FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausg.: 43 ]


7.
Weniger Staat - Lernen von der Dritten Welt? - Sollte Selbsthilfe der Armen den Staat ersetzen?




    Wo bleibt die Solidarität?

Rolf Lodde (Sprecher der Nationalen Armutskonferenz) spitzte gleich zu Anfang seiner Moderation das Thema dieser Runde zu:

„In den politischen Diskussionen der letzten Monate und Jahre ist sehr viel von der Eigenvorsorge die Rede; ob bei der Arbeitslosigkeit oder bei der Rentenversicherung. Immer wieder wird neuerdings gesagt, „Ihr müßt Euch letztlich selbst um Eure Versorgung kümmern". Die Frage ist: Steigt der Staat aus seiner Verantwortung aus und überläßt seinen Bürgern, nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied" die Verantwortung für die soziale Absicherung? Wo bleibt die Solidarität?"

Prälat Helmut Puschmann (Präsident des Deutschen Caritas-Verbandes) konstatierte in seinem Eingangsstatement „bei den Menschen, die zu uns in die Beratungsstellen kommen, ein hohes Maß der Bereitschaft, sich selber zu engagieren".

    Die Verteilung von Arbeit überdenken

Im einzelnen stellte er die Erhebungen der Caritas zu diesem Thema wie folgt dar:

„Wir haben etwa 2.300 Menschen befragt - das sind mit den betroffenen Familienangehörigen circa 25.000 Menschen - und etwa 40 Prozent dieser Klienten haben gesagt, ,Wir wären bereit, uns in Selbsthilfegruppen zu engagieren'. Oder 36 Prozent sagen, ,Wir können uns vorstellen, uns in einer Aufgabe im sozialen Bereich zu engagieren'. Das zeigt das Potential, das wir als Wohlfahrtsverbände zu wenig nutzen."

    Soziale Sicherung armutsfest machen

Puschmann fragte aus diesem Blickwinkel nach der Zusammenarbeit mit dem Staat. Seine Schlußfolgerungen:

„Wir müssen von der Politik fordern, daß es möglich ist, durch die (der Sozialhilfe - Die Red.) vorgelagerten Sicherungssysteme, also die Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung, solche Regelungen zu finden, daß sie armutsfest sind. Daß der Betroffene damit so gesichert ist, daß er nicht erst in die Sozialhilfe fällt. Wir müßten sehen, daß Menschen in den Sozialämtern mehr beraten werden und nicht einfach abgefertigt werden. Wir müßten erreichen, daß mehr Anreize zur Arbeit für die Langzeitarbeitslosen geschaffen und gefunden werden.

Und wir sind auch der Meinung, daß wir in dieser derzeitigen gesellschaftlichen Situation überlegen müssen: Wie können wir erreichen, daß Arbeit so abgesichert ist, daß sie keine Spätfolgen bringt? Wenn ein sehr hoher Teil der Bevölkerung keine Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen zahlt, haben wir eines Tages wieder Sozialhilfebedürftigkeit im Alter."

Dr. Klaus Grehn (Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland e.V.) konzentrierte sich auf die Qualität der gesellschaftlichen Veränderungen. Für ihn stelle sich weniger die Frage, ob der Staat Kompetenzen abgebe, sondern vielmehr, welche das seien.

    Selbsthilfe nur da. wo der Staat versagt?

Seine Antwort:

„In den Problemzonen, in denen Regierungspolitik hilflos und konzeptionslos agiert, wird auf Selbsthilfe gesetzt, während die Filetstücke - ich darf das mal so nennen - im Bereich traditionellen staatlichen Handelns bleiben.

[Seite der Druckausg.: 44 ]

    Das gegenwärtige Politikmodell erweitern

Es geht darum, daß der Staat den Wandlungen in der Gesellschaft zu folgen hat;

der Staat mit Hilfe der Selbsthilfeorganisationen. Und dort folge ich allen jenen Ansätzen, die der Meinung sind, daß die Einbeziehung der Selbsthilfeorganisationen eine Erweiterung des gegenwärtigen Politik- und Staatsmodells bedeuten würde. Das hieße aber, daß man Mechanismen entwickelt, wie diese Organisationen strukturell und inhaltlich einbezogen werden in Entscheidungen. Das, glaube ich, wäre eine Möglichkeit."

Im weiteren Verlauf seiner Stellungnahme kam Grehn vor allem auf die Grenzen von Selbsthilfeorganisationen zu sprechen. Weder könne der Arbeitslosenverband den Staat bei der Betreuung der Arbeitslosen ersetzen, noch viel weniger könnten Arbeitsplätze durch Selbsthilfe geschaffen werden. Im Rahmen der europäischen Kommission werde mittlerweile bereits über die Einbeziehung der sozialen NRO nachgedacht. Die Kommission gehe davon aus, „daß diese Organisationen strategische Bedeutung" hätten. Dies sei ein Schritt, der in Deutschland nachgeholt werden müsse. Bisher habe es hier nur Schuldzuweisungen gegeben.

    Die Verteilung von Arbeit überdenken

Grehn machte deutlich, daß er nicht daran glaube, daß staatliche Politik „im Sinne der Väter" auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft noch funktionieren werde. Hier sei ein „völlig neues Herangehen" nötig - im Sinne einer „echten konzertierten Aktion" - und nicht die Zuweisung an die Selbsthilfe. Diese Diagnose treffe im übrigen nicht nur auf den Arbeitsmarkt zu, sondern auch auf andere Bereiche der sozialen Institutionen, die über Arbeitseinkommen finanziert würden, wie etwa das Gesundheitswesen.

    Dritte Welt kein Vorbild für die deutsche Wohlfahrtspflege

Dr. Manfred Ragati (Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und der Arbeiterwohlfahrt) betonte, daß „ohne ehrenamtliche soziale Arbeit der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland als Verfassungsgebot und Verfassungswirklichkeit nicht bestehen" könnte.

Hinweis
Das Foto der Druckausgabe (Seite 44) kann leider
in der Online-Version nicht wiedergegeben werden.




    Selbsthilfe von den Entwicklungsländern lernen?

Doch distanzierte Ragati sich davon, die Entwicklungsländer als Vorbild für den sozialen Sektor hierzulande darzustellen:

„Aber ,von den Entwicklungsländern lernen' - wer meint, mit dem Zeigefinger auf die Armut dort deuten zu sollen, um dann - immer auf die Brust anderer, nicht auf die eigene - auf die Brust anderer zu klopfen: ,Nehmt Euch ein Beispiel daran, schaut, denen geht es eigentlich viel schlechter als uns in Mitteleuropa, besonders in Deutschland', der hat offenbar die entwicklungspolitischen Arbeiten der Wohlfahrtsverbände nicht richtig zur Kenntnis nehmen können.

Denn was wir dort in der Entwicklungszusammenarbeit machen, das sind Grundbedürfnisse der Armutsbeseitigung. Und es kann ja nicht der Sinn sein, daß wir Lebensverhältnisse und Armutssituationen im osteuropäischen Raum als ein Beispiel nehmen für unseren bundesrepublikanischen Standort, wie das neuerdings gerne genannt wird. Sondern wir haben eine andere westeuropäische Zivilisation entwickelt, einen Sozialstaat von Verfassungs wegen aufgebaut, den es - auch im Interesse der Demokratie in Deutschland - zu erhalten gilt."

[Seite der Druckausg.: 45 ]

Armut in der Bundesrepublik wird nach Ragatis Erfahrungen nur ungern zur Kenntnis genommen. Sie verberge sich nur allzu oft hinter abstrakten Zahlen wie der Kürzung eines Haushaltspostens „nur um 0,4 oder 0,04 Prozent". Was das für die Betroffenen bedeute, werde nicht klar. Bisher sei es so gewesen, daß die „großen Umstrukturierungen in Deutschland" wie die erste und die zweite Welle der Industrialisierung immer von Sozialgesetzgebungsmaßnahmen begleitet gewesen seien.

    Angebotsorientierte Politik gescheitert

In jüngerer Zeit sei besonders viel angebotsorientierte Politik gemacht worden. Doch zeige der Arbeitsmarkt deutlich, daß diese gescheitert sei. Deshalb müsse auch die Wirtschaft ihrer „gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht werden". Steuersenkungen dürften nicht auf privaten Bankkonten landen, sondern müßten der Schaffung neuer Arbeitsplätze dienen.

    Arbeitsmarkt zugunsten der Arbeitnehmer flexibilisieren

Generell müsse man auch die Finanzierung des Sozialstaates überdenken, da derzeit erhebliche Probleme auf dem Arbeitsmarkt bestünden. Und der Arbeitsmarkt selbst sei reformbedürftig - auch aus der Perspektive eines Arbeitgebers wie der Arbeiterwohlfahrt. Vor allem ältere Arbeitslose könnten von einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes profitieren:

„Um es abzuschließen: Die Wohlfahrtsverbände hängen natürlich in der Klemme mit drin. Aber es wäre ein sehr großer Schritt nach vorne, wenn man flexibler sein könnte, um langfristig Arbeitslose mit erheblicher Berufserfahrung mit einer Umschulung in soziale Dienste hineinzubringen. Die haben Berufserfahrung, die haben Lebenserfahrung, haben Erziehungserfahrung. Und warum soll man nicht mit 52,53,54 noch mal in Beratungsdienste hineingehen, wo man nicht unbedingt vielleicht die 45-Stunden-, 40- oder 38-Stunden-Woche zu arbeiten braucht."

Ulrike Mascher MdB (SPD, Vorsitzende des Ausschusses Arbeit und Soziales) konstatierte eine „beunruhigende Bedrohung dessen, was wir bisher in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten gekannt haben: ein einigermaßen sozial befriedetes Gemeinwesen". Auch den Gewinnern der wirtschaftlichen Entwicklung könne dies nicht gleichgültig sein.

Hinweis
Das Foto der Druckausgabe (Seite 45) kann leider
in der Online-Version nicht wiedergegeben werden.


Im weiteren ging Mascher zunächst auf das Thema der Diskussion „Weniger Staat - Lernen von der Dritten Welt" ein. Sie bezeichnete es als zynisch, auf die „wirklich Armen" zu verweisen, vor allem, da solche Einwürfe meist von denen kämen, „denen es in der Tat sehr gut geht". Dann ging sie auf die Frage der Reichtumsverteilung ein:

„Und ich wehre mich dagegen, daß die Diskussion hier so geführt wird, als wäre die Bundesrepublik ein bitterarmes Land. Wir sind ein reiches Land. Die Unternehmen haben fabelhafte Gewinne. Und die Frage, wie das verteilt wird, die ist in den letzten Jahren in der Bundesrepublik immer unter Ideologieverdacht gestanden und tabuisiert worden. Die Frage, wie diese Gewinne verteilt werden, um Ausbildung zu finanzieren, um Qualifizierungen zu finanzieren, um mehr verfügbare Zeit zum Beispiel für Familien zu finanzieren und auch einen breiten Sektor von öffentlich finanzierter Beschäftigung. Denn wir alle wissen, es ist nicht so in unserer

[Seite der Druckausg.: 46 ]

Gesellschaft, daß uns die Arbeit ausgeht, sondern die Frage ist nur: Wie kann es finanziert werden? Wie kann es in Erwerbsarbeit umgewandelt werden?"

    Selbsthilfe kein Ersatz für staatliche Leistungen

In diesem Zusammenhang stellte Mascher auch die Chancen und Grenzen dar, die Selbsthilfegruppen und ähnliche Organisationen der Zivilgesellschaft wie zum Beispiel lokale Beschäftigungsinitiativen teilen. Den Ideenreichtum, die Kreativität und die Durchsetzungsfähigkeit dieser Gruppen bezeichnete sie als „große Potentiale". Die Grenzen aber würden vor allem dann sichtbar, wenn es um die Finanzierung ihrer Aktivitäten gehe. Nicht zuletzt durch die Politik des Bundes sei der finanzielle Spielraum von Ländern und Kommunen in den letzten Jahren erheblich geschrumpft. Zudem sei zu beobachten, daß Selbsthilfe gerade dort nicht besonders erfolgreich sei, wo die sozialen Brennpunkte sie am nötigsten erscheinen lasse. Sie setze sich eher da durch, „wo es Kristallisationskerne" gegeben habe, „von Menschen, die in der Lage waren, sich Räume zu verschaffen und mit Behörden zu verhandeln".

    Selbsthilfe ist nicht voraussetzungslos

Abschließend forderte Mascher eine „andere Politik der Förderung von Selbsthilfe". Der Markt könne nicht alles richten:

„Wir brauchen insbesondere im Bereich der Beschäftigungspolitik eine stabile Finanzierung von Beschäftigungsinitiativen, da wir dort einen breiten Bereich von öffentlich geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die auch nicht den Restriktionen unterliegen, wie zum Beispiel dieser sehr knappen Befristung von Beschäftigung. Und ich bin überzeugt davon, daß es das Geld zur Finanzierung dieses breiten Sektors öffentlicher Beschäftigung in der Bundesrepublik gibt."

    Der Staat soll Selbsthilfemodelle weiterentwickeln

Dr. Erhard Schmidt (Leiter der Abteilung Arzneimittel, Sozialrecht im Gesundheitsministerium) erinnerte an die Geschichte der Krankenkassen, um die Widersprüche zu beschreiben, zwischen denen sich ein Staat bewegt, wenn er Selbsthilfebewegungen fördert:

„Das ist eine schwierige Balance, sich einerseits nicht in die Einzelheiten einzumischen, andererseits aber ein Grundklima zu schaffen, damit sich Selbsthilfe entwickelt. Der Staat hat sich um die Rahmenbedingungen zu kümmern für die soziale Sicherung - hat auch in einigen Bereichen recht detaillierte Vorgaben zu machen - insbesondere bei der Einkommenssicherung. Ansonsten aber soll er halbstaatlichen beziehungsweise privaten Trägem die Organisation des Sozialstaates im Detail überlassen.

Selbsthilfe hat auch bei uns in Deutschland ja schon eine lange Tradition. Ich denke da zum Beispiel an die Krankenkassen, die eigentlich — historisch betrachtet - mal Selbsthilfeorganisationen waren. Die Ersatzkassen, aber auch Arbeiterkrankenkassen sind vor Bismarck zunächst mal Selbsthilfeorganisationen gewesen. Deutschland war ja so ziemlich der erste Industriestaat, der dann diese soziale Absicherung zu einer staatlichen Angelegenheit gemacht hat. Insofern ist dieses Beispiel Krankenkassen eigentlich auch so ein Lehrstück, wo man auch die zukünftige Rolle neuer Entwicklungen in der Sozialhilfebewegung studieren kann."

    Soziale Leistungen nicht quantitativ, sondern qualitativ ausbauen

Heute sei das Kernproblem des Sozialstaates die Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig würden 34 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Sozialleistungen ausgegeben - ein Wert, der nicht mehr steigerbar sei. Schmidts Schlußfolgerung:

„Wenn der Sozialstaat also in dieser quantitativen Dimension nicht weiter ausbaubar ist, muß man überlegen, wie man ihn sonst weiterentwickeln kann. Und in diesem Zusammenhang hat die Selbsthilfebewegung eine unverzichtbare

[Seite der Druckausg.: 47 ]

Rolle. Es gilt sozusagen, die produktive Kraft des Einzelnen noch zu fördern und den Sozialstaat dadurch qualitativ zu verbessern." Ansatzpunkte für eine solche Weiterentwicklung des Sozialstaates sah Schmidt zum Beispiel in der Dezentralisierung staatlicher Aufgaben wie der Delegation von Kompetenzen aus der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg auf die einzelnen Arbeitsämter. So könnten „vor Ort neue Wege der Beschäftigungsförderung" gegangen werden. Aber auch die Zusammenarbeit verschiedener staatlicher Stellen müsse verbessert werden wie die zwischen Sozial- und Arbeitsämtern.

    Neue Elemente in der sozialen Sicherung kreieren

Schmidt schloß seine Bemerkungen mit einigen Hinweisen auf neue Elemente in der bestehenden sozialen Sicherung ab. Diese müßten dem Einzelnen vor allem deutlich machen, daß es sich lohne, „sich auf seine eigenen Kräfte zu verlassen". Auf die Sozialhilfe bezug nehmend, machte er dies an einem Beispiel deutlich:

„Wir sind gerade dabei, eine Verordnung vorzubereiten für Anreize zur Aufnahme von Erwerbstätigkeit. Das System, das heute praktiziert wird, führt im Ergebnis dazu, daß sich eine Erwerbstätigkeit oberhalb von 1000 DM für den Betroffenen nicht lohnt. Jede Mark, die er mehr als 1000 DM verdient, wird ihm zu 100 Prozent auf die Sozialhilfe angerechnet. Wir wollen jetzt ein neues System vorschlagen, in dem jede zusätzlich verdiente Mark bis zum Hinauswachsen aus der Sozialhilfebedürftigkeit sich für den Betreffenden auch lohnt. Wir wollen die Situation von Familien dabei differenziert in dieses Anreizsystem einbauen und wir wollen auch die Tatsache berücksichtigen, daß derjenige, der eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung annimmt, auch stärkeren Anreiz bekommt als der, der mit einem 610-DM-Vertrag arbeitet, weil er ja auch mehr Eigenvorsorge macht."

    Nicht jede gesellschaftlich notwendige Arbeit ist sofort marktfähig

Grehn stimmte in seiner zweiten Einlassung Schmidt zwar zu, was die inhaltlichen Seiten seiner Vorschläge betraf. Doch er erinnerte gleichzeitig daran, daß „sich alle Formen der Finanzierung der Selbsthilfe" in einem „rabiaten Abbau" befänden. Die Hälfte aller Beschäftigungsförderungsgesellschaften seien mittlerweile schon in den Konkurs gegangen.

Damit werde eine große Chance verpaßt. Denn niemand erkenne, so Grehn, „daß in dem Bereich (auf dem zweiten Arbeitsmarkt - Die Red.) Tätigkeitsfelder entwickelt werden, die Zukunftsfelder sind - für zukünftige Arbeit - auch wenn sie nicht in das gegenwärtige, auf Gewinn orientierte Marktwirtschaftsmodell hineinpassen. Umwelt ist genannt worden. Und viele Unternehmen in diesem Bereich können nur überleben durch Förderung." Auch der Sachverstand und das Engagement der Verbände, Kirchen und Gewerkschaften helfe da oft nicht weiter, fuhr Grehn fort:

„Also ich kann mich an viele Anhörungen entsinnen, wo der geballte Sachverstand gegen Vorlagen der Regierungskoalition angetreten ist und trotzdem nicht durchgekommen ist. Da muß man sich nicht wundem, daß das, was man eigentlich erzielen wollte, nicht zu Buche schlägt."

    Von der Wirtschaft vernachlässigte Aufgaben aus Steuern finanzieren''

Ragati erinnerte in seinem zweiten Statement daran, daß soziale Gerechtigkeit von der gesamten Gesellschaft verantwortet wird. Ihm fehle die Wirtschaft - denn sie gehöre auch dazu. Sie sei ja schließlich auch eine „Selbsthilfeeinrichtung", jedoch eine, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sei. Wenn die Wirtschaft zum Beispiel keine Ausbildungsplätze mehr schaffe, dann müsse eben der Staat vielleicht „doch wieder das Heft in die Hand nehmen". Doch ergänzte er warnend:

[Seite der Druckausg.: 48 ]

„Aber ich appelliere auch, daß die Wirtschaft ihrer Verantwortung als Teil der Zivilgesellschaft in dieser schwierigen Zeit nachkommt. Nämlich wenn wir - und darüber müßte offen gesprochen werden - nicht in der Lage sein sollten, die Arbeitslosigkeit in den nächsten zehn Jahren abzubauen oder bis 2000 oder 2003, 2005, wie es Untersuchungen gibt, dann muß man eben der Realität in die Augen schauen und mal sagen: Sind dann unsere Systeme über Beiträge noch zu finanzieren? Dann wird man zum Ergebnis kommen: Nein. Dann muß eben eine Steuerfinanzierung einsetzen, die Defizite auffängt, damit wieder die soziale Gerechtigkeit in Deutschland zum Tragen kommt und die Stärkeren auch wieder dazu beitragen, daß die Solidarität mit den Schwächeren in Deutschland erhalten bleibt."

Dem stimmte Grehn zu. Der soziale Bereich dürfe nicht einfach dem Markt überlassen werden. Auch könne man zum Beispiel keine Universitätsklinik in Selbsthilfe betreiben. Dieses Spannungsfeld müsse „man besser in den Griff" bekommen. Vor allem aber solle andererseits staatliche Tätigkeit nicht in „Regulierungswut" ausarten; der Staat dürfe nicht „übermächtig" werden

    „Die Treppe von oben nach unten fegen"

Die weitere Diskussion drehte sich immer wieder um die Stichworte ,Finanzierung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit und Leistungen ' und .Verteilung der Einkommen, des Besitzes und der gesamtgesellschaftlichen Lasten'. Dabei stellten sich - vor allem wenn es um die ,Verteilung der Lasten' ging - mitunter auch bittere Töne ein, die aber nicht resigniert wirkten. Thiel gab einige Beispiele von „Steuerschlupflöchern", wie das der Stadt Kronberg mit der höchsten Millionärsdichte, deren Finanzamt „zwei Millionen Mark' an die Bürger zurückgezahlt habe. (Dies ist übrigens kein Einzelfall und es lassen sich viele ähnliche Fälle besonders in den halb ländlichen ,Speckgürteln' rund um die Metropolen der Bundesrepublik finden - Die Red.) Auch auf die ,Oasen' im internationalen Steuersenkungswettlauf wurde mehrfach verwiesen.

Ein Armutsbericht der Bundesregierung schien vielen Teilnehmern nach wie vor notwendig und sinnvoll zu sein. Grehn forderte darüber hinaus auch einen Reichtumsbericht. Mascher wies daraufhin, daß es mittlerweile von Wohlfahrtsverbänden, vielen Kommunen und einigen Bundesländern eine Armutsberichterstattung gebe. Die reiche jedoch nicht aus, sondern die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse bedürfe auch der Überprüfung. Deutlich kritisiert wurde von Grehn auch der Dritte Staatenbericht der Bundesregierung für den Wirtschafts- und Sozialrat der UN (ECOSOC), der beschreibt, inwieweit die Bundesrepublik die Ziele des Sozialpaktes erreicht hat.

    Armutsbericht weiterhin sinnvoll

Als Armutsbegriff hat sich offensichtlich die EU-Definition „weniger als die Hälfte des national durchschnittlich zur Verfügung stehenden Einkommens" sowohl bei den Sozial- wie auch den Entwicklungspolitikern fest etabliert. An diesem Punkt wurde überhaupt nicht mehr diskutiert. Ebenfalls allgemein akzeptiert war die Feststellung von Thiel, daß die Produktivität zur Zeit schneller steige, als die Produktion wachse, und daher in absehbarer Zeit keine nennenswerten Arbeitsplatzeffekte aus der Wirtschaft zu erwarten seien. Arbeitszeitverkürzung ist in dieser Diskussion nach wie vor ein Schlüsselbegriff, doch wurden keine konkreten Konzepte diskutiert.

Es blieb Bernd Ludermann von der Zeitschrift „der überblick" vorbehalten, aufzuzeigen, daß die Globalisierung der Weltmärkte kein so übermächtiges Phänomen ist, wie allgemein angenommen.

[Seite der Druckausg.: 49 ]

    Globalisierung politisch gewollt

Ludermann leugnete nicht die tatsächliche Sogkraft der Globalisierung. Er machte aber darauf aufmerksam, daß die Nationalstaaten in der jüngeren Vergangenheit - vor allem unter konservativen Regierungen - nur allzu oft ihre Interventionsmöglichkeiten ohne Not aus der Hand gegeben hätten. Das gelte auch für Reformen nach innen wie zum Beispiel eine Steuerreform, bei der von fast allen Parteien eine Nettoentlastung ausgerechnet für die nicht von Armut gefährdeten zwei Drittel der Bevölkerung angestrebt werde.

Aus dem weiteren Verlauf der Veranstaltung werden jetzt nur noch außergewöhnliche Einzelaspekte wiedergegeben. Dazu gehörte das Argument von Mascher, daß es - von der Zahl der erreichbaren Arbeitsplätze her gesehen - sicherlich effektiver sei. Beschäftigungsgesellschaften, Ausbildungsplätze und gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeit zu finanzieren, als Abschreibungsobjekte und Subventionszahlungen.

    Beschäftigungsgesellschaften versus Subventionen

Grehn stellte klar, wie schwierig es für ein gefördertes Projekt bei den derzeitigen unflexiblen Bedingungen ist, auf einen Schlag aus der Förderung auszusteigen und privatwirtschaftlich fortzubestehen. Vor allem gebe es meist keine Möglichkeit, ausreichende Kredite von den Banken zu bekommen. Hier müßten - wie bei der Sozialhilfe - flexible Übergänge geschaffen werden.

Das Stichwort ,Kredite' war es wohl, das einen Zuschauer noch einmal die Frage aus dem Titel stellen ließ, ,Was können wir von der Dritten Welt lernen?' Er erwähnte in diesem Zusammenhang die Grameen Bank in Bangla Desh, die auch hierzulande als „Gründerinitiative" Anklang finden könnte. In diesem Zusammenhang wurden auch die wiederentstandenen Tauschringe angesprochen, aber nicht ausführlicher diskutiert. (Grehn hielt sie wegen ihrer Nähe zur Schwarzarbeit unter den gegebenen Umständen nicht für entwicklungsfähig.) ,Von der Dritten Welt lernen', wurde auch als Aufgabe interpretiert, gemeinsam mit dem Süden ein Gegengewicht zum „Manchesterkapitalismus" zu bilden.

    Zweiter Arbeitsmarkt und informeller Sektor

Gero Jentsch (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) stellte klar, daß in die Selbsthilfeinitiativen in den Entwicklungsländern anders an als in Deutschland überhaupt nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen könnten. Dann verwies er darauf, daß sein Ministerium bei der Armutsbekämpfung im Süden weniger danach frage, wie Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden könnten, sondern wie die Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Dies sei zwar nicht ohne weiteres übertragbar, aber doch ein bedenkenswerter Ansatz. Als „zweiten möglichen Anknüpfungspunkt" bezeichnete Jensch die „traditionellen, oft kleineren selbsttragenden sozialen Sicherungssysteme". Mit derartigen Organisationsformen sei es möglich, eine ganze Reihe von persönlichen Risiken solidarisch zu bewältigen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2000

Previous Page TOC Next Page