hochgradig emotional besetztes Thema ist und die sich oftmals verwischenden Konturen zwischen den Parteien, wieder deutlicher sichtbar werden läßt. Diese Emotionalität steht einer sachbezogenen, der Problematik angemessenen, differenzierten Analyse entgegen. Eine ganzheitliche Betrachtung dieser verschiedenen Zuwanderungsgruppen ist allein deshalb geboten, weil sich in den Kommunen die durch die Zuwanderung zweifellos entstehenden Probleme kumulieren und in ihrer Gesamtheit bearbeitet und gelöst werden müssen (Welt, 1992a). Die Beweggründe für die einzelnen Gruppen und Menschen, ihre Heimat zu verlassen und nach Deutschland einzureisen, sind sicherlich sehr vielfältig, ebenso wie die kulturellen, familiären und sozialen Hintergründe. Sie erfordern zielgruppenspezifische Formen der Integrationshilfen. Dessenungeachtet ist es ein Ergebnis der Migrationsforschung, daß unabhängig von dem jeweiligen kulturellen Hintergrund der Wandernden, vergleichbare Problemfelder und Typen von Eingliederungsprozessen bei allen Zuwanderern zu beobachten sind. Sowohl in Aussiedlerfamilien als auch in Familien von Arbeitsmigranten sind familiäre Spannungen, Orientierungs- und Eingewöhnungsprobleme und Generationskonflikte beobachtbar (Bade, 1990: 12 ff.). Unterschiedliche Rechtsstellungen und Integrationsangebote lassen sich mit Hinweisen auf Kulturaffinitäten bzw. Kulturkonflikte nicht legitimieren.
2.2. Deutschland ist Einwanderungsland
Die Verhältnisse und politischen Ziele in Deutschland sind mit denen in "klassischen Einwanderungsländern", wie USA, Kanada und Australien, sicherlich nicht zu vergleichen. Die ursprünglichen "alten" Einwanderergruppen bilden dort die Mehrheitsgesellschaft und waren an der Konstitution des ökonomischen und politischen Systems beteiligt. Einwanderung bedeutete dabei die freiwillige Entscheidung, sein Herkunftsland verlassen, sich auf Dauer im Einreiseland niederzulassen und endete in der Regel mit der Annahme der neuen Staatsangehörigkeit. Dies darf aber nicht gleichgesetzt werden mit einer kulturellen Assimilation und einem Verschwinden der ethnisch definierten Identität im "Schmelztiegel" der Kulturen. Das Bild der "Salatschüssel" mit unterschiedlichen Farbtupfern ist eher geeignet, die Realität in diesen Länden widerzuspiegeln. Auch in ihnen existieren heute noch ethnische Segregationen und ethnische Schichtungen (Elschenbroich, 1986). Der Prozeß der Einwanderung von Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum nach Deutschland nahm einen anderen Verlauf als die Wanderungsbewegungen in die klassischen überseeischen Einwanderungsländer. Er ist ein Musterbeispiel dafür, daß sich soziale Tatbestände entwickeln, ohne daß die beteiligten Akteure diese intendierten (Esser, 1980). Vor allem läßt sich zeigen, daß die getroffenen politischen Maßnahmen und Entscheidungen nicht in der Lage waren, die Prozesse zu steuern und in die gewünschte Richtung zu beeinflussen. Sowohl die Arbeitsmigranten selbst als auch die Bundesregierung und die relevanten gesellschaftlichen Gruppen gingen zu Beginn der Zuwanderung in den 50er und 60er Jahren von einem zeitlich befristeten Aufenthalt aus. Ökonomische Aspekte waren auf beiden Seiten die ausschlaggebenden Handlungsmotive. Eine dauerhaft Einwanderung war nicht beabsichtigt. Durch das Hinausschieben der Rückkehr in die Herkunftsländer und durch den Nachzug von Familienangehörigen verlagerte sich nach und nach der Lebensmittelpunkt der Arbeitsmigranten in die deutsche Gesellschaft (Mehrländer, 1974). Verstärkt wurde dieser Prozeß durch politische Entscheidungen, wie z. B. dem Anwerbestopp bei gleichzeitigem Verbot, nach einer Ausreise wieder als Arbeitsmigrant einreisen zu dürfen. Aus dem geplanten kurzfristigen Aufenthalt der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien ist ein Daueraufenthalt geworden. Folgende Faktoren belegen, daß eine de facto Einwanderungssituation gegeben ist: - Die Aufenthaltsdauer der Arbeitsmigranten und ihrer Familienangehörigen hat sich trotz anhaltender Fluktuation erhöht. 1990 lebten 70 % der Ausländer aus den ehemaligen Anwerbeländern länger als zehn Jahre und 52 % schon länger als 15 Jahre im Bundesgebiet. - Mit dem Nachzug der Familienangehörigen haben sich auch die Konsumgewohnheiten der Migranten geändert. Das Erwerbseinkommen wird nicht mehr ausschließlich gespart, um eine Existenz im Heimatland aufbauen w können; vielmehr werden langlebige Konsumgüter gekauft und der Lebensstandard der Arbeitsmigranten gleicht sich dem von Deutschen an (König, Schultze, Wessel, 1986: 178 ff.). - Bereits 1987 waren von den ca. 1,03 Mio ausländischen Kindern unter 16 Jahren 69 % in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Während die zweite Generation noch relativ häufig sowohl in den Herkunftsländern als auch in Deutschland Schulen besuchte und folglich im Vergleich w Einheimischen schlechtere Schulabschlüsse vorzuweisen hatte, durchläuft die dritte Generation das deutsche Schulsystem von Beginn an. Trotz der nach wie vor bestehenden Benachteiligungen deutet sich an, daß das Bildungsniveau der Migrantenkinder deutlich ansteigt und bereits heute ein größerer Anteil auf höheren Schulen zu verzeichnen ist (Schultze, 1990; ders., 1991). - In zahlreichen Städten sind ethnische Gemeinschaften entstanden, die den Einwanderern bei der Bewältigung ihrer Alltagsprobleme wertvolle Hilfestellungen geben können. Diese ethnischen Gemeinschaften erfüllen vielfältige kulturelle und ökonomische Bedürfnisse der Migranten und sind konstitutiver Bestandteil von Einwanderungsgesellschaften, wie dies am Beispiel der klassischen Einwanderungsländer sichtbar wird (Heckmann, 1981). - Mit zunehmender Aufenthaltsdauer und Verlagerung des Lebensmittelpunktes der gesamten Familie nach Deutschland verringern sich auch die Rückkehrabsichten. Bei der zweiten und dritten Generation nimmt die Neigung, wieder in das Land ihrer Eltern zurückzukehren deutlich ab, und es erfolgt eine eindeutige Orientierung und Lebensplanung hin zu der deutschen Gesellschaft (Schultze, 1990: 174 f.). Diese Indikatoren beweisen, daß die Migranten aus den Anwerbeländern ihren Lebensmittelpunkt in die Bundesrepublik Deutschland verlagert haben. Die widersprüchliche Ausländerpolitik, ihr Ausschluß von zentralen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und die erlebten Benachteiligungen und Diskriminierungen haben bei vielen zu einer ambivalenten Haltung gegenüber unserer Gesellschaft geführt. Selbst bei jenen, die sich weitgehend in die Arbeitswelt, in das Schul- und Freizeitsystem eingegliedert haben, ist nicht von einer emotionalen, identifikativen Assimilation auszugehen. Besonders bei denjenigen Migranten der zweiten und dritten Generation, die als Migrationsverlierer bezeichnet werden können, also durch Merkmale wie unzureichende Schulabschlüsse, Arbeitslosigkeit, gering bezahlte, ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet sind, herrschen relativ starke Gefühle der Verbitterung und Frustration (Schultze, 1990: 162 ff.). Es ist jedoch falsch, ja sogar zynisch, diesen heranwachsenden Migranten Schuldvorwürfe zu machen. Vielmehr sind diese Entwicklungen Ausdruck einer verfehlten Ausländerpolitik, die den Randgruppenstatus dieser Zuwanderer lange Jahre gefördert hat und nicht rechtzeitig auf die veränderten Lebensperspektiven der Familien reagierte.
2.3. Bisherige Ausländerpolitik in Deutschland: Flickwerk ohne System
Die Ausländerpolitik der Bundesregierung verfolgt drei Zielsetzungen: 1.) Es wird angestrebt, die Integration der seit längerem hier lebenden Ausländer zu fördern. Zielgruppen staatlicher Bemühungen sind in erster Linie die Arbeitsmigranten und ihre Familienangehörigen, die aus den Mittelmeerländern einreisten. Ein besonderer Schwerpunkt der Aktivitäten liegt bei den Angeboten für die zweite und dritte Generation dieser Zuwanderergruppe (BMI 1991: 16 ff.). Auch auf seiten der Bundesregierung hat man inzwischen erkannt, daß sich diese Gruppe in einer de facto-Einwanderungssituation befindet, die nicht mehr rückgängig zu machen, höchstens noch teilweise zu beeinflussen ist. Dies wird aber nicht als Indiz gewertet, daß die Bundesrepublik Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist. Nach Auffassung der Regierung handelt es sich hierbei um einen einmaligen historischen Prozeß, der nicht wiederholt werden soll. Er wird quasi als "Fehltritt" bewertet, der den nicht gewünschten Effekt einer Dauereinwanderung hatte; es besteht eine Art moralische Verpflichtung, diesen Migranten Integrationsangebote zu machen, bei gleichzeitiger Kontrolle der weiteren Zuwanderung. Von konservativer Seite sind diese Integrationsangebote sehr stark mit der Aufforderung verknüpft, sich den "deutschen" Sitten und Gebräuchen anzupassen (Schiffer, 1991). So wurden zwar die Einbürgerungsbedingungen im neuen Ausländergesetz vereinfacht, ohne jedoch den Bedürfnissen der Ausländer selbst Rechnung zu tragen. Eine nicht unerhebliche Zahl wäre durchaus bereit, sich einbürgern zu lassen, wenn gleichzeitig die alte Staatsangehörigkeit beibehalten werden könnte. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist aber nur in Ausnahmefällen erlaubt. 2.) Die Begrenzung des Zuzugs weiterer Ausländergruppen wird als zweite Zielsetzung der Ausländerpolitik angegeben. Dieses Ziel kann sich aber infolge der innerhalb der EG geltenden Freizügigkeitsregelung nur auf diejenigen Ausländer beziehen, die aus sogenannten Drittstaaten kommen. Begründet wird dieses Vorgehen mit dem Hinweis, daß Deutschland kein Einwanderungsland sei und eine weitere Zuwanderung an die ökonomische und soziale Grenze der Belastbarkeit der deutschen Gesellschaft stoße. Hier wird eine Verbindung zwischen dem Ziel der Integration und dem der Begrenzung derart konstruiert, daß eine Integration der lange hier lebenden Migranten nur möglich sei, wenn der weitere Zuzug gestoppt werden könne. Die Begrenzungspolitik bezieht sich dabei ausdrücklich nur auf bestimmte Gruppen. So wurde z. B. der Nachzug von Familienangehörigen von Ausländern aus den Anwerbeländern zu Beginn der 80er Jahre drastisch eingeschränkt. 16- und 17jährige Kinder durften nicht mehr einreisen und die Ehegatten der hier lebenden Ausländern der zweiten und dritten Generation nur nach einer Wartezeit. Mit dem neuen Ausländergesetz von 1991 ist diese letzte Regelung rückgängig gemacht worden. Die Bemühungen, den Zuzug von Asylbewerbern zu stoppen, ist gerade in jüngster Zeit ein sehr strittiges Thema zwischen den politischen Parteien und ein Hauptthema der Berichterstattung in den Medien. Eine Begrenzungspolitik gegenüber Asylbewerbern ist aber bereits seit Beginn der 80er Jahre beobachtbar. Die einzelnen Initiativen zielten darauf ab, die Einreise von Asylbewerbern zu erschweren. Erinnert sei nur an die Einführung der Visapflicht für zahlreiche Länder der Dritten Welt. Verfahren wurden verkürzt und die Asylgründe drastisch eingeschränkt. Außerdem versuchte man, durch restriktive Maßnahmen im Bereich der Unterbringung und durch die Ersetzung der Barauszahlung der Sozialhilfe durch Sachleistungen Asylsuchende von der Einreise nach Deutschland abzuschrecken (Bade, 1990: 18 ff.). Auf die Asylpolitik werden wir an anderer Stelle noch ausführlich eingehen. Wie in Abschnitt 1.2 gezeigt, hat die Begrenzungspolitik der Bundesregierung aber nicht dazu geführt, daß die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung in den 80er Jahren gesunken ist. 3.) Auch die Bemühungen der Bundesregierung, die freiwillige Rückkehr zu fördern, hatten nur relativ geringen Erfolg. Das Rückkehrförderungsgesetz von 1983/84 hat vermutlich in erster Linie die Entscheidungen von Personen beeinflußt, die sowieso vorhatten, die Bundesrepublik zu verlassen (Körner, Mehrländer, 1985). Auch die im einzelnen durchaus positiv zu wertenden Bemühungen, rückkehrwilligen Migranten bei dem Aufbau einer eigenständigen Existenz im Herkunftsland zu helfen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur eine relativ kleine Zahl von diesen Programmen profitiert hat. Eine Lösung der Wanderungsproblematik kann über dieses Mittel nicht erreicht werden. Wenn die Rückkehrförderungsprogramme im Rahmen entwicklungspolitischer Konzepte zu ökonomischen und sozialen Verbesserungen in den jeweiligen Ländern beitragen, sind sie durchaus positiv zu bewerten. Dienen sie jedoch dazu, die deutsche Öffentlichkeit glauben zu machen, daß es der Politik gelingen könne, über Rückkehranreize die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer drastisch zu reduzieren, tragen sie dazu bei, die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern zu verringern und fremdenfeindliche Haltungen zu fördern. Die Ausländerpolitik ist in bezug auf diese Zielsetzungen in sich widersprüchlich und sie kann daher als gescheitert gelten (Mehrländer, 1978). Die Integration der bei uns lebenden Ausländer ist nur teilweise gelungen, und es finden Prozesse der ökonomischen und sozialen Marginalisierung statt (Hamburger, 1990). Wie der Anwerbestopp von 1973 zeigt, ist eine Begrenzung der Zuwanderung sehr schwer erreichbar, da aufgrund von rechtlichen Bedingungen, wie z. B. der Freizügigkeitsregelungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaften und allgemeingültiger humanitärer Kriterien, wie z. B. Schutz von Ehe und Familie, weitere Zuwanderungen erlaubt werden müssen. Es liegt auf der Hand, daß eine Verfolgung dieser drei Ziele hinsichtlich einer Gruppe widersprüchlich sein muß. Dies läßt sich z. B. für die größte der bei uns lebenden ausländischen Bevölkerungsgruppe, die Türken, belegen. Bei ihr wurden sowohl Integrations-, Begrenzungs- als auch Rückkehrförderungsbemühungen wirksam, was zu einer ambivalenten bis distanzierenden Haltung einer größeren Gruppe von ihnen gegenüber der deutschen Gesellschaft geführt hat. Dem Integrationsangebot an die zweite und dritte Generation steht die restriktive Politik hinsichtlich der Regelung des Ehepartner- und Familiennachzugs gegenüber. Gleichzeitig zielte das Rückkehrförderungsgesetz von 1983/84 vor allem auf sie ab und verdeutlichte nicht nur den ausreisewilligen, sondern allen Türken, daß sie ungeliebte Gäste geblieben sind und ihre Rückkehr von politischer Seite positiv bewertet wird. Nicht widersprüchlich ist diese Politik dann, wenn sie sich auf unterschiedliche Personen und Gruppen bezieht. Ob diese Politik verantwortbar und erfolgreich ist und langfristigen Anforderungen gerecht wird, ist zu bezweifeln. Diese Frage wird weiter unten thematisiert. Hier geht es zunächst um eine Analyse der politischen Zielvorgaben. Es ist offensichtlich, daß die Bundesregierung in ihrer Ausländerpolitik je nach Ausländergruppe eines der Ziele in den Vordergrund rückt. Die Integrationsangebote und die positive Bewertung sind hinsichtlich der Zuwanderer aus Staaten der Europäischen Gemeinschaften und aus benachbarten, wirtschaftlich hoch entwickelten Gesellschaften am ausgeprägtesten. Angehörige aus EG-Staaten, aber auch aus den USA, Japan, Österreich oder der Schweiz genießen einen weitgehenden rechtlichen Schutz und ihre Anwesenheit wird als Bereicherung unserer Gesellschaft interpretiert. Angehörige aus Drittstaaten, die im Zuge der Arbeitsmigration in den 60er und 70er Jahren angeworben wurden, also vor allem Türken und Jugoslawen, haben ebenfalls einen weitgehend gesicherten rechtlichen Status, wenn auch Ausweisungen prinzipiell möglich sind und ein weiterer Zuzug aus diesen Ländern unerwünscht ist. Eindeutig auf Abschreckung und Begrenzung ausgerichtet ist die Politik gegenüber Flüchtlingen.
2.4. Deutschtümelei oder offene Republik?
Bei der Beschreibung des Eingliederungsprozesses von Arbeitsmigranten konnte gezeigt werden, daß sich Deutschland von klassischen Einwanderungsländern u. a. dadurch unterscheidet, daß hinsichtlich dieser Gruppe keine gezielte und geplante Einwanderungspolitik betrieben wurde. Dies geschah jedoch gegenüber anderen Migranten. Deutschland ist seit den 50er Jahren ein Zuwanderungsland für eine nicht unbedeutende Zahl von Aus- und Übersiedlern gewesen. Von 1967 bis 1988, also dem Jahr vor der Revolution in der DDR und den massiven Fluchtbewegungen, reisten 404.880 Übersiedler aus der DDR in die BRD ein. Von 1989 bis Juni 1990, dem letzten Monat, in dem eine statistische Erfassung der Übersiedler erfolgte, kamen dann noch einmal 582.238 Personen (Statistisches Jahrbuch 1991). Die Zahl der Aussiedler aus osteuropäischen Ländern belief sich von 1950 bis 1987 auf ca. 1,4 Millionen Menschen (Diakonisches Werk 1989, S. 16). Wegen der politischen Veränderungen in den osteuropäischen Staaten erhöhten sich die Zuwanderungszahlen in den folgenden Jahren deutlich. 1988 kamen 202.673, im Jahre 1989 377.055 und im Jahre 1990 397.000 Aussiedler aus Osteuropa. 1991 sank die Zahl wieder auf 221.995. Es fanden hier also Einwanderungsbewegungen in einer Größenordnung statt, die weit über die Zahl der Asylsuchenden hinausging. Die Zwiespältigkeit der deutschen Politik zeigt sich darin, daß bei letzteren von "Asylantenfluten" gesprochen wurde, die für unsere Gesellschaft nicht mehr verkraftbar seien. Gleichzeitig wurde in der Bevölkerung für die Akzeptanz von Aus- und Übersiedlern geworben und deren Integration in die deutsche Gesellschaft befürwortet. Daß die Migration von Aus- und Übersiedlern Ende der 80er Jahre nicht gestoppt, sondern aus offensichtlich ideologischen Gründen gefördert worden ist, belegt deutlich, daß es objektive, wissenschaftlich ableitbare Belastungsgrenzen einer Gesellschaft gegenüber Zuwanderung nicht gibt. Hier zeigt sich, daß die Opferbereitschaft der Bevölkerung und das Ausmaß von Solidarität mit Zuwanderern zwar durch politische Entscheidungen und Werbekampagnen nicht beliebig steigerbar, aber doch in einem erheblichen Maße beeinflußbar sind. Allerdings soll darauf hingewiesen werden, daß sich seit 1987 die Ablehnungstendenzen gegenüber Aus- und Übersiedlern verstärkt haben. Die Legitimation dieser Politik gegenüber Aussiedlern ist in einem Staats- und Nationenverständnis begründet, das u. E. nicht mehr zeitgemäß ist. Es knüpft an ein traditionelles völkisches Nationalismuskonzept an, das Volks- und Nationenzugehörigkeit Abstammungskriterien zurückführt. So definiert das Grundgesetz im Artikel 116, Abs. 1, als Deutschen, "... wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder wer als Flüchtling oder als Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als deren Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat". Nach dem Bundesvertriebenengesetz § 6 ist derjenige deutscher Volkszugehöriger, "wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird". Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk wird also nicht, wie dies bei Einbürgerungen von Ausländern der Fall ist, an ein Bekenntnis zu den verfassungsmäßigen Grundwerten unserer Gesellschaft geknüpft, sondern an auch auf Kinder vererbbare, also letztlich genetisch begründete, Abstammungsfaktoren, und an ein Bekenntnis zur deutschen Kultur (Otto, 1990: 11 ff.). Dabei fällt auf, daß im Gesetz nicht genau definiert ist, und auch nicht sein kann, was unter "deutscher Kultur" zu verstehen ist. Es wird unterstellt, daß jenseits der aktuellen Erlebenswirklichkeit und Differenziertheit der Lebensverhältnisse eine nicht hinterfragbare "deutsche" Wesenheit existiert. "Deutschsein" und "deutsche Kultur" werden zu einem Mythos, der sich quasi aus sich selbst legitimiert (Hoffmann, 1990). Dem ist ein republikanisches Staatsverständnis entgegenzuhalten, das allen auf einem Territorium lebenden Personen, die sich zu den Grundwerten der Gemeinschaft bekennen, die gleichberechtigte Teilhabe am politischen und sozialen Leben zugesteht (Oberndörfer, 1992). Nicht mehr ethnische Zugehörigkeit darf alleiniges Kriterium sein, sondern der längerfristige Aufenthalt und die Verlagerung des Lebensmittelpunktes in das jeweilige Gemeinwesen. Während in Frankreich z. B. die dort geborenen Kinder von Migranten fast automatisch die französische Staatsangehörigkeit erhalten, also das "ius soli"Prinzip gilt (vom Lateinischen: "Recht des Bodens", Bodenrecht), ist die Einbürgerung in Deutschland ein staatlicher Hoheitsakt, der nur Auserwählten zukommen darf. Bei uns gilt das "ius sanguinis"-Prinzip (vom Lateinischen: "Recht des Blutes", Abstammungsrecht). Es wird Zeit, daß wir Abschied nehmen von einem völkischen Nationenbegriff, der immer die Gefahr in sich birgt, das deutsche Nationalgefühl und Selbstbewußtsein zu überhöhen und sich gegenüber anderen Nationen überlegen zu fühlen. Ein republikanisches Staatsverständnis gewährt vielmehr allen Menschen, die bei uns leben und die sich zur Verfassung bekennen, gleiche Rechte (Heckmann, 1992). Dann dürfen nicht mehr die vielzitierten Kulturunterschiede als Ausgrenzungskriterium benutzt werden, sondern allein verfassungskonforme bzw. verfassungswidrige Einstellungen und Verhaltensweisen. Deutschland wurde nicht erst durch die Zuwanderung verschiedener ethnischer Gruppen zu einer multikulturellen Gesellschaft. Kulturelle Vielfalt, das Recht, sein Privatleben ohne staatliche Bevormundung organisieren zu können, das Recht, seine von der Mehrheit abweichende Meinung äußern und sich für deren Durchsetzung auch organisieren zu dürfen, sind zentrale Bestandteile unseres Gemeinwesens. Pluralismus ist ein Grundwert unserer Gesellschaft und muß als solcher ausgebaut werden. Was wir lernen müssen, ist, in diesen Pluralismus auch die bei uns lebenden ethnischen Minderheiten einzubeziehen und uns für neue Zuwanderungsgruppen zu öffnen (Schulte, 1992).
2.5. "Festung Europa" oder Verantwortung für alle?
Die Möglichkeiten, in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und sich bei uns niederzulassen, sind für Ausländer in den letzten beiden Jahrzehnten drastisch eingeschränkt worden. Der Anwerbestopp von 1973 gilt, mit einigen Ausnahmen, heute noch. Eine Einreise zwecks Arbeitsaufnahme ist Ausländern aus Drittstaaten nicht mehr möglich. Der Nachzug von Familienangehörigen rechtmäßig bei uns lebender Ausländer beschränkt sich auf Kinder bis zu 16 Jahren und die Ehegatten der zweiten und dritten Generation. Andere Verwandte, wie Eltern und Geschwister, sind vom Nachzug prinzipiell ausgeschlossen. Weiterhin sind zeitlich befristete Aufenthalte, die zweckgebunden sind, z. B. für Studenten, möglich. Einzigartig in der Staatengemeinschaft ist der Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Mit diesem Artikel wird Ausländern ein individuelles, einklagbares Grundrecht zugesprochen. Für den Fall einer politischen Verfolgung wird ihnen zugesichert, in Deutschland Asyl und damit Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Das Grundrecht ist nicht auf bestimmte Personen begrenzbar, sei es, weil sie aus bestimmten Regionen kommen oder spezielle politische Überzeugungen haben. Der Parlamentarische Rat hat bewußt auf derartige Einschränkungen verzichtet (Bade, 1992b:411). Dieses Grundrecht für Ausländer wurde in das Grundgesetz aufgenommen, weil während der Nazi-Zeit ca. 800.000 Deutsche flohen und in anderen Ländern Zuflucht fanden. Das Liberale und Fortschrittliche am Artikel 16 GG ist dabei weniger seine inhaltliche Spannbreite, die zudem durch die gerichtliche Rechtsprechung weiter eingeengt worden ist (Freckmann, 1989). Als asylberechtigt gilt heute nur der Flüchtling, der infolge einer politisch motivierten, staatlichen Verfolgung sein Land verlassen muß: "Wenn ein Staat eine bestimmte ethnische oder religiöse Minderheit bzw. Personen mit einer mißliebigen politischen Überzeugung verfolgt, so ist diese Verfolgung nur dann im Sinne des Art. 16, Abs. 2 Satz 2 GG relevant, wenn der Staat mit seinen Verfolgungsmaßnahmen auch beabsichtigt, diese Eigenschaften bzw. Überzeugungen zu treffen. Wenn er hingegen mit seiner Verfolgung andere Ziele, wie z.B. die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung bzw. den Schutz seines Bestandes zu verwirklichen sucht, so ist diese Verfolgung nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Bestimmungen irrelevant"
So kann es geschehen, daß selbst in ihren Heimatland gefolterte Menschen nicht als Asylberechtigte nach Artikel 16 GG anerkannt werden. Angesichts der vielfältigen Fluchtursachen und Fluchtmotive, die oben beschrieben wurden, ist offensichtlich, daß Artikel 16 GG lediglich ein kleines Spektrum abdecken kann. Seine Offenheit bezieht sich vielmehr auf die Verfahrensfrage: Jedes Asylbegehren muß einzeln geprüft und entschieden werden. Damit eröffnet sich über den Artikel 16 GG prinzipiell allen Ausländern die Möglichkeit des Aufenthalts in Deutschland zwecks Überprüfung des politischen Verfolgungstatbestandes. Solange die Zahlen der Asylsuchenden relativ klein waren, gab es kaum öffentliche Auseinandersetzungen über dieses Grundrecht. Erst Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre begann die Diskussion um Artikel 16 GG und erreicht zur Zeit sicherlich ihren Höhepunkt. Bereits in den 80er Jahren gab es verschiedene Bemühungen, das Asylverfahren zu verkürzen und Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Deutschland einzureisen. Erfolg war diesen Aktivitäten jedoch nicht beschieden. Auch das zur Zeit diskutierte Asylbeschleunigungsgesetz, das auf Vereinbarungen der vier Parteien, CDU, CSU, FDP und SPD, vom Oktober 1991 basiert und zum 1. Juli 1992 nach der zweiten und dritten Lesung in Kraft treten soll, wird an der grundsätzlichen Problematik nichts ändern, wenn nicht zusätzliche Maßnahmen getroffen werden. Wichtig ist, daß die Asylpolitik eingebettet wird in ein umfassendes Konzept der Zuwanderung. Unter dieser Voraussetzung ist eine verfassungskonforme Beschleunigung der Asylverfahren sowohl für die Betroffenen als auch für die Kommunen, die die Hauptlast der Unterbringung und Betreuung tragen, zu begrüßen. Wenn eine Beschleunigung in den Asylverfahren die grundsätzliche Problematik nicht lösen kann, gilt es zu überlegen, was eine Änderung des Grundgesetzes oder die Abschaffung des Artikels 16 GG bewirken könnten. Nach Ansicht von Kimminich (1992) sind auch diese Alternativen nicht geeignet, die Flüchtlinge von einer Einreise abzuhalten und die Überprüfungsverfahren zu verkürzen. Eine Änderung des Grundgesetzes in dem Sinne, daß eine einengende Definition des Begriffs 'politischer Flüchtling' erfolgt, sei wenig hilfreich, da die Einzelfallüberprüfungen von den Gerichten auch in diesen Fällen erfolgen müßten. Ein Ausschluß bestimmter Länder oder bestimmter Personengruppen komme einer Abschaffung von Artikel 16 GG gleich. Aber auch der Verzicht auf Artikel 16 GG bringe im Grunde keine spürbaren Entlastungen, da Deutschland an internationales Recht gekoppelt und daher verpflichtet ist, die Aufnahme von Flüchtlingen nach rechtsstaatlichen Kriterien zu organisieren. Kimminich (1992:12) führt aus: "Es gibt viele Staaten, die durchaus großzügig Asyl gewähren, ohne in ihrer Verfassung ein individuelles Recht des politisch Verfolgten zu normieren. Freilich verlangt der Rechtsstaat auch in diesem Fall eine gesetzliche Grundlage. Und selbst, wenn man die Asylgewährung als reinen Gnadenakt ausgestaltet, müßten die Exekutiventscheidungen, die zur Verwaltung dieses Gnadenwesens erforderlich wären, den Ansprüchen des Rechtsstaates Genüge tun. Wieder ist ferner daran zu erinnern, daß der Zustrom von Ausländern, die in den Genuß eines solchen Gnadenaktes kommen wollen, wohl kaum geringer wäre als derjenige von Asylbewerbern. Das Problem der Auswahl nach gesetzlich vorgegebenen Kriterien und der Abschiebung der abgelehnten Bewerber wäre quantitativ und qualitativ sicher nicht geringer als nach der heutigen Rechtslage." Vor allem muß die Bundesrepublik Deutschland ihr innerstaatliches Recht so gestalten, daß es internationalem Recht entspricht. Von besonderer Bedeutung ist hier die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie mehr als 100 Staaten beigetreten ist. Von der inhaltlichen Substanz geht die Genfer Flüchtlingskonvention sogar noch über den Artikel 16 GG hinaus. Nach der Definition in dieser Konvention sind Flüchtlinge Personen, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb des Landes befinden, deren Staatsangehörigkeit sie besitzen und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet auch, Flüchtlinge in Gebiete auszuweisen, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen bedroht wäre. Dieses Refoulement-Verbot ist einer der Gründe, weshalb nach Artikel 16 GG abgelehnte Asylbewerber nicht abgeschoben werden dürfen. Jeder Asylberechtigte ist zwar auch Konventionsflüchtling, aber nicht jeder Konventionsflüchtling ist auch asylberechtigt (Nicolaus, 1992). Weitere rechtliche Grundlagen, die der Ausweisung von abgelehnten Asylbewerbern entgegenstehen, sind die Europäische Menschenrechtskonvention und andere Vorschriften (Freckmann, 1992: 69 ff.). Nach einer Berechnung von PRO ASYL verblieben 1989 57 % der abgelehnten Asylbewerbern aufgrund dieser rechtlichen Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern darf hier nicht von "Mißbrauch des Asylrechts" gesprochen werden. Weiterhin wird argumentiert, daß eine Harmonisierung des Asylrechts in Europa eine Abschaffung oder Änderung des Artikels 16 GG nach sich ziehen müsse. Sicherlich ist eine Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene begrüßenswert und in diesem Zusammenhang eine Überprüfung und ggf. Änderung des Artikels 16 GG notwendig. Grundlage eines europäischen Asylrechts kann aber wiederum nur die Genfer Flüchtlingskonvention und die in ihr festgelegten Kriterien sein. Diese bedürfen in jedem Land einer eingehenden Prüfung, was unseres Erachtens nur über rechtsstaatliche Verfahren möglich ist. Eine Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene kann deshalb nur die Erleichterung bringen, daß ein in einem Land abgelehnter Asylbewerber in einem anderen Land mit der gleichen Argumentation nicht erneut einen Asylantrag stellen darf. Eine wesentliche Verminderung der Zahl der Asylsuchenden dürfte hiervon aber nicht zu erwarten sein. Die CDU/CSU befürwortet zur Zeit eine Grundgesetzänderung, bevor eine europäische Lösung der Problematik gefunden worden ist. Ihre Vorschläge zielen letztlich darauf ab, Deutschland gegenüber Asylsuchenden abzuschotten. Es werden drei Vorschläge gemacht: 1.) Es sollen Listen von Ländern erarbeitet werden, in denen keine politische Verfolgung existiert. Asylsuchende aus diesen Ländern haben dann nicht mehr das Recht, Asyl zu beantragen und für die Verfahrensdauer ein Bleiberecht zu erhalten. 2.) Asylbewerber, die auf dem Weg nach Deutschland in einem anderen Land Schutz gefunden haben, sollen unmittelbar in dieses Land zurücküberstellt werden. 3.) Es sollen die Entscheidungen eines Mitgliedsstaates der EG für oder gegen einen Asylbewerber mit Wirkung für oder gegen alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein. Zu diesen Argumenten ist folgendes zu sagen: Der Vorschlag, Listen von Ländern anzufertigen, in denen keine politische Verfolgung existiert, wird nur unwesentlich zur Entlastung der Asylverfahren beitragen. Zum einen müssen sehr enge Kriterien formuliert werden, um ein Land den "politischen Persilschein" auszustellen. Wenn diese Listen unter Beteiligung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sowie anderer europäischer Staaten erstellt werden, wie dies der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in einer Rede im Deutschen Bundestag am 18.10.1991 vorgeschlagen hat, wird die Zahl entsprechenden Länder relativ klein sein. Vor allem werden dies nicht jene Länder sein, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen. Betrachtet man einmal die Staaten, aus denen 1991 die meisten Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wird deutlich, daß in ihnen politische Verfolgung nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann: Jugoslawien:.......... 74.854 Rumänien:..........40.504 Türkei:................23.877 Bulgarien:..............12.056 Iran:........................8.643 Nigeria:...................8.358 Afghanistan:............7.337 Auch heute ist es bereits möglich, Flüchtlinge an der Grenze Deutschlands zurückzuweisen, wenn sie in einem anderen Land Schutz gefunden haben. Man geht davon aus, daß dies in der Regel der Fall ist, wenn jemand länger als drei Monate dort lebte. Die CDU/CSU beabsichtigt wohl, unabhängig von der Dauer des Aufenthaltes in einem anderen Land, jeden Asylsuchenden abzuwehren, der auf dem Landweg zu uns kommt. Betrachtet man alle Anrainerstaaten Deutschlands, inklusive unserer östlichen Nachbarn, wird es dann prinzipiell möglich sein, allen Asylbegehrenden zu unterstellen, daß sie in diesen Ländern Schutz gefunden haben. Wenn Aufenthalt gleich Schutz bedeutet, führt dies zu einer Abschottung Deutschlands. Der Vorschlag, Entscheidungen anderer europäischer Länder in bezug auf das Asylbegehren anzuerkennen, kann, wie oben bereits ausgeführt, unseres Erachtens nur das Ergebnis einer europäischen Einigung sein. Als Fazit kann festgehalten werden, daß alle Versuche, die Problematik der Zuwanderung von Asylbewerbern mit verfahrensrechtlichen Maßnahmen lösen zu wollen, fehlschlagen müssen. Die Flüchtlinge kommen zu uns, weil sie in Not sind und nach Schutz suchen. Welche rechtlichen Vorschriften im einzelnen existieren, ist aus ihrer Sicht dabei zweitrangig. Eine wirksame, aber wohl von niemandem ernstlich erwogene Flüchtlingseindämmungspolitik, bestünde nur in der Errichtung neuer Mauern an den Außengrenzen Europäischen Gemeinschaft, wobei selbst diese gegen die Phantasie von Menschen, die in Not sind und um ihr Leben und ihre Freiheit fürchten, versagen müssen. Da keine rechtlichen Möglichkeiten im Aufnahmeland bestehen, um Flüchtlingsbewegungen wirksam einzudämmen, muß sich die Politik endlich auf jene Maßnahmen konzentrieren, die erfolgversprechender sind. Hierzu gehört z. B. die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Einbeziehung der Asylpolitik in ein ganzheitliches Konzept der Einwanderungspolitik. Außerdem ist es angesichts des Anwachsens der Ausländerfeindlichkeit dringend geboten, die zwischen den politischen Parteien im Frühjahr 1992 unter wahltaktischen Gesichtspunkten geführte Asyldebatte zu beenden.
2.6. Notwendigkeit weiterer Zuwanderungen in die Bundesrepublik Deutschland
In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion werden die Vor- und Nachteile von Zuwanderungsbewegungen sehr verkürzt dargestellt. Daher überwiegt fälschlicherweise die Ansicht, daß Zuwanderer (Arbeitsmigranten und ihre Familienangehörige, Asylbewerber, Flüchtlinge, Aussiedler) ausschließlich eine Belastung für unsere Gesellschaft sind. Ohne die tatsächlichen Probleme in den Kommunen und auf dem Arbeitsmarkt negieren zu wollen, wird unseres Erachtens häufig übersehen, welche positiven Aspekte die Zuwanderung für unsere Gesellschaft sowohl in der Vergangenheit hatte als auch in Zukunft haben wird. Diese aus der Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre stammenden Kosten-Nutzen-Analysen haben den Beigeschmack, unmoralisch und inhuman zu sein, weil sie die Menschen nicht in ihrer Gesamtheit berücksichtigen, sondern einzelne Aspekte, Eigenschaften und Fähigkeiten entweder als funktional oder als dysfunktional für ein soziales System herausstellen. Welche negativen Konsequenzen solche eingeschränkten Sichtweisen haben, konnte am Beispiel des Einwanderungsprozesses der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen aus den Mittelmeerländern gezeigt werden. "Wir haben Arbeitskräfte gerufen und Menschen sind gekommen" ist der berühmt gewordene Spruch von Max Frisch, der das Problematische solch verkürzter Sichtweisen skizziert. Wenn deshalb im folgenden vor allem die für unsere Gesellschaft positiven ökonomischen Aspekte weiterer Zuwanderungsprozesse aufgezeigt werden, heißt dies nicht, daß die Anstrengungen für eine soziale Eingliederung vernachlässigt werden dürfen. Im Gegenteil: Eine Lehre aus der Geschichte der Zuwanderung der letzten 40 Jahre nach Deutschland muß es sein, rechtzeitig die rechtlichen und sozialen Voraussetzungen für zufriedenstellende Lebensverhältnisse und -Perspektiven der zu uns kommenden Menschen zu schaffen. In der Vergangenheit hatte die Zuwanderung viele positive Effekte sowohl für unsere Wirtschaft als auch für unsere sozialen Sicherungssysteme: - Ohne die Anwerbung junger motivierter ausländischer Arbeitnehmer wäre das Wirtschaftswachstum der 60er und 70er Jahre nicht möglich gewesen. Das "deutsche Wirtschaftswunder" ist nicht nur durch die Vertriebenen und Flüchtlinge, sondern auch wesentlich durch die Arbeit unserer ausländischen Kollegen und Kolleginnen mit verwirklicht und gefestigt worden (vgl. Abschnitt 1.1 und 1.2). Ein Nebeneffekt war, daß viele deutsche Arbeitnehmer von der Ausländerbeschäftigung profitiert haben, da ihnen dadurch berufliche Aufstiege auf höhere Positionen möglich waren, wie in mehreren wissenschaftlichen Studien nachgewiesen worden ist (Mehrländer, 1969; dies., 1974; Hoffmann-Nowotny, 1973; Heckmann, 1983). - Die sozialen Sicherungssysteme, wie Renten- und Krankenversicherung, haben in der Vergangenheit von den Beiträgen ausländischer Arbeitnehmer profitiert. Bis heute liegen z. B. die Einzahlungen von ausländischen Arbeitnehmern in die Rentenkasse weit über den ausgezahlten Renten. Im Jahre 1989 entfällt z. B. ein Anteil von 12,8 Mrd. DM (7,8 %) am Beitragsvolumen der Rentenversicherung von 164 Mrd. DM auf die Ausländer, aber lediglich 3,43 Mrd. DM (1,9 %) am Rentenvolumen von 193 Mrd. DM wird an Ausländer bezahlt (Ausländer in Deutschland, 1992).
- Nach einer Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen erhöhte die Zuwanderung von 1988 bis 1991 das Sozialprodukt von 1991 um 3,5 %; dies entspricht einem Gegenwert von 90 Mrd. DM. Nach diesen Berechnungen stehen den Kosten für die Zuwanderung von 16 Mrd. DM für Sprachkurse, Überbrückungs- und Starthilfen und Sozialhilfe Einnahmen in Höhe von 57 Mrd. DM gegenüber. 29 Mrd. DM flossen an Steuern und Sozialabgaben von den Zuwanderern selbst in öffentliche Kassen. 25 Mrd. DM fielen an höheren Steuern und Sozialabgaben von Einheimischen an, die von der Zuwanderung profitierten und 3 Mrd. DM wurden an Sozialausgaben eingespart, weil ein positiver Beschäftigungseffekt entstand (Aktion Gemeinsinn, 1991/92). Aus diesen Zahlen wird deutlich, daß auch heute Zuwanderer einen wesentlichen Beitrag zur Vergrößerung unseres Wohlstandes leisten. Es muß beachtet werden, daß die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft in noch stärkerem Maße als bisher auf neue Zuwanderer angewiesen ist, um den Lebensstandard und das Produktionsniveau halten oder gar ausbauen zu können. - Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Zuwanderungen wird in einer neuen Studie von Hof (1992) vom Institut der Deutschen Wirtschaft untersucht. Nach seinen Analysen wäre die Zunahme der Erwerbstätigkeit um ca. 3. Mio. von 1983 bis 1991 ohne die Zuwanderungsprozesse nicht möglich gewesen und der Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes wäre geringer ausgefallen. Angesichts der demographischen Entwicklung ist Deutschland in Zukunft verstärkt auf Zuwanderung angewiesen. Die Zahl der unter 15jährigen wird von 13,7 Mio. 1990 auf ca. 10 Mio. im Jahre 2010 sinken. Auch die Zahl der deutschen Erwerbspersonen wird um fast 4 Mio. Menschen abnehmen. Selbst bei steigender Arbeitsproduktivität und höherer Frauenerwerbstätigkeit können die entstehenden Lücken im Arbeitskräfteangebot nicht ausgeglichen werden. Ändert sich die Geburtenrate nicht und findet keine Zuwanderung statt, werden im Jahre 2030 fast 20 Mio. Menschen weniger in Deutschland leben als heute. Hof (1992: 16 f.) entwirft vier Wanderungsvarianten und untersucht, wie sich die unterschiedlichen Größen der Wanderungssalden auf die Erwerbstätigkeit auswirken werden (s. Schaubild S. 42). Variante 1: Keine Zuwanderung "In Deutschland geht bei Abschottung der Außengrenzen und unveränderter Erwerbsbeteiligung das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahre 2000 um 1,8 Mio. zurück. Im Jahre 2020 liegt das Arbeitskräfteniveau bei 32,5 Mio., 8 Mio. niedriger als 1990." Variante 2: Zuwanderung von 300.000 Personen jährlich "Ab 1992 strömen bis 2017 pro Jahr 300.000 Zuwanderer in das Bundesgebiet. Das sind Aussiedler aus Osteuropa, Wanderungsbewegungen auf dem Europäischen Binnenmarkt, nachziehende Familienangehörige von außerhalb sowie Migranten als Asylbewerber oder als Arbeitsuchende... Ergebnis von Variante 2: Eine längerfristige Zuwanderungskomponente von etwa 300.000 Personen pro Jahr reicht aus, das derzeitige Arbeitskräfteniveau von knapp 41 Mio. bei unverändertem Erwerbsverhalten zu stabilisieren, erst ab dem Jahr 2007 wäre eine höhere Zuwanderungskomponente notwendig, um dieses Ziel unter den genannten Bedingungen weiterzuverfolgen." Schaubild 1:
Variante 3: Zuwanderung von 400.000 Personen "Unterstellt man im Zeitraum bis 2017 eine Zuwanderung von 400.000 Personen, dann würde das Arbeitskräfteangebot bis zum Jahre 2000 auf 41,3 Mio. und bis 2010 auf 41,8 Mio. ansteigen." Variante 4: Zuwanderung von 500.000 Personen "Stellt sich hingegen eine Zuwanderung von 500.000 Personen pro Jahr ein, dann läge im Jahre 2000 das Arbeitskräfteangebot bei 41,9 Mio. und im Jahr 2010 bei 43,0 Mio., im Jahre 2020 wäre das Niveau des Jahres 1990 in etwa wieder erreicht." Sicherlich gehen in derartige Berechnungen Komponenten mit ein, deren Entwicklungen schwer voraussagbar sind. Andererseits haben sich aber gerade Prognosen über Bevölkerungsentwicklungen als relativ sicher erwiesen, weil Faktoren wie z. B. Geburtenraten und Sterbeziffern relativ konstant bleiben. Als Fazit kann festgehalten werden, daß auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive weitere Zuwanderungen nützlich und sinnvoll sind. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998 |