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TEILDOKUMENT:
Markus C. Zöckler
Lassen Sie mich mit einer provokanten These beginnen: Internationale wirtschaftliche und soziale Rechte haben bislang weder einen spürbaren Einfluß auf die deutsche Rechtsordnung gehabt, noch sind sie für die Gestaltung der deutschen Sozialpolitik jemals von nachweisbarer Bedeutung gewesen. Lediglich zwingende Vorgaben des Europarechts (z.B. Gleichberechtigung der Frauen) oder einige Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation haben einen nachweisbaren Niederschlag in der Gestaltung der deutschen Rechtsordnung gehabt und bilden insofern eine löbliche Ausnahme. Ansonsten lassen sich in der Rechtsprechung deutscher Gerichte nur sporadisch Hinweise auf völkerrechtliche Verträge finden, in denen wirtschaftliche und soziale Rechte begründet werden. Und auch in der Praxis deutscher Verwaltungsbehörden (soweit diese öffentlich dokumentiert ist) spielen internationale wirtschaftliche und soziale Rechte keine nachweisbare Rolle. Gleiches gilt leider auch für Regierungsbegründungen oder die Beratungen der Bundestagsausschüsse zu sozialpolitisch relevanten Gesetzesvorhaben, in denen ich bislang vergeblich nach Hinweisen gesucht habe, daß internationale wirtschaftliche und soziale Rechte in irgendeiner Weise bei der inhaltlichen Ausgestaltung berücksichtigt wurden. Ich wäre jedem dankbar, der mir nachweisen könnte, daß das Gegenteil der Fall ist. Dieser empirische Befund, daß internationale wirtschaftliche und soziale Rechte kaum eine Bedeutung für die deutsche Sozialpolitik gehabt haben, ist insofern erstaunlich, als sich die Bundesrepublik in einer Vielzahl internationaler Verträge zum Schutz und zur Verwirklichung dieser Rechte verpflichtet hat und folglich aktive Schritte zur Einlösung dieser Verpflichtung hätten erwartet werden können. Die Bundesrepublik ist Vertragspartei von etwa 70 ILO-Konventionen. Sie ist speziellen Menschenrechtsverträgen wie z.B. dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau oder dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes beigetreten und hat sich dadurch zu besonderen sozialpolitischen Schutzmaßnahmen verpflichtet. Seit 1973 ist die Bundesrepublik an den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ("Sozialpakt") gebunden. Dieser völkerrechtliche Vertrag enthält die wohl umfassendste Auflistung wirtschaftlicher und sozialer Rechte, die vom Recht auf Arbeit, Wohnung, Nahrung, Gesundheit und Bildung bis zum Recht auf soziale Sicherheit reichen. Ich kann hier auf die Ausführungen von Prof. Simma verweisen. Gerade der Sozialpakt wird in der deutschen Sozialpolitik jedoch gänzlich ignoriert, und dies, obwohl sich die Bundesrepublik nach dessen Art. 2 verpflichtet hat "unter Ausschöpfung aller (ihrer) Möglichkeiten, Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Was sind nun die Gründe dafür, daß die Verpflichtungen des Sozialpaktes keine Resonanz in der Gestaltung der deutschen Sozialpolitik finden? Mangelnde Vertrautheit mit internationalen Menschenrechtsverträgen mag ein Grund sein. Eine wohlmeinende Erklärung bestünde darin, daß das deutsche Rechtssystem in vollem Einklang mit den Forderungen des Sozialpaktes stehe. Gerade dieses sollte jedoch erst einmal bewiesen werden. Ein Blick auf einige aktuelle Probleme in Deutschland - z.B. Arbeitslosigkeit, Armutsdiskussion, Benachteiligung von Familien und insbesondere Alleinerziehenden - läßt jedoch ernsthafte Zweifel aufkommen, ob die Bundesrepublik tatsächlich ihren Pflichten zur Verwirklichung von Rechten auf Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit und zum Schutz von Familien nachgekommen ist. Schwerwiegender sind deshalb fundamentalere rechtsdogmatische Einwände gegen wirtschaftliche und soziale Rechte, die gerade unlängst wieder in der Diskussion der Verfassungskommission zur Einführung sozialer Rechte in das Grundgesetz aufgeworfen wurden. So behaupten die Kritiker, es handele sich bei wirtschaftlichen und sozialen Rechten nicht um eigentliche Rechte, ja es fehle ihnen überhaupt die Rechtsqualität. Sie seien vielmehr allein politische Absichtserklärungen ohne jegliche rechtlich Verpflichtungskraft. Wirtschaftliche und soziale Rechte könnten schon allein deshalb keine echten Rechte sein, da sie nicht justiziabel seien, d.h. von staatlichen Gerichten nicht angewendet werden könnten. Dies liege letztlich auch daran, daß diese Rechte inhaltlich zu unscharf, zu unbestimmt seien. Im Gegensatz zu den klassischen Freiheitsrechten stellten wirtschaftliche und soziale Rechte Forderungen auf Leistungen des Staates dar, deren Erfüllung faktisch nicht einlösbar sei. Kurzum, wirtschaftliche und soziale Rechte werden in Deutschland einfach nicht als vollwertige individuelle Rechte anerkannt. Nun wäre es ein Leichtes, dieser Kritik zu erwidern, daß ähnliche Probleme (inhaltliche Unbestimmtheit, mangelnde Justiziabilität, Anspruch auf staatliche Leistungen) sich auch bei vielen modernen Entwicklungen im Bereich der anerkannten klassischen Freiheitsrechte in ähnlicher Weise stellen. Auch diese sind keineswegs seit ihrer ersten verfassungs- oder völkerrechtlichen Anerkennung ein Muster an definitorischer Klarheit gewesen (Man denke etwa an Begriffe wie "Menschenwürde" oder das Rechtsstaatsprinzip). Auch bei den Freiheitsrechten stoßen Gerichte bei der Beurteilung von Grundrechtskollisionen schnell an die Grenzen rational nachvollziehbarer Abwägungen. Die staatlichen Ausgaben für z.B. das Justizwesen oder Organe der inneren Sicherheit belegen eindrucksvoll, daß auch die Realisierung vieler Freiheitsrechte keineswegs kostenneutral für den Staat ist. Berücksichtigt man schließlich, daß heute auch aus den Freiheitsrechten ein Anspruch auf Gewährung staatlichen Schutzes abgeleitet wird (Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit), so läßt sich eine einseitige und pauschale Kritik an wirtschaftlichen und sozialen Rechten nicht mehr aufrechterhalten. Zur Rehabilitierung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte erscheint jedoch sinnvoller, zunächst einmal die Struktur dieser Rechte, ihre verschiedenen Schutzdimensionen zu erarbeiten, indem wir die rechtlichen Verpflichtungen genauer betrachten, die sich für die Bundesrepublik aus dem Sozialpakt ergeben. Mit dem Beitritt zum Sozialpakt hat sich die Bundesrepublik nämlich nicht nur einem internationalen Kontrollverfahren unterworfen. Sie hat sich vielmehr völkerrechtlich verpflichtet, die in diesem Vertrag garantierten Rechte mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln fortschreitend zu verwirklichen. Je deutlicher die Verpflichtungen aus dem Sozialpakt definiert werden, umso klarere Konturen ergeben sich dann auch für die diesen Pflichten korrespondierenden Rechte. Die Grundpflicht eines jeden Staates, der dem Sozialpakt beigetreten ist besteht nach Art. 2 Abs. 1 darin, "unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Diese allgemeine Pflicht kann im Zusammenhang mit den einzelnen konkreten Rechten des Sozialpaktes in speziellere Primär- und Sekundärpflichten untergliedert werden. Während die Erfüllung der Primärpflichten unmittelbar der Verwirklichung der garantierten Rechte dient, liegt die Funktion von Sekundärpflichten darin, eine wirksame Erfüllung der Primärpflichten durch die staatlichen Organe mittelbar sicherzustellen. Bei den Primärpflichten lassen sich Gleichbehandlungsgebote, Unterlassungs- und Handlungspflichten unterscheiden. Generelle Gleichbehandlungsgebote finden sich in Art. 2 (2) hinsichtlich Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status und für Frauen in Art. 3. Aus der Verknüpfung der Gleichbehandlung mit der Verwirklichung der garantierten Rechte ergibt sich ein Gebot der effektiven Gleichstellung, der gleichen Rechtsverwirklichung, das klar über die rein formale Gleicheit vor dem Gesetz hinausgeht. Den einzelnen materiellen Rechten des Paktes lassen sich unterschiedliche Schutzdimensionen zuordnen. So enthält der Sozialpakt zahlreiche Normen, die Unterlassungspflichten begründen können und ihrem Charakter nach Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe darstellen. Dazu zählt z.B. das klassische Recht zur Gründung und zum Tätigwerden von Gewerkschaften (Art. 8). Aber auch das Rechte auf Wohnung (Art. 11 Abs. 1) kann eine Abwehrdimension enthalten und staatliche Unterlassungspflichten begründen: Wenn staatliche Organe Zwangsevakuierungen durchführen, ohne gleichwertige Ersatzwohnungen bereitzustellen, verletzen sie dadurch eindeutig das Recht auf Wohnung der Evakuierten. Auch das Recht auf Nahrung hat insofern einen eindeutigen Abwehrcharakter, als staatlichen Organen untersagt ist, Menschen von landwirtschaftlichen Nutzungsflächen zu vertreiben, die deren Lebensgrundlage bilden. Für die Verwirklichung wirtschaftlicher und sozialer Rechte in der Bundesrepublik sind jedoch die staatlichen Handlungspflichten bedeutsamer als die Unterlassungspflichten. Bei dieser Art von Primärpflichten möchte ich unterscheiden zwischen den Leistungspflichten i.e.S. (Geld- oder Sachleistungen) einerseits und Organisations- und Gestaltungspflichten andererseits. Leistungspflichten lassen sich fast allen Rechten des Sozialpaktes entnehmen. Bei mittellosen Menschen kann das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9) zu einem Anspruch auf Gewährung von Sozialhilfe zur Sicherung des Existenzminimums erstarken oder das Recht auf Gesundheit (Art. 12) zur Gewährung kostenloser medizinischer Betreuung. Positive Schutzmaßnahmen verlangt Art. 10 des Paktes von den Staaten ausdrücklich für Familien, Mütter, Kinder und Jugendliche. Das Wesen der sozialen Rechte würde jedoch einseitig verkürzt, wenn man sie allein auf den Leistungsaspekt beschränkte, wie dies jedoch leider in der Diskussion um die Anerkennung sozialer Grundrechte in deutschland immer wieder geschieht. Bevor der Staat tatsächlich Geld- oder Sachleistungen erbringt, steht ihm eine breite Palette regulativer Möglichkeiten zur Gestaltung der Sozialordnung zur Verfügung, die ihm nicht unbedingt zusätzliche finanzielle Lasten aufbürden. So sieht Absatz der 3 der Präambel des Sozialpaktes ausdrücklich vor, daß "Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ... genießen kann". Ein paar Beispiele für die Erfüllung derartiger Organisations- und Gestaltungspflichten: Die gesetzlichen Systeme der Kranken- und Unfallversicherung finanzieren sich ausschließlich durch Beiträge, die Renten- und Arbeitslosenversicherung zum wesentlichen Teil. Das Recht auf soziale Sicherheit in Art. 9 des Paktes muß also keineswegs allein durch staatliche Leistungen erfolgen, wenn organisatorische Vorgaben bereits eine Realisierung dieses Rechtes sicherstellen. Durch Normen des Arbeits- und Mieterschutzes und etwa das Mutterschutzgesetz und Schwerbehindertengesetz schafft der Staat die Voraussetzungen zur Verwirklichung sozialer und wirtschaftlicher Rechte wie etwa des Rechts auf Arbeit (Art. 6 und 7), Schutz der Wohnung (Art. 11 I) oder auf Unterstützung für berufstätige Mütter (Art. 10 Nr. 2). Aus der Gesamtkonzeption des Sozialpaktes läßt sich auch eine Hierarchie der Pflichten, bzw. eine gewisse Subsidiaritätsordnung der Verpflichteten herauslesen: Als erstes ist jede Person selbst verpflichtet, sich um die Verwirklichung der eigenen Rechte zu bemühen. Sodann wird eine Solidaritätsverpflichtung der Mitmenschen und der Gemeinschaft angenommen (Präambel Abs. 5). Erst bei unzureichender Verwirklichung des Sozialpaktes durch einzelne und Gesellschaft ergeben sich für den Staat zunächst Organisations- und Gestaltungspflichten und schließlich, als ultima ratio, auch Leistungspflichten. Damit sichergestellt ist, daß staatliche Organe die genannten primären Pflichten (Diskriminierungsverbot, Unterlassungs- und insbesondere Handlungspflichten) erfüllen, ergeben sich aus der Struktur des Paktes notwendig bestimmte Sekundärpflichten. So treffen die Staaten z.B. Observierungspflichten, d.h. staatliche Organe haben sich ein möglichst genaues Bild von der sozialen Lage im eigenen Lande zu verschaffen, um die Notwendigkeit, die tatsächlichen Voraussetzungen und Bedingungen für die weitere Umsetzung des Sozialpaktes zu ermitteln. Die Weigerung der Bundesregierung, einen Bericht zur Armut in Deutschland zu erstellen, der dann die Grundlage für eine gezieltere Politik zum Schutz besonders benachteiligter Bevölkerungsgruppen bilden könnte, stellt in meinen Augen eine klare Verletzung ihrer Beobachtungspflichten dar. Als weitere Sekundärpflichten ergeben sich diverse Planungspflichten, z.B. das Entwerfen von Programmen und Gesetzen, die Schwachstellen im bestehenden Sozialsystem korrigieren sollen. Eng damit verbunden ist die sekundäre Pflicht, sodann die Effektivität der Umsetzung dieser Programme und Gesetze zu kontrollieren. Funktional stellen auch die sich aus dem Sozialpakt ergebenden Berichtspflichten gegenüber dem Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Sekundärpflichten dar, denn sie sollen die Überprüfung der Realisierung von Primärpflichten ermöglichen. Am Ende dieser näheren Betrachtung der Schutzdimensionen der wirtschaftlichen und sozialen Rechte und der diversen staatlichen Verpflichtungen sollte klar sein, daß die Bedeutung des Sozialpaktes für die deutsche Sozialpolitik sich nicht auf Sozialleistungen beschränkt. Die im Pakt zugesprochenen Rechte sind vielmehr so umfangreich, daß sie in alle Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens ausstrahlen. Sie beanspruchen also Anerkennung und positive Umsetzungsschritte in fast allen Bereichen einer äußerst weit verstandenen Konzeption von Sozialpolitik. Die beschriebenen Staatenpflichten hat die Bundesrepublik durch Ratifizierung des Sozialpaktes als völkerrechtliche Verpflichtungen anerkannt. Die Wirkungen des Sozialpaktes für den deutschen Rechtsraum ergeben sich aus der Zustimmung des Bundestages zu diesem völkerrechtlichen Vertrag (Art. 59 Abs. 1 GG). Dieses Zustimmungsgesetz enthält einen allgemeinen Befehl, die Normen des Sozialpaktes innerstaatlich zu vollziehen (Vollzugstheorie). Dabei bewahrt der Sozialpakt seinen Charakter als völkerrechtliche Norm, wird also nicht in ein deutsches Gesetz umgewandelt. Dem Befehl zum Vollzug des Sozialpaktes kommt innerhalb der deutschen Rechtsordnung der Rang eines Bundesgesetzes zu; er genießt daher Vorrang vor Rechtsverordnungen, Satzungen und allen Landesnormen und bindet sowohl Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichte. Die Art und Weise, in der Normen des Sozialpaktes auf den deutschen Rechtsraum einwirken, unterscheidet sich grundlegend je nach dem, ob normenanwendende Organe wie Verwaltungsbehörden und Gerichte oder planende und normsetzende Organe tätig werden. Der Vollzug des Sozialpaktes durch Normanwendung ist für Verwaltungsbehörden und auch Gerichte dort unproblematisch, wo Normen des Sozialpaktes "unmittelbar" anwendbar sind, also keiner weiteren Konkretisierung durch Gesetze oder Verordnungen bedürfen. In diesem Zusammenhang wird in der Bundesrepublik bislang übersehen, daß einige Normen des Sozialpaktes durchaus hinreichend bestimmt sind für eine unmittelbare Anwendung. So hat der Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte klargestellt, daß insbesondere die Diskriminierungsverbote des Paktes unmittelbar anwendabr sind. Wo die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung nicht erfüllt sind, darf der Sozialpakt jedoch keineswegs ohne weiteres ignoriert werden, denn die gesamte deutsche Rechtsordnung ist dem Verfassungsprinzip einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung verpflichtet. Dieser Grundsatz gebietet Verwaltungsbehörden und Gerichten, deutsche Rechtsnormen so auszulegen und anzuwenden, daß sie im Einklang mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik stehen. Wo immer sich Auslegungsspielräume bei der Rechtsanwendung ergeben, sind diese so zu konkretisieren, daß den Forderungen des Sozialpaktes entsprochen wird. Da jedoch relativ wenige Inhalte des Sozialpaktes unmittelbar anwendbar sind, wird für den Vollzug des Sozialpaktes eine weitreichende planerische und gesetzgeberische Tätigkeit der staatlichen Organe notwendig, und zwar gerade zur Erfüllung der beschriebenen Handlungspflichten (d.h. Organisations-, Gestaltungs- und letztlich auch Leistungspflichten). Der Sozialpakt enthält insofern für die deutsche Sozialpolitik rechtlich verbindliche Staatsaufgabennormen, die von den innerstaatlich zuständigen Organen in Programmplanung und Gesetzgebung zu verwirklichen sind. Nun wurde wirtschaftlichen und sozialen Rechten immer wieder vorgerufen, sie seien inhaltlich so unbestimmt, daß sie keine klaren Vorgaben für das Handeln staatlicher Organe bieten können. Aber auch ein anerkanntes Freiheitsrecht wie das auf freie Meinungsäußerung war anfangs inhaltlich keineswegs klar. Erst im Verlauf von über 100 Jahren Verfassungsrechtsprechung und -praxis in den westlichen Demokratien hat dieses Recht nach und nach seine klaren Konturen gewonnen. Auch wenn ein solcher Prozess bei den Rechten des Sozialpaktes noch am Anfang steht, dürfen erste fruchtbare Ansätze zu einer inhaltlichen Konkretisierung des Paktes nicht übersehen werden. Zum einen haben die oft recht allgemein formulierten Rechte des Sozialpaktes in Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation oder anderen spezielleren Menschenrechtsverträgen zum Teil bereits eine inhaltlich konkretere Ausgestaltung gefunden. Der Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der von Prof. Simma bereits vorgestellt worden ist, hat Kommentierungen zu einzelnen Rechten des Paktes gegeben, aus denen sich recht konkrete Verhaltenspflichten der Mitgliedstaaten ableiten lassen. Der General Comment Nr. 4 über das Recht auf eine angemessene Wohnung, beispielsweise, ist ein wertvoller Schritt zur näheren Bestimmung konkreter Staatenpflichten, die sich aus dem allgemein formulierten Recht auf Wohnung (Art. 11) ergeben. Außer den General Comments geben auch schon die Richtlinien zur Abfassung der Staatenberichte für den Ausschuß konkrete Hinweise, auf welche Aspekte die Staaten bei der Realisierung der Rechte des Sozialpaktes besonders zu achten haben. So verlangen diese Richtlinien implizit, daß die Belange besonders benachteiligter Gruppen der Bevölkerung mit Priorität zu berücksichtigten sind. Letztlich ergibt auch die Spruchpraxis des Ausschusses, der mittlerweile am Ende jeder Staatenüberprüfung kritische Anmerkungen zu besonderen Problemen des jeweiligen Landes abgibt, eine ständig wachsende Sammlung von Einzelbeurteilungen, eine Art "Case Law", was die allgemeinen Rechte des Paktes inhaltlich näher bestimmt. Wie bei allen Planungs- und Gesetzgebungsaufgaben haben die staatlichen Organe natürlich auch bei der Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Sozialpakt ein planerisches Ermessen. Der Sozialpakt gibt die zu erreichenden Ziele vor, überläßt aber den Staaten, wie sie ihre Politiken zu deren Verwirklichung inhaltlich gestalten. Staatliche Organe haben neben den Pflichten aus dem Sozialpakt natürlich auch noch andere Aufgaben zu erfüllen, die ebenfalls Ressourcen in Anspruch nehmen. Dies kann jedoch keineswegs als Rechtfertigung dafür dienen, daß der Sozialpakt bislang in der Gestaltung der deutschen Sozialpolitik gänzlich ignoriert worden ist, denn die Grundpflicht des Sozialpaktes besteht darin, "unter Ausschöpfung aller ... Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln,..., die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Dem Sozialpakt läßt sich natürlich nicht ein vollständiges detailliertes Programm zur Lösung aller sozialen und wirtschaftlichen Probleme entnehmen. Ähnlich wie in vielen deutschen Planungsgesetzen enthält der Sozialpakt jedoch zunehmend klarere Zielvorgaben, die bei der Gestaltung der Sozialpolitik berücksichtigt werden müssen. Lassen Sie mich Ihnen zum Abschluß nur zwei Beipiele geben, die veranschaulichen, welche Bedeutung der Sozialpakt für die die deutschen Sozialpolitik haben könnte, wenn mit seinen rechtlichen Verpflichtungen endlich Ernst gemacht würde. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist ein Beispiel dafür, wie die Bundesrepublik die Diskriminierungsverbote des Sozialpaktes verletzt. Nach der bisherigen Regel in § 120 Abs. 2 BSHG wurden an Asylbewerber und ihnen gleichgestellte Ausländer Leistungen im Rahmen des BSHG erbracht. Das AsylbLG schafft eine Ausnahmeregel, nach der die Leistungen nach Umfang und Form zum Zwecke der Abschreckung deutlich unter den Standard des BSHG abgesenkt werden. Während bisher grundsätzlich der notwendige Lebensunterhalt sichergestellt wurde, werden Leistungen nun grundsätzlich auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche (das Existenzminimum) beschränkt. Leistungen werden nun (bei regelmäßiger Unterbringung in Gemeinschaftunterkünften) fast ausschließlich in Form von Sachleistungen erbracht. Schon dies allein würde nach Art. 2 (2) eine unzulässige Diskriminierung auf Grund nationaler Herkunft darstellen. Eine eklatante Verletzung des Diskriminierungsverbotes i.V. mit Art. 12 des Sozialpaktes findet sich bei den Leistungen im Krankheitsfalle. Nach § 4 AsylbLG sind zur "Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände ... die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung ... zu gewähren. Eine Versorgung mit Zahnersatz erfolgt nur, soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist". Nach Art. 12 hätte die Bundesrepublik jedoch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, "die für jedermann im Krankheitsfall den Genuß medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen", und verpflichtet sich zur Verwirklichung des Rechts "eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit". Die Einführung einer Zwei-Klassen-Medizin wird diesen Anforderungen sicherlich nicht gerecht. Die gegenwärtige Situation von Familien mit Kindern und insbesondere von Alleinerziehenden belegt, daß die Bundesregierung versäumt hat, dringend erforderliche Schritte zu unternehmen, um besonderen Benachteiligungen entgegenzuwirken. Jede vierte Familie verfügte 1993 nicht einmal über ein Einkommen, das noch der Steuerpflicht unterliegt, im Osten sogar jede zweite. Die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe abhängig sind, nimmt rasant zu: 1992 jedes neunte Kind. Alleinerziehende, meist Frauen, sind am schwersten betroffen. Kinder sind zu einem unleugbaren Armutsrisiko geworden. Die unzähligen Armutsberichte finden bei Familien mit Kindern und insbesondere Alleinerziehenden eine Kumulation von Notlagen und Benachteiligungen, insbesondere Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildungschancen und unzureichender Wohnraum. Aus der Sicht des Sozialpaktes stellen sie eine besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe dar, der die Staaten besondere Aufmerksamkeit schulden. Eine solche Kumulation von Risiken oder Notlagen ist ein untrügliches Indiz, daß der Staat seine Handlungspflichten aus dem Sozialpakt verletzt hat, wenn er solchen Verarmungsbewegungen tatenlos zuschaut. Die Rechte auf Arbeit, Schutz der Familie und von Kindern und Jugendlichen, auf einen angemessenen Lebensstandard, Wohnung etc. und insbesondere das Gebot der gleichen Rechtsverwirklichung für Frauen werden alle gleichzeitig mißachtet bei Familien und Alleinerziehenden, wenn sich, wie in der Bundesrepublik, über Jahre hinweg eine fortschreitende Verschlechterung der Lebensbedingungen und gar Verarmung manifestiert. Welches Fazit können wir ziehen? Der Sozialpakt enthält bindende rechtliche Verpflichtungen für die Gestaltung der deutschen Sozialpolitik. Einige seiner Normen sind unmittelbar anwendbar vor deutschen Gerichten und Behörden. Darüberhinaus enthält der Sozialpakt verbindliche Zielvorgaben, zu deren Verwirklichung durch eine aktive Sozialpolitik die Bundesrepublik rechtlich verpflichtet ist. Es ist höchste Zeit, daß diese Rechtspflichten Ernst genommen werden. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-bibliothek |