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Wie wirken sich länderspezifische makroökonomische Schocks in der EWU aus?

In der Währungsunion entfällt die Möglichkeit der Wechselkursanpassung, wenn sich die volkswirtschaftlichen Rahmendaten eines Landes im Vergleich zu denen anderer Länder stark ändern. Kein Mitgliedsland kann abwerten, wenn seine Leistungsbilanz tief ins Defizit gerät, oder aufwerten, wenn es hohe Exportüberschüsse erzielt. Mehr noch: Kein Mitgliedsland kann das Geld verknappen, wenn die nationale Nachfrage im Unterschied zur übrigen EWU übermäßig zunimmt, oder die Geldversorgung lockern, wenn die Nachfrage zusammenbricht. Was passiert, wenn solche länderspezifischen „Schocks" auftreten?

Fall A:

Die Lohnkosten „explodieren" in Land X

Die in Land X hergestellten Produkte werden zunehmend unverkäuflich (weil zu teuer), die Arbeitslosigkeit in X steigt, die Steuereinnahmen sinken, die öffentlichen Sozialausgaben steigen.

Reaktion 1: Die Tarifparteien in X erkennen die Konsequenzen ihres Handelns und fahren die Arbeitskosten in den nachfolgenden Lohnrunden wieder auf ein wettbewerbsfähiges Niveau zurück. D.h., die Unmöglichkeit der Abwertung diszipliniert die Lohnpolitik.

Reaktion 2: Die Arbeitslosigkeit in X verfestigt sich. Zum Ausgleich des Staatshaushalts (die EWU setzt enge Verschuldensgrenzen und verbietet die Finanzierung durch die Notenpresse!) werden in X die Steuern erhöht.

Reaktion 3: Die Arbeitslosigkeit in X verfestigt sich. Zum Ausgleich des Staatshaushalts wird das Sozialleistungsniveau dort abgesenkt.

Reaktion 4: Die Arbeitslosigkeit in X verfestigt sich. Viele Arbeitskräfte wandern in andere EWU-Länder ab und konkurrieren dort mit den einheimischen Arbeitskräften. Die Arbeitslosigkeit in der restlichen EWU nimmt zu, die Löhne geraten unter Druck, die Staatshaushalte ebenso. Evtl. werden auch in anderen EWU-Ländern die Steuern erhöht oder die Sozialleistungen reduziert. Also: die Kosten des Schocks werden vergemeinschaftet.

Reaktion 5: Die Arbeitslosigkeit in X verfestigt sich. Land X bekommt auf politischen Druck hin von den anderen Mitgliedsländern Finanzhilfe (obgleich dies im Maastrichter Vertrag ausgeschlossen wurde). Also:

Vergemeinschaftung zumindest der fiskalischen Kosten.

Reaktion 6: Die Europäische Zentralbank sucht mit einer restriktiveren Geldpolitik den von X ausgehenden Inflationstendenzen entgegenzuwirken. Dies verschlechtert die Wachstumsbedingungen in der ganzen EWU.

Alternativen ohne EWU:
A. Die Zentralbank von X verknappt das Geld, um der Inflation entgegenzuwirken. Das stärkt die Währung von X und erschwert die wirtschaftliche Erholung => obige Reaktionen 1-4. Mißtrauische Finanzmärkte können dennoch eine Abwertung herbeiführen.
B. Die Zentralbank von X bedient die Kosteninflation mit einem erweiterten „Geldmantel". Die Währung von X verliert an Wert, X behält seine Marktanteile.

Wie wahrscheinlich ist der Schock?

Gemäß den Maastrichter Beitrittsbedingungen dürfen nur Länder mit einer seit Jahren etablierten „Stabilitätskultur" und entsprechender Lohnpolitik in die EWU. Gefahr besteht evtl. dennoch, wenn

  • die Produktivität in Land X wesentlich langsamer steigt als in der Rest-EWU, die Löhne aber genauso schnell steigen (bzw. wenn andere EWU-Länder ihre höheren Produktivitätsfortschritte nicht in Lohnerhöhungen, sondern in Produktverbilligungen umsetzen);
  • die Gewerkschaften trotz stark unterschiedlicher Produktivitätsniveaus (in einer großen EWU) „gleichen Lohn für gleiche Arbeit" anstreben;
  • die Gewerkschaften eines Landes trotz des Maastrichter Verbotes auf „finanzielle Solidarität" (sprich Ausgleichszahlungen) der übrigen EWU-Länder spekulieren.

Fall B:

In Land X gerät ein wichtiger Industriezweig in eine tiefe Krise

Volkseinkommen und Staatseinkünfte in X schrumpfen, die Arbeitslosigkeit steigt, ebenso die Staatsausgaben.

Reaktion 1: Zum Ausgleich des Staatshaushalts werden in X die Steuern erhöht.

Reaktion 2: Zum Ausgleich des Staatshaushalts werden in X die Sozialleistungen abgesenkt.

Reaktion 3: Viele Arbeitskräfte wandern in andere EWU-Länder ab. Folgen -> obige Reaktion A 4 (Vergemeinschaftung der sozialen und fiskalischen Kosten).

Reaktion 4: Land X bekommt von den anderen EWU-Ländern Finanzhilfe (Vergemeinschaftung der fiskalischen Kosten).

Reaktion 5: Die Arbeitnehmer in X akzeptieren niedrigere Löhne. Die von der Krise verschonten Branchen in X gewinnen Marktanteile zu Lasten der EWU-Partner, der Wirtschaftsstandort X gewinnt an Attraktivität. Die Wirtschaft von X wächst schneller und baut die Arbeitslosigkeit zügig ab. In der übrigen EWU verlangsamt sich das Wachstum, die Arbeitslosigkeit steigt (ebenfalls Vergemeinschaftung der Kosten).

Alternativen ohne EWU: Die Zentralbank von X lockert die Geldpolitik, die Währung von X verliert an Wert, die Nichtkrisenbranchen gewinnen Marktanteile. Der Staat X verschuldet sich stärker als die EWU zuläßt.

Wie wahrscheinlich ist der Schock?

In den Kernländern der EWU ist die Produktion gleichermaßen hoch diversifiziert, die sektorale Spezialisierung niedrig. Es herrscht intraindustrielle Arbeitsteilung vor. Die EWU dürfte dieses Strukturmuster noch verstärken. Von daher sind sektorale Schocks, die nur ein Land betreffen, in einer kleinen EWU unwahrscheinlich. In einer großen EWU (mit Ländern wie Portugal und Irland) sind sie eher möglich.

Fall C:

Bankenkrise in Land X

Die Gläubiger (Einleger) der Bank geraten in akute Liquiditätsschwierigkeiten und müssen ihrerseits Vermögenswerte liquidieren und Ausgaben reduzieren. Asset-Preise und Nachfragevolumen drohen, in einer Kettenreaktion auf breiter Front zu verfallen. Die unmittelbaren Folgen sind ähnlich wie in Fall B. Aber sie sind (von Minikrisen abgesehen) von vornherein nicht auf Land X beschränkt, da die Finanzmärkte mit ihren Gläubiger-Schuldner-Beziehungen EWU-weit integriert sind.

Fall D:

Große Erdölfunde in Land X

Die massiven Einkommenserhöhungen in X lassen die Nachfrage steigen. Es kommt zu Knappheiten und folglich zu Preissteigerungen auf den Faktor- und Produktmärkten. Aufgrund der Kostensteigerungen verlieren die Nicht-Erdöl-Industrien von X Marktanteile an die übrigen EWU-Länder. Dort steigen Einkommen und Beschäftigung sowohl wegen der zusätzlichen Marktanteile als auch wegen der von den Erdöleinkommen ausgehenden Marktausweitung. Also: eine Vergemeinschaftung der Nutzen des Schocks. Der Nachteil: Land X wird anfälliger gegenüber Fall B (z.B. bei einem Preisverfall auf dem Ölmarkt).

Alternativen ohne EWU: Die Zentralbank von X wirkt mit einer restriktiven Geldpolitik den Inflationstendenzen entgegen. Der Wert der X-Währung steigt. Die Nicht-Erdöl-Sektoren von X verlieren Marktanteile an den Rest der Welt. Die Realeinkommen in X steigen aufgrund der verbesserten terms of trade.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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