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TEILDOKUMENT:
II. EINE RENAISSANCE DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT 1. Eine Wettbewerbskur Das Geheimnis des Erfolges der sozialen Marktwirtschaft waren hohe Spar- und Investitionsquoten. In den 60er Jahren wurde bei Vollbeschäftigung ein extrem hoher Strukturwandel durch Schrumpfungen im industriellen Sektor und noch mehr in der Landwirtschaft bewältigt. Voraussetzung dieses Erfolges war ein umfassender Wettbewerb, eine hohe Leistungsbereitschaft und Bereitschaft, die Ergebnisse des Wettbewerbs anzuerkennen. Seine Früchte wurden nicht - wie in den USA - immer ungleicher verteilt. Sie dienten weit stärker auch der sozialen Absicherung, dem Ausbau einer leistungsfähigen öffentlichen Infrastruktur und dem Ausbau des Systems der sozialen Sicherung. Die dynamische Rente ist ein wesentlicher Erfolg eines leistungsfähigen Wettbewerbssystems. Durch den Ausbau des Sozialstaates wurden die Wettbewerbsergebnisse auch dort, wo sie mit Härten verbunden waren, für die Arbeitnehmer akzeptabel. Die Bereitschaft, sich dem Wettbewerb auszusetzen, hat ganz offensichtlich im Laufe der Zeit abgenommen. Gleichzeitig sind die staatlich regulierten Bereiche oder die im Staatssektor selbst erfüllten Aufgaben ständig gewachsen. Neben den mehr als 4 Mio. Staatsbediensteten arbeiten immer mehr Menschen in Sektoren, die sich dem Wettbewerb ganz oder teilweise entziehen. Es entsteht eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft: Den Arbeitsplätzen, die wettbewerbsgeschützt "auf Lebenszeit" verliehen werden, stehen die Arbeitsplätze gegenüber, die selbst bei Daimler und VW nicht mehr sicher sind, weil verschärfte Konkurrenz, insbesondere internationale Konkurrenz, heute jeden im Wettbewerb stehenden Arbeitsplatz gefährden kann. Die entstehenden Ungleichheiten werden immer unerträglicher.
2. Eine Modernisierungskur
Im verschärften internationalen Wettbewerb treffen nicht nur einzelne Unternehmen aufeinander. Der Wettbewerb ist systemischer geworden, obwohl Nationen nicht wie Fußballmannschaften aufeinandertreffen. Dennoch stehen neben den Unternehmen jeweils das Bildungssystem, die Infrastruktur und die Wirksamkeit staatlicher Regulierungen und das Steuer- und Abgabensystem auf dem Prüfstand. Modernisierung der Volkswirtschaft erfordert nicht nur mehr Innovationen in der Produktion. Modernisierung der Volkswirtschaft bedeutet auch Erneuerung des Staates, der Transfersysteme und der staatlichen Regulierungen und des Rechtssystems bis zur inneren Sicherheit. Soziale Marktwirtschaft erfordert Wettbewerb in allen Bereichen, in denen Anbieter Kunden durch Leistungen für sich gewinnen können, d.h., bewußte Modernisierungsstrategien müssen mit vergleichbarer Energie dort vorgenommen werden, wo der Wettbewerb als Antriebskraft fehlt.
3. Mehr Wettbewerb = mehr soziale Härten?
Eine Gesellschaft, die sich selbst eine Wettbewerbskur verordnet, muß das Vorurteil bekämpfen, dies sei unsozial. Schon im Godesberger Programm stand der Schlüsselsatz: "Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig." Aber noch immer ist die Praxis durch viele kleine Wettbewerbsbeschränkungen bestimmt. Große Teile des Staatssektors, der Bildungssektor, das Gesundheitswesen oder regulierte Freiberufe müssen sich endlich einem vollen Wettbewerb stellen. Damit würden zwar mehr Erwerbstätige einem Arbeitsplatzrisiko ausgesetzt. Dies wäre jedoch nicht unsozial. Die Vorstellung einer Quasi-Verbeamtung der Gesellschaft als Inbegriff des Sozialstaates übersieht, daß Anpassungslasten und Wettbewerbsdruck dadurch auf immer kleinere Bereiche konzentriert werden und Anpassungshärten dort dann doppelt durchschlagen. Als Folge würden auch geschützte Arbeitsplätze gefährdet. soziale Entwicklung bei geringer Arbeitslosigkeit, erträglicher Ungleichheit, steigender Lebensqualität und steigendem Einkommen ist nur möglich, wenn möglichst viele dem Wettbewerb und Strukturwandel bewußt ausgesetzt werden. Solidarität erfordert Bereitschaft, Wettbewerbsregeln zu praktizieren, wo immer sie anwendbar sind. Die SPD war im Wettbewerb der Parteien in der Vergangenheit viel zu zögerlich, weil sie Freiheit von Wettbewerb und dadurch in Teilbereichen mögliche Arbeitsplatzgarantien als Besitzstand eines Sozialstaats fehlinterpretierte. Der Widerstand gegen eine Privatisierung von Post und Bahn war in weiten Teilen ein Widerstand gegen die Ausweitung von Wettbewerbssektoren. Eine glaubwürdige Strategie wird nicht dadurch entstehen, daß die großen Parteien jeweils die Wählerklientel der anderen Parteien einem möglichst intensiven Wettbewerb aussetzen, die eigene Klientel aber schonen. Was die Bauern für die CDU, sind dann die Bergarbeiter Für die SPD, was die regulierten Freiberuflerbereiche für die FDP, sind die regionalen Spitzenunternehmen für die Landesverbände der CDU oder auch der SPD. Statt Eigentums- und Wettbewerbsordnung werden vielfach vor allem von der FDP Eigentümerinteressen verteidigt. Die Ergebnisse der Parteienkonkurrenz führen eher zu einer Verengung der wirtschaftspolitischen Horizonte. Wer jeweils nur ad hoc gegebene Interessen erfüllt, kann zwar Mehrheiten gewinnen, wird jedoch an den Aufgaben der Realitätsbewältigung scheitern.
4. Wettbewerb mit Niedriglohnländern - das schwierigste Problem
Für die Arbeitnehmer sind offene Grenzen mit Niedriglohnländern natürlich in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit ein emotional schwer zu bewältigendes Thema. Besonders intensiv wirkt sich die Standortkonkurrenz mit den benachbarten osteuropäischen Niedriglohnländern aus. Besonders schmerzlich ist diese Wettbewerbsverschärfung, weil hier eher Altindustrien oder Bereiche mit niedrigeren Qualifikationen betroffen sind. Dennoch kann man der öffentlichen Diskussion nicht folgen, die Abwanderungs- und Verlagerungseffekte gleichsam als Nettoverlust verbuchen. Jeder wegen zu hoher Kosten der Bundesrepublik nach Polen oder Ungarn vergebene Auftrag schafft dort DM-Einkommen, das wieder zu DM-Aufträgen führt. Im wirtschaftlichen Kreislauf geht keine einzige Auftragsmark verloren. Allerdings werden andere Wirtschaftszweige begünstigt. Die Arbeitsteilung mit Niedriglohnländern beschleunigt die Deindustrialisierung bei einfacher und lohnintensiver Fertigung, löst einen weiteren Zwang zur Spezialisierung auf hochwertige Produkte aus und beschleunigt die Tertiärisierung. Arbeitsteilung mit kapitalarmen Niedriglohnländern drückt gleichzeitig die eigene Lohnquote und verschärft den Zwang zu Qualifizierung und Innovation. In diesem Prozeß intensivierten internationaler Arbeitsteilung kann die Nähe zu kostengünstigen Produktionsstandorten die internationale Marktstellung deutscher Unternehmen verbessern und damit auch den Lebensstandard und die Arbeitsplatzsicherheit für deutsche (hochqualifizierte) Arbeitnehmer erhöhen. Der Aufschaukelprozeß eines intensivierten Handelsaustausches erhöht Beschäftigung insgesamt. Die Bundesrepublik ist ohne Zweifel ein Hochlohnland. Insbesondere die Lohnnebenkosten werden zu einer schwer verkraftbaren Bürde. Die ständig steigenden Löhne zwingen dort, wo Produktivität nicht entsprechend mitwächst oder wo Konkurrenten mit geringeren Kostensteigerungen zu rechnen haben, zu Standortverlagerungen und zu strukturellen Anpassungen. Eine solche Entwicklung ist völlig normal. Die großen deutschen Konzerne werden immer mehr zu multinationalen Unternehmen, deren Fertigungsbeschäftigung außerhalb Deutschlands wächst. In der Schweiz ist eine solche Entwicklung schon seit Jahrzehnten weit ausgeprägter. Der Prozeß ist grundsätzlich unaufhaltbar. Es geht darum, wie er ohne steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland verarbeitet werden kann. Dies ist in den letzten Jahren nur unbefriedigend gelungen, obwohl z. B. der Handel mit Südostasien und Süd-und Osteuropa in den letzten 10 Jahren weit überdurchschnittlich expandierte. Trotz solcher Expansion sind mehr und mehr, vor allem niedrigqualifizierte Arbeitskräfte arbeitslos geworden. Einen solchen Prozeß hat es seit den 60er Jahren ständig gegeben. Das Problem sind die geringen Expansionschancen in neuen Beschäftigungsfeldern. Kostendruck bei Arbeitslosigkeit und Verlagerung von Arbeitsplätzen widerspricht vor allem den Interessen der Arbeitslosen. Gemessen an der Arbeitslosigkeit war die Expansion zu schwach. Es bestehen ganz offensichtlich innere Barrieren. Expansionschancen ergeben sich in den Feldern, in denen die Arbeitslosen kaum beschäftigt werden können. Seit Polen und Tschechien als Länder für Direktinvestitionen oder für die Verlagerung von Aufträgen direkt "vor der Haustür" liegen, hat sich das Problem verschärft und wird sich in Zukunft erst recht verschärfen, weil die Wachstumschancen in diesen Ländern noch gar nicht ausgenutzt sind. Das Ergebnis ist um so beunruhigender, als die Lohnquote sich zwischen 1980 und 1990 bei vorübergehendem Anstieg als Folge des Vereinigungsbooms um etwa 10 % Punkte verringert hat. Auch dies macht deutlich, in welchem Ausmaß Arbeit, vor allem niedrigqualifizierte Arbeit, in den letzten 10 bis 15 Jahren weniger knapp geworden ist. Unter den Bedingungen eines verschärften Wettbewerbs wird es vor allem für Erwerbstätige mit niedrigen Qualifikationen noch schwerer, die Lohnkosten an die Produktivitätsniveaus anzupassen. Zu den Löhnen, die in der Bundesrepublik vorherrschen, sind die Expansisonschancen zu begrenzt. Der Hinweis auf die Exportüberschüsse "beweist" nicht, daß die hohen Löhne keine Ursache für Arbeitslosigkeit sein können. Eine wachsende Arbeitslosigkeit bei ausgeglichener oder positiver Handelsbilanz macht lediglich deutlich, gemessen am Vollbeschäftigungsziel war die Expansion zu gering. Der Leistungsbilanzausgleich bei hoher Arbeitslosigkeit zeigt, daß beim gegebenen Lohnniveau und gegebenem Innovationstempo ein Weg zurück zur Vollbeschäftigung unwahrscheinlich bleibt. Wer Vollbeschäftigung erreichen will, - muß Produktivitäts- und Kostenrelationen verbessern, besonders in abwanderungsgefährdeten Produktionsbereichen, - und muß heimische Arbeitsplätze in Bereichen für nicht handelbare Güter ausweiten, weil hier die lokale Nachfrage entscheidet und die internationalen Kosten und Produktivitätsrelationen keine Rolle spielen. Voraussetzung sind aber auch ein entsprechend höheres Qualifikationsniveau und ständig hohe Investitionen in Humankapital.
5. Die Rolle der Manager und Unternehmer
Die Manager und Unternehmer vertreten in der öffentlichen Diskussion die Interessen des Kapitalstocks. Sie haben aus dieser Interessenlage heraus klare verteilungspolitische Positionen. Das ist legitim und auch notwendig, weil natürlich die Interessen des Kapitalstocks nicht nur Gewinninteressen repräsentieren, sondern weithin identisch sind mit den Interessen, Arbeitsplätze zu erhalten. Allerdings werden die wirtschaftspolitischen Beiträge der Unternehmer allzu häufig zu stark eingefärbt durch ihre Gewinninteressen. Sie üben sich besonders in der Kunst, Deregulierungen zu Lasten der Arbeitnehmer, aber kaum zu Lasten von Wettbewerbsbehinderung zu fordern. Bei einem umfassenden, wirtschaftspolitischen Interesse müßte die Kritik an allgemeinen Wettbewerbsbehinderungen oder an ressourcenverschwendenden Subventionen genauso intensiv und ausgeprägt sein. Wer nicht wirtschaftspolitisch einäugig ist, der muß auch kritisieren, daß der Markt für Unternehmerleistungen mindestens so unvollkommen, so träge und wenig flexibel ist wie der Arbeitsmarkt. In einer Wohlstandsgesellschaft mit einem ausgebauten Wohlfahrtsstaat entstehen aufgrund der Existenzsituation ihrer Mitglieder Motivationsprobleme und Defizite der Risikobereitschaft. Gleichzeitig wuchern Widerstände gegen Innovationen und gegen Expansion. Einschränkungen und Kontrollen und natürlich die Abgabenlasten wachsen dagegen fast ständig und unaufhaltsam. Der Wohlfahrtsstaat frißt zwar seine Kinder nicht auf, aber er frißt immer größere Teile ihrer Einkommen, ihrer Initiative und Risikobereitschaft. Er fordert eine Kultur der Abhängigkeit. Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit, denn Wohlstand und Wohlfahrtsstaat beruhen auch auf stabilen Großorganisationen, in denen ein riesiges Wissen angesammelt wurde und die in arbeitsteiligen Verfahren ständig Innovationen nach einem planvollen Prozeß erzeugen und auch neue Märkte erschließen. Einzelunternehmerleistungen werden wieder wichtiger. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse einer Befragung Dur die "Wirtschafts-Woche" zum Bild der Unternehmer in der Öffentlichkeit mehr als alarmierend. Zwar wird den deutschen Unternehmern noch Kompetenz zugesprochen, Unternehmern wird jedoch kaum Autorität in allgemeinen gemeinwohlorientierten politischen Debatten unterstellt. Das mag auch damit zusammenhängen, daß praktisch alle ihre politischen Positionen und Ratschläge einen zu eindeutigen verteilungspolitischen Hintergrund haben. Die Unternehmer werden ihr fachliches Wissen und ihre Kenntnisse in die wirtschaftspolitische Debatte nur dann wirksam einbringen, wenn sie neben verteilungspolitischen Positionen vor allem die Fragen eines allgemeinen Produktivitätswachstums oder auch eines Abbaus der Umweltarmut durch raschen umweltschonenden technischen Fortschritt genauso intensiv vertreten würden. Unternehmer erwecken häufig den Eindruck, als würden eine geringere Steuerlast, niedrigere und flexiblere Löhne, eine Deregulierung der Arbeitszeit oder die Neugestaltung von Arbeitszeitordnungen automatisch zu mehr Wachstum und Beschäftigung fuhren und als ob sich damit viele Probleme der Bundesrepublik binnen kurzem lösen ließen. Hier färbt ihre Interessenlage die Mißstandsanalysen erheblich ein, denn natürlich reichen die Vorschläge bei weitem nicht aus, um ein Vollbeschäftigungswachstum zu erreichen. Gemessen an den typischen von Unternehmern aufgegriffenen Themen gibt es wirtschaftspolitische Aufgaben in Hülle und Fülle für Manager und Unternehmer, um sich glaubwürdig und vielfältig an der wirtschaftspolitischen Debatte zu beteiligen. Sie können eigene Erfahrungen zum Ausgangspunkt der Analysen machen. Jede Gruppe in der Gesellschaft muß bei der völlig legitimen Vertretung ihrer Interessen berücksichtigen, daß die Gesellschaft insgesamt funktionsfähig und lebenswert bleibt. Unternehmen, die Ausländer ins Land holen, müssen mitdenken und die Bewältigung der langfristigen Integrationsaufgaben unterstützen, weil sie auch von den langfristigen Sozialkosten nicht bewältigter Integration betroffen werden. Wer Einwanderer ins Land holt und erlebt, daß ohne eine Beteiligung der Ausländer an den Betriebsratswahlen Betriebe nicht mehr funktionsfähig wären, der muß diese Erfahrung in die allgemeine politische Diskussion einbringen. Wer für Leistungswettbewerb eintritt und langfristige Wettbewerbsfähigkeit sichern will, - muß auf Seiten derer stehen, die eine veränderte Agrar- und/oder Kohlepolitik wollen; - muß Für mehr Innovationswettbewerb, leistungsfähige Forschungsclubs und Offenheit gegenüber internationalem Wettbewerb eintreten; - muß deutlich machen, daß die Ausbildungsleistungen aus unternehmerischer Sicht die wichtigste Investition einer Volkswirtschaft sind; - muß Alarm schlagen, wenn Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, diese Ausbildungsleistungen nicht mehr erbringen können; und muß zügig dazu beitragen, daß dieses Defizit überwunden werden kann. Unternehmer, die an der Quelle vieler Veränderungen und Informationen sitzen, dürfen Mißstände, die zunächst die Allgemeinheit und sie selbst nicht direkt treffen, nicht verschleiern und verdrängen. Wer erfolgreich wirtschaftet, hat in der politischen Diskussion Autorität, wenn er über den Tellerrand der unmittelbaren Unternehmens- und Sektorinteressen hinaus Funktionsbedingungen einer leistungsfähigen Wirtschaft formuliert und sie auch dort, wo sie unangenehm sind, gegen sich gelten läßt.
6. Eine Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land als nationale Standortpolitik
Man kann die Aufgabe, Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, nicht einfach bei den Unternehmen abladen und Protest erheben, wenn sie aufgrund von Standortüberlegungen zur Verlagerung von Kapazitäten und Arbeitsplätzen ins Ausland gezwungen werden. Wettbewerbspositionen und Standortsicherung sind abhängig von den Regelungen der Arbeitsmärkte, von der Qualität der Infrastruktur, der Forschungsförderung, dem Ausbildungssystem und vielem anderen mehr. Als Faktor von vielen wird gegenwärtig das Thema "Flexibilität der Arbeitszeit" in den Mittelpunkt gerückt. Die Industrialisierung hat als zentrale Voraussetzung des wirtschaftlichen Wachstums den Menschen Zeitdisziplin und Zeitgleichschritt in der Arbeit aufgezwungen. Diese Verhaltensrevolution war über fast zwei Jahrhunderte eine wichtige Basis des Produktivitätsfortschritts. Die postindustrielle Gesellschaft mit immer stärker automatisierten Fabriken wird für flexible persönliche Dienstleistungen und für eine hohe Auslastung des Kapitalstocks Abschied vom Zeitgleichschritt nehmen müssen und zurückkehren zu flexiblen, individuell ausgehandelten und an individuelle Produktionsprozesse angepaßten Arbeitszeiten. Der Versuch, der Gleichschrittgesellschaft das label human und solidarisch, und der Gesellschaft mit mehr Ungleichzeitigkeit im Alltag den Stempel einer neuen postindustriellen Ausbeutungsform aufzukleben, führt zu hohen Schäden, die von der Bevölkerung insgesamt zu tragen sind. Der Preis eines Gleichschritts in einer Welt, die aus ungleichzeitigen und individuellen Rhythmen besteht, wird auch für die Arbeitnehmer immer höher. Die Welt hat die Bundesrepublik 30 Jahre lang wegen der Branchentarifverträge beneidet. Was 1948 Fortschritt war, kann 1998 zur Fortschrittsfalle werden, denn es gibt immer weniger homogene Branchen und immer mehr spezialisierte individuelle Märkte und Unternehmen. Dem müssen die Lohnbildungsprozesse, die Arbeitszeitregeln, die Ausbildungsverfahren, aber auch die Urlaubsregelungen entsprechen. Die Erfahrung lehrt gleichzeitig, daß die Menschen glücklicherweise sehr unterschiedlich sind. Der "5 Tage, 8 bis 17 Uhr-Familienvater" wird seinen Arbeitsplatz auch in Zukunft finden. Auch der "4 Tage, 9 Stunden-Arbeiter", der anschließend in sein verlängertes Wochenende startet oder einen Zweitberuf ausübt, weil er dringend Geld braucht, wird zu seinem Recht kommen. Die Gleichschrittgesellschaft, die zum 12-Uhr-Läuten heimkehrt und sich nach dem Kirchgang am Sonntag trifft, gehört der Vergangenheit an. Es scheint, daß der Bedarf nach einem solchen Zeitgleichschritt weit geringer ist als die Kirchen, Gewerkschaften und Parteien uns ständig weismachen. Die Zukunft ist individualistischer, flexibler und weniger festgelegt. Dabei bleibt es natürlich Aufgabe staatlicher Politik, die Vertretung der Interessenpositionen möglichst gleichgewichtig zu organisieren. Das Thema flexible Zeitnutzung dürfte insgesamt in seinen Standortwirkungen überschätzt werden. Wie die Erfahrungen vor allem mit dem Aufstieg der kleinen asiatischen Länder (Taiwan, Südkorea, Singapur...) zeigen, bleibt nationale Standortpolitik in vielen Bereichen weiterhin wichtig. Dies gilt auch im Rahmen der Europäischen Union. Nationale Politik bleibt zuständig für das Bildungsniveau, für das Steuer- und Abgabensystem, für das System der sozialen Sicherheit, die technische Infrastruktur, Rechtssicherheit, Verwaltungsleistungen, weiterhin auch für Forschung und Entwicklung. Damit bleiben die Standortbedingungen im hohen Maß durch lokale Strategien beeinflußbar. Angesichts eines immer mobiler werdenden Kapitals und der zunehmenden Direktinvestitionen bleibt nationale Politik trotz Währungsunion und Binnenmarkt entscheidend für die Expansionschancen und die Beschäftigungschancen im eigenen Land. In der öffentlichen Diskussion wird dieses einfache Faktum mit dem Hinweis auf die Globalisierung der Märkte und die wachsenden Kapitalbewegungen verdrängt. Der Hinweis auf globale Markttrends bekommt immer häufiger eine Alibifunktion. Die Bundesregierung versucht, systematisch die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit auf Unternehmen und Tarifpartnern bzw. auf allgemeine wirtschaftliche Kräfte "abzuwälzen". Das in der "Globalisierungsrhetorik" sichtbar werdende Politikverständnis greift zu kurz. Natürlich kann traditionelle Instrumentenpolitik, etwa die Globalsteuerung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, die Probleme nicht lösen, aber eine grundsätzlich angelegte Entwicklungspolitik für eine entwickeltes Land kann Standortbedingungen verändern, Verhaltensweisen beeinflussen, Perspektiven verändern und der Realitätsverweigerung ein Ende setzen. Tatsächlich kann eine Wirtschaftspolitik als Entwicklungspolitik zumindest mittelfristig entscheidenden Einfluß auf die Produktivitätssteigerungen und den Grad der Beschäftigung haben. |
©Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999 |