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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 36 ]
Reinhold E. Thiel, (Chefredakteur der Zeitschrift ,Entwicklung und Zusammenarbeit'), moderierte die folgende Podiumsdiskussion. Er steuerte zunächst einige Gedanken bei, die sich noch einmal kritisch mit den Thesen des Weltbankberichtes auseinandersetzten.
Anschließend ging er näher auf den Begriff .Zivilgesellschaft' ein. Er widersprach der Auffassung von Spranger, wonach die Wirtschaft einen Teil der Zivilgesellschaft bilde. Thiel begründete seine Position folgendermaßen: Meine Antwort ist: Sie gehört nicht dazu. Die Wirtschaft ist profitorientiert, die civil society, die Organisationen der civil society sind nicht profitorientiert. Und deswegen gehören sie nicht in eine Schublade. Aber die Wirtschaft hat natürlich trotzdem eine Verantwortung gegenüber der Gesamtgesellschaft. Und die löst sie normalerweise ein, indem sie Steuern zahlt, und der Staat bezahlt damit die Aufgaben, die er zu erfüllen hat. Nun haben wir heute eine Wirtschaft, die sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung weitgehend entzieht." Dr. Volker Hausmann (Generalsekretär der Deutschen Welthungerhilfe) griff die Frage in seinem Statement auf. Auch er zog es vor, die profitorientierte Privatwirtschaft nicht zum Bereich der Zivilgesellschaft zu zählen. Gemeinsam seien beiden allerdings die verfassungsrechtlich erkämpften Garantien auf Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit. Und zwischen ihnen seien auch Verschiebungen" möglich. So finde im Moment zum Beispiel in dem ursprünglich karitativ organisierten Bereich der Altenpflege eine Privatisierung statt. Hausmanns erste These bezog sich auf die Natur der Globalisierung. Sowohl die NRO als auch die Gesellschaften gerade des Südens seien einem zunehmenden Druck ausgesetzt. Die NRO reagierten auf den Globalisierungsdruck mit Internationalisierung. Dies geschehe nicht nur durch die Bildung von Netzwerken, sondern auch in Form eines Ausbaus von mehr oder weniger transnationalen Spendenmultis".
Der Druck der Globalisierung auf die Gesellschaften des Südens zeige sich besonders deutlich im Zerfall der Familien. In Burkina Faso beispielsweise sei zu beobachten, wie viele junge Männer nach Ghana abwanderten, um dort ein besseres Einkommen zu erzielen. Die Frauen trügen dann nicht nur die Verantwortung für die Kinder, denn sie müßten sich zusätzlich um die alten Menschen kümmern. Derartige Systeme seien weder nachhaltig noch tragfähig". Die Zivilgesellschaft könne auf solche Entwicklungen und Herausforderungen in mehrererlei Hinsicht reagieren: Sie könne mittels Projektarbeit Hilfe zur Selbsthilfe initiieren und fördern und dadurch konkrete Hilfe bewirken. Auch sei es möglich, eine Methodik der Hilfe zur Selbsthilfe" zu erarbeiten - ein Feld, daß in Deutschland noch unterentwickelt sei. [Seite der Druckausg.: 37 ]
Nicht möglich sei es aber, Defizite im Bereich der Basisversorgung mit sozialen Einrichtungen auf Dauer auszugleichen". Denn die Aktivitäten der Zivilgesellschaft würden nun einmal nicht steuerfinanziert, sondern im wesentlichen von Spenden getragen. Dies aber sei kurzfristiges Geld", während der Betrieb zum Beispiel einer Schule eine Daueraufgabe bilde, die auch nur mit langfristig gesichertem Geld dargestellt" werden könne. Hausmann betonte: Und ich warne deswegen vor der Illusion, die man manchmal gerade unter dem Etikett NRO verbreitet, als könnten wir diesen gesamten Sektor der sozialen Grundbedürfnisbefriedigung schlicht und ergreifend auffangen, wenn er denn vom Staat oder der international verfaßten Staatengemeinschaft nicht geleistet wird."
Auch wenn die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft eingeschränkt seien, so verfüge sie doch über das wichtige Mittel der öffentlichen Diskussion. Sie könne auf diesem Wege ein Gegengewicht zum Gewinndenken eines Teilhabers (share-holder) entwickeln, nämlich die Zielorientierung eines Teilnehmer-Modells (stakeholder). Dies sei im Rahmen einer anwaltschaftlichen Tätigkeit (advocacy) oder in Form einer gezielten Unterrichtung der breiteren Öffentlichkeit" möglich - und zwar sowohl in Deutschland als auch und gerade in den Entwicklungsländern. Thesenartig schloß Hausmann hier die Bemerkung an, daß die Zivilgesellschaft im Norden ihre Partner im Süden auch dabei unterstützen müßte, die eigentlichen Pfeiler der Zivilgesellschaft" - also ein funktionierendes Staatswesen - einzufordern und zu entwickeln. Dr. Wilhelm Adamy (Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik und internationale Sozialpolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund) stellte die Frage nach den praktischen Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, einen Beitrag zu einem anderen Entwicklungskonzept" zu leisten.
Tatsächlich sei doch ein Druck zu niedrigeren Löhnen festzustellen", beschrieb Adamy seine Ausgangsposition. Und dieser führe zu Zugeständnissen, die im Standortwettbewerb letztendlich die Finanzbasis der Staaten in den Industrieländern auszuhöhlen" drohe. Genau hier sei die Zivilgesellschaft gefordert. Wenn man die nationalen Handlungsspielräume ausnutzen wolle, so müsse zum Beispiel dem Thema Beschäftigung größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtig sei es zudem. Entwicklungskonzepte zu erarbeiten, die verhinderten, daß das spekulative Kapital einzelne Regierungen abstraft, die um eine sozial verträgliche Entwicklung bemüht sind". Entscheidend sei es in diesem Zusammenhang, den multinationalen Konzernen staatliche Rahmenbedingungen zu setzen. Darüber hinaus sei die Überwachung von multinationalen Unternehmen erforderlich." Adamy präzisierte: Unter anderem ist zu prüfen, inwieweit sie fundamentale Menschenrechte in der Arbeitswelt beachten. Investitionen von Multis in Entwicklungsländer sollen beispielsweise nur dann in den Genuß von Investitionsschutzverträgen kommen, wenn sie auch tatsächlich gewisse völkerrechtliche Sozialnormen einhalten."
Die Zivilgesellschaft, forderte Adamy, müsse generell versuchen, politische Macht zugunsten der Schwächeren zu entfalten" und ihnen Gehör zu verschaffen". Dabei müsse der menschenrechtliche Aspekt der Benachteiligungen betont werden und nicht altruistische Motive von Gerechtigkeit, wie sie in den 60er und 70er Jahren in der Entwicklungspolitik vorgeherrscht hätten. [Seite der Druckausg.: 38 ] Eine Möglichkeit, sich zivilgesellschaftlich auf konkrete Rechtsnormen zu beziehen, bestehe zum Beispiel darin, sich prioritär für die Einhaltung der internationalen Normen im Arbeits- und Sozialrecht einzusetzen. Sein Vorschlag: Wollen wir Staaten des Südens gewisse Anreize geben, wenn sie bemüht sind, gewisse völkerrechtliche Sozialnormen anzuerkennen, ihnen aktiv helfen, dies in stärkerem Maße miteinander zu verbinden?"
Außerdem müsse sich die Zivilgesellschaft in sehr viel stärkerem Maße dem Thema Markt widmen. Hier gehe es nach wie vor um staatliche Umverteilung". Adamy wörtlich: Umverteilung scheint mir notwendig zu sein und auch der Aspekt Chancengleichheit ein wichtiges Element, wofür wir, denke ich, gemeinsam und mit relativ stärkerem Engagement als bisher eintreten sollten." Abschließend stellte Adamy den direkten Zusammenhang her zwischen einer sozialen Stabilisierung in den Industrieländern und dem Recht auf Entwicklung der Dritten Welt". Beides müsse gelingen und sei miteinander verknüpft. Unser Wohlfahrtssystem sei auf Dauer nur zu erhalten, wenn soziale Fortschritte in den Entwicklungsländern solidarisch unterstützt würden. Helga Schulz (Vorsitzende des deutschen Frauenrates) betonte zunächst einmal, daß vor allem die Frauen von dem Rückzug des Staates aus der Sozialpolitik betroffen wären. Ihren Standpunkt stellte Schulz folgendermaßen dar: Geld wurde ja eigentlich mal als Mittel geschaffen, Ware und Dienstleistungen etwas bequemer als durch Tausch zahlen zu können. Aber daß das Geld einen solchen Selbstzweck erreichen durfte, das müssen wir den Männern vorwerfen. Denn jetzt das wieder zurückzuziehen, halten wir für eine ganz, ganz schwierige Kiste."
Um den Charakter des Beitrags von Schulz zu erhalten, ist hier auch ihr Credo - leicht gekürzt - wörtlich wiedergegeben: Wir erwarten also als Frauen in der Bundesrepublik, daß zumindest zunächst einmal im EU-Rahmen Grenzen gesetzt werden für diese Art von Kapitalverschiebung und für Ausbeutung von Arbeitnehmern, die für dieses Kapital arbeiten, statt für die vernünftige Entwicklung unseres und anderer Staaten, und die dazu gleichzeitig immer noch die Natur ausbeuten. Wir Frauen sehen das also mit ganz großer Sorge. Wir machen auch Druck. Wir lassen auch nicht mehr zu, daß Entwicklungspolitik so stattfindet, daß immer die Frauen in den Entwicklungsländern gar nicht erst gefragt werden. Solche Projekte hatten wir ja früher auch massenhaft. Das ist jetzt etwas besser geworden. Und so, wie in der bundesrepublikanischen Verfassung steht , Eigentum verpflichtet ', erwarten wir von allen, die in dieser Welt etwas zu sagen haben, daß sie darauf aufmerksam machen, daß dieser Artikel auch erfüllt wird. Und vielleicht kommen die anderen Länder und Staaten zu dem Ergebnis, daß sie in ihrer Verfassung etwas ähnliches dokumentieren und auch durchsetzen. Geld kann und darf kein goldenes Kalb mehr sein. Wir brauchen es, um die Armut in der Welt zu bekämpfen. Wir brauchen es, um den Frauen und auch den Kindern vernünftige Chancen einzuräumen." Auch Michael Windfuhr (Geschäftsführer des Food First Aktions-Netzwerkes International) hob - wie schon vor ihm Adamy - stark auf den Rechtscharakter der gesamten Thematik ab, für die der Begriff soziale Entwicklung steht. [Seite der Druckausg.: 39 ]
Er analysierte vor allem die Aufgaben und die Rolle des Staates bei der sozialen Entwicklung. Dafür verwies er zunächst auf den Begriff der Rahmenbedingungen. Gerade der Staat selbst dürfe die Bürgerrechte nicht verletzen: Denken wir an die zahlreichen Verletzungen, die zum Beispiel Gewerkschaftsführer oder -führerinnen oder andere soziale Bewegungen dabei erleiden, sich zu organisieren und ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen. Also hat natürlich die Bedeutung der Rolle des Staates zunächst mal etwas damit zu tun, den Bürger auch machen zu lassen, etwas, was wir hier heute auf der ganzen Tagung noch überhaupt nicht besprochen haben." Windfuhr schätzte den Anteil der aufgrund traditionellen staatlichen Handelns" zustandegekommenen Menschenrechts Verletzungen, die mit Landkonflikten oder dem Recht auf Nahrung zusammenhingen, auf 80 bis 90 Prozent. Seine Schlußfolgerung: Ich würde sagen, höchstens 10 bis 20 Prozent sind zunächst mal auf Rahmenbedingungen zurückzuführen, die der Globalisierung geschuldet sind."
Bei der Analyse der Rahmenbedingungen, die vom Staat für eine günstige soziale Entwicklung zu schaffen seien, unterschied Windfuhr drei Möglichkeiten, zivilgesellschaftlich Einfluß zu nehmen: Es gibt eine Ebene, da geht es darum: Wie können Probleme der Entwicklung identifiziert werden? Also haben die Betroffenen überhaupt die Möglichkeiten, ihr Problem auf die politische Agenda zu bringen und es zu thematisieren? Das zweite ist: Bei der Entwicklung von Gesetzen, Rahmenbedingungen, Strategien, sind sie dort beteiligt? Gibt es irgendeine Möglichkeit, mit einbezogen zu werden? Und das dritte ist bei der Programmdurchführung." Gerade da, wo es um die Privatisierung von sozialen Dienstleistungen gehe, sei die Mitwirkung der Zivilgesellschaft aber auf die Programmebene - also die Durchführung - beschränkt. So gelte eine Regierung, die sehr effizient zum Beispiel 100.000 Menschen umsiedele, in dieser Hinsicht zwar als verläßlich (credible). Doch werde hier schon gar nicht mehr gefragt, ob die Maßnahme überhaupt sinnvoll sei. In einem solchen Moment seien grundlegende Rechte wie Organisationsfreiheit, Gewerkschaftsgründungen, aber auch die Rechte, an Planungsvorgängen zu partizipieren, berührt und gefährdet.
Über die Gewährung von grundlegenden Bürgerrechten hinaus habe der Staat aber auch die Aufgabe, deren Verletzung durch Dritte - zum Beispiel durch Unternehmen - zu verhindern. Dies müsse unter Umständen sogar polizeilich durchgesetzt werden. So zum Beispiel, wenn der Staat willkürliche Großgrundbesitzer in ihre Schranken" verweise. Auf einer dritten Ebene gehe es letztlich darum, denjenigen, die schon arbeitslos oder ohne Land seien, die Möglichkeit zu geben, sich ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Auch dies sei eine Frage entsprechender, günstiger Rahmenbedingungen:
Die Staaten sollen das Maximum der ihnen verfügbaren Ressourcen nutzen, um Menschen Zugang zu produktiven Ressourcen zu geben. So steht es im Pakt über wirtschaftlich-soziale Rechte drin. Das heißt zunächst mal. Rahmenbedingungen schaffen, die Menschen in die Lage versetzen, auch ökonomische Partizipation auszuüben. Zugang zu Land, zu anderen Ressourcen muß man herstellen als Staat. Und das ist natürlich eine recht aktive Rolle."
Doch selbst, wenn der Staat alle diese Bedingungen erfülle, gebe es noch eine große Gruppe von Menschen, die sich nicht selber versorgen könnten: Kinder, Kranke, Alte. Der Staat müsse daher sicherstellen, daß auch diese Gruppen [Seite der Druckausg.: 40 ] menschenwürdig leben könnten. Essentiell für die Menschenwürde sei aber ein angemessener Lebensstandard. Aus diesen Pflichten könne kein Staat entlassen werden. Doch nützten alle diese Ansätze nichts, wenn nicht die Staaten auf internationaler Ebene zusammenfänden, um im Verlauf der Globalisierung nicht noch schwächer zu werden, als sie es ohnehin schon seien. Und auch hier sah Windfuhr eine zentrale Aufgabe für die Zivilgesellschaft: Themen nicht nur auf nationaler Ebene anzusprechen, sondern die Agenda auch international zu beeinflussen.
Eimi Watanabe (Senior Advisor bei UNDP) präzisierte einige der bereits vorgebrachten Argumente am Beispiel Indiens. In ihrer Argumentation folgte sie dabei dem indischen Ökonomen Armatya Sen. Seine und damit auch ihre Frage: Warum hat es nach der indischen Unabhängigkeit in dem demokratischen Land keine Hungerkatastrophe mehr gegeben wie noch 1943 in Bengalen?" Die Antwort: In einem unabhängigen Staat mit einer freien Presse, mit Wahlen, einer Opposition und öffentlichen Debatten sowie einem guten Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu wichtigen Informationen wird eine Hungersnot nicht so ohne weiteres entstehen können." Natürlich würden, fuhr sie fort, weder sie selbst noch Armatya Sen behaupten, daß Indien eine makellose Demokratie sei. Doch wenn man nach Nordkorea blicke, wisse man sofort, wie dieses Argument aufzufassen sei. Eine informierte, ausgebildete und aufmerksame Öffentlichkeit sei eine Grundvoraussetzung für soziale Entwicklung. Vor allem die Warnfunktionen engagierter NRO (watch-dog-bodies) seien unverzichtbar geworden. Und dennoch gehe die Frage nach einer funktionierenden Zivilgesellschaft und einem effektiven Staat weit über das Problem der Partizipation hinaus. Es gehe um nicht mehr und nicht weniger, als darum, soziales Kapital schrittweise aufzubauen. Damit sei das Gewebe aus Gesetzen, Regeln, Prozeduren, Gebräuchen und Praktiken gemeint, das die in einer Gesellschaft lebenden Menschen dazu bewege, zueinander und zu ihrer Gesellschaft zu stehen, und das letztlich ein Element des Vertrauens in die Gesellschaft einbringe. Während der Süden mit der Bildung von sozialem Kapital seine Gesellschaften stabilisiere, müsse der Norden vor allem bereit sein, die globalen Probleme anzugehen. Wie dies geschehen könne, sei in Deutschland gut zu beobachten. So wie sie es verstehe, arbeiteten in Deutschland die NRO zum Teil eng mit der Industrie zusammen, um sich über Umweltfragen auseinanderzusetzen. Die Einbeziehung der Unternehmer sei der kritische Punkt. Hierauf komme es an.
Watanabe schloß ihre Stellungnahme mit einigen Bemerkungen über Korruption. Auch für die Diskussion in dieser Frage verfügten die NRO im Norden ihrer Meinung nach über die bessere Ausgangsposition. Das gelte auch für die Debatte um die deutsche Gesetzgebung (nach der Bestechungsgelder steuerlich absetzbar sind - Die Red.). Eng mit der Frage der Korruption verknüpft sah Watanabe auch den Waffenhandel. Wie auch die Korruption, so habe jener einen gewaltigen Einfluß auf die Erfolgsaussichten von Entwicklung im Süden. Der [Seite der Druckausg.: 41 ] Waffenhandel in der Dritten Welt wachse ungebrochen. Hier sei - wie auch im Bezug auf die Kinderarbeit und viele weitere Themen - die Zivilgesellschaft in besonderem Maße gefordert. Die anschließende Diskussion drehte sich zum Teil darum, die bis dahin getroffenen Feststellungen an Beispielen zu präzisieren. Einen weiteren Teil machte die gemeinsame Suche und die Formulierung von gesellschaftlichen Werten aus, die eben einen Teil des von Watanabe eingeführten sozialen Kapitals" bilden.
Adamy ging die Frage pragmatisch an. Er nahm sich konkrete Fragestellungen vor und forderte die Anwesenden auf, sie sich zu vergegenwärtigen: Wie halten wir es bei uns selber damit, Steuerflucht letztendlich entgegenwirken? Das ist ein ganz entscheidender Punkt für Industrieländer insgesamt, um damit auch eine Basis zu schaffen für solidarische Hilfe. Wie halten wir es damit, multinationale Konzerne und Investitionen stärker zu thematisieren, die wir auch an bestimmte völkerrechtsrelevante Normen zu binden versuchen? Dies gemeinsam zu thematisieren, ist im Interesse des Nordens wie des Südens. Wie halten wir es damit, das spekulative vagabundierende Kapital einzuschränken?" Das Beispiel Kinderarbeit habe gezeigt, daß es gerade auch in Deutschland möglich sei, Entwicklungshilfe an Bedingungen zu knüpfen, zumindest in diesem Punkt die internationalen Sozialnormen einzuhalten. Der weitaus größte Teil der allgemeinen Diskussion drehte sich jedoch um die Privatisierung des sozialen Sektors und die Bedeutung und Möglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen in diesem Zusammenhang. Hausmann warnte davor, die NRO mit zuviel Enthusiasmus zu betrachten. Sie seien nicht das Allheilmittel in der gesamten sozialen Entwicklung". Er fuhr fort: Und wir müssen uns auch gegen diesen Anspruch wehren, weil wir ihn erstens nicht erfüllen können, und weil wir zweitens, wenn wir so dumm wären und würden darauf reinfallen, auch die nützlichen Idioten wären, die den Staat von seiner Verpflichtung freistellen, die notwendigen Investitionen und den notwendigen Betrieb von sozialer Grundversorgung sicherzustellen." Diese Auffassung stellte sicherlich einen Konsens dar und führte in direkter Linie immer wieder zu Anmerkungen über die sinkende Macht des Nationalstaates und mögliche Kurskorrekturen.
Windfuhr ging noch einmal detaillierter auf die Probleme ein, denen sich NRO in ihrer Arbeit gegenüber sehen. Im Rahmen der Globalisierung sei auch eine Verlagerung der rechtlichen Rahmenbedingungen auf die internationalen Ebenen festzustellen. In der Welthandelsorganisation (WTO) zum Beispiel blieben die Regierungen unter sich. Sogar der Direktor der IAO sei kürzlich von einer WTO-Ministerkonferenz ausgeladen worden, weil die asiatischen Länder ihn nicht da haben wollten". Im übrigen seien gerade die NRO im Norden oft Dienstleister für ihre Regierungen. Dadurch komme es zu einer Überbetonung des Effizienzgedankens, während die Inhalte, um die es doch eigentlich gehe, oft zu [Seite der Druckausg.: 42 ] kurz kämen. Für die Regierungen sei es natürlich unheimlich bequem zu sagen, ,Ihr seid so wahnsinnig wichtig, wir nehmen Euch immer mehr an Bord und geben Euch die Aufträge'. Aber wir haben auch alle keine Zeit mehr, uns um die Fragen zu kümmern, wo Politik gemacht wird - agenda-setting und Politikformulierung. Und dies finde ich eine ganz wichtige Herausforderung für die NRO."
Adam ergänzte die bis hierher getroffenen Feststellungen um einen wichtigen Punkt: Nicht nur ihre Dienstleistungsaufgaben, auch ihre Ausrichtung auf den Markt führe zu einer Entpolitisierung" der NRO. Denn wenn man den Kern seiner Aufgabe" darin sähe, bestimmte Programme oder Maßnahmen umzusetzen, würde das politische Mandat nicht nur nicht mehr wahrgenommen, sondern auch verweigert. In den USA erhielten NRO, die anwaltschaftliche Arbeit leisteten, keine öffentlichen Gelder mehr. Später ergänzte Thiel diese Feststellung: Es gibt Schätzungen, daß in den meisten Dritte-Welt-Ländern 50 Prozent aller NRO korrupt sind und nur absahnen von dem Geld, das aus dem Norden kommt. Es gibt Schätzungen, daß in einigen Ländern 90 Prozent der NRO korrupt sind."
Ein Teilnehmer hielt diesen kritischen Anmerkungen ein wichtiges Argument entgegen: Woher", so fragte er, soll die Sensorenfunktion der NRO kommen, wenn sie nicht aus erster Hand Erfahrungen mit Konfliktsituationen im sozialen Bereich machen?" Auch Watanabe mochte die Rolle der NRO nicht so skeptisch bewerten. Sie wies daraufhin, daß vor allem eine Koalition vieler verschiedener NRO in der Lage sei, auch in der Sache etwas zu bewegen. Der Flut-Aktions-Plan in Bangla Desh biete dafür ein gutes Beispiel. Helga Schulz bestätigte die Erfahrungen von Frau Watanabe. Auch auf der Weltfrauenkonferenz in Peking habe genau die Zusammenarbeit der NRO die Wirkung" gebracht. Zur Frage der Unabhängigkeit von NRO schilderte sie persönliche Erfahrungen: Wir werden als Frauenrat selbstverständlich auch vom Frauenministerium im wesentlichen finanziell gefördert. Das hindert uns aber mitnichten, zu der Politik der Bundesregierung deutliche Worte zu sagen. Wir haben jetzt die 610-Mark-Debatte so angestoßen, daß sich auch in den Regierungsparteien was bewegt. Wir haben zu Steuerreform und Rentenreform Vorstellungen entwickelt. Da dauert es noch ein bißchen, bis die Herren das begriffen haben. Aber da sie ja kein Geld haben, werden sie unseren Beschlüssen schon folgen müssen. Also wir können was bewegen." © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000 |