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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 8 (Fortsetzung)]



2 Europas gestaltete Globalisierung


Die EU ist doppelt „globalisiert„. Ihre Wirtschaft ist einmal Teil der globalisierten Weltwirtschaft. Dank ihrer Mitgliedschaft in der WTO und einer Fülle multi- und bilateraler Abkommen ist sie für Handels- und Kapitalströme weitgehend offen. Aber ihre Wirtschaft ist weniger internationalisiert (z.B. gemessen am Anteil des Außenhandels am BSP) als die der Mitgliedstaaten und sie ist ein mächtigerer Verhandlungspartner in der internationalen Wirtschaftsdiplomatie. Daher sehen manche Regierungen und soziale Gruppen in der EU die Union als einen möglichen Schutzschild gegen vermutete negative Wirkungen der Globalisierung auf Wachstum und Verteilung. Zum anderen hat die EU ihre eigene Wirtschaft, also die nationalen Ökonomien der Mitgliedstaaten, in weit höherem Maße integriert und damit „globalisiert„ als es die Weltwirtschaft, selbst die Untergruppe der WTO-Mitglieder, ist. Schon der Gründungsvertrag der EWG von 1957 sah nicht nur einen vollständigen Abbau der Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen, sondern auch die Kontrolle des Wettbewerbs vor. Die übrigen Freizügigkeiten, vor allem auch des Kapitals, waren anfangs noch von zahlreichen Einschränkungen begleitet. Mit der Herstellung des einheitlichen Binnenmarktes (1986-1992) und

[Seite der Druckausg.: 9]

der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Maastrichter Vertrag von 1992 hat sich die Vertiefung der Integration nochmals beschleunigt. Innerhalb Eurolands werden sich ab dem 1.1.2002 weitgehend Marktverhältnisse durchsetzen, die sich von einem nationalen Binnenmarkt kaum noch unterscheiden, auch wenn Sprache, Kultur und nationalspezifische Regulierungen weiterhin für Differenzierungen sorgen werden, die sich auch z.B. in Preisunterschieden für gleiche oder ähnliche Produkte äußern. [Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Europäische Wirtschaft Beiheft A, Wirtschaftsanalysen Nr.7, Juli 2001.]

Vor allem, um den einheitlichen Binnenmarkt für Güter und Dienstleistungen zu schaffen, bedurfte es einer Fülle von Regelungen, die teils durch Harmonisierung unterschiedlicher nationaler Regeln (z.B. in Form von Mindeststandards), teils durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung erreicht wurden. Ein großer Teil des riesigen Bestandes an Gemeinschaftsrecht der EU, der acquis communautaire, besteht aus diesen Regeln für den Binnenmarkt, die im wesentlichen die oben genannten mikroökonomischen Risiken für Konsumenten reduzieren sollen. Dabei ist ein nicht unerheblicher Markt nur in sehr eingeschränkter Weise als Markt organisiert, nämlich der Agrarmarkt. Er unterliegt der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU und damit einem nahezu planwirtschaftlichen Verfahren zur Bestimmung der Preise und Mengen der landwirtschaftlichen Produktion. Neben die produktbezogenen Regeln tritt das gesamte Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbskontrolle der EU, die den Regelungsinteressen der Unternehmen Rechnung trägt, um Verzerrungen zu vermeiden. Aber auch für die Umsetzung der übrigen „Grundfreiheiten„, die Freizügigkeit für Kapital und Arbeit, bedurfte (und bedarf es z.T. noch) umfassender Regeln.

Damit sind der nationalen Wirtschaftspolitik die wichtigsten Instrumente zur Steuerung der Nachfrage und zur diskriminierenden Gestaltung der Angebotsbedingungen zugunsten nationaler Unternehmen genommen. Sie können weder Zölle oder andere Handelshemmnisse, noch den Wechselkurs, noch die staatliche Nachfrage (Fiskalpolitik, Beschaffungspolitik), noch Subventionen, noch viele andere Regulierungen einsetzen. Die entsprechende europäische Politik mag wirkungsvoller sein als die aufgegebenen nationalen Möglichkeiten (insbesondere in der Währungspolitik), aber ihre zwangsläufig europäische Ausrichtung dürfte nicht immer die gerade für einzelne „nationale„ Wirtschaften nötige sein. Die Mitgliedstaaten sind dabei unterschiedlich betroffen, je nach dem, ob sie bisher stärker auf Abwertungen, konzertierte Lohnpolitik oder strukturelle Reformen des Wohlfahrtstaates gesetzt haben, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen. [Einen hervorragenden Überblick bieten Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000; die von ihnen analysierten 18 OECD-Länder decken zwar nicht alle Mitgliedstaaten ab, umfassen aber die wichtigsten strukturellen Alternativen.]
Diese unterschiedlichen nationalen Politikpräferenzen erklären auch partiell die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an der Währungsunion.

Im folgenden soll die „Globalisierung„ Europas vor allem im Hinblick auf die oben (S.2) schon erwähnten zwei Problemstellungen betrachtet werden, die in der weltweiten Globalisierungsdebatte eine besondere Beachtung gefunden haben:

  1. Hält die EU-Integration derzeitige und künftige arme Mitgliedstaaten weiter arm und blockiert sie ihre Entwicklung?

  2. Schadet die EU-Integration besonders den ärmeren Menschen, indem sie ihre Einkommenschancen, die Arbeitnehmerrechte und den Wohlfahrtsstaat untergräbt?

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Diese beiden Dimensionen weisen naturgemäß einen starken Regelungs- und Konfliktlösungsbedarf innerhalb der EU auf, für den sie eine Fülle von meist intergouvernementalen und bürokratischen Verfahren und Institutionen entwickelt hat, deren Legitimität aber zunehmend in Frage gestellt wird – nicht zuletzt, da die Legitimation durch „überzeugenden„ Output in Form erfolgreichen wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs kaum gelungen ist.

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2.1 Der Kohäsionsraum Europa: Aufholprozesse mit Hindernissen

Die EU selbst hat sich das Ziel gesetzt, regionale Einkommensdisparitäten abzubauen (Art. 158-162 EUV). Dieses Ziel impliziert eine Angleichung der nationalen Entwicklungsunterschiede, geht aber darüber sogar hinaus. In der Tat ist es (in) der EU gelungen, die Abstände in den durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Mitgliedstaaten abzubauen, allerdings nur bedingt die zwischen den ärmsten und reichsten Regionen. Auch und gerade innerhalb der ärmeren Länder haben die regionalen Disparitäten weiter zugenommen, wie der zweite Kohäsionsbericht [Vgl. EU-Kommission „Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Zusammenfassung, p.4] der Kommission im Januar 2001 belegte (siehe Tabelle 1). Die Konvergenzerfolge fallen deutlich schwächer aus, wenn man das Einkommen zu Wechselkursen statt (wie in Tabelle 1) zu Kaufkraftparitäten vergleicht. Der ebenfalls für die gute Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten wichtige Aufholerfolg Irlands relativiert sich massiv, wenn man beider Messung vom Bruttoinlandsprodukt zum Bruttosozialprodukt übergeht und wirklich nur das Einkommen der Iren berücksichtigt und die Gewinne der dort tätigen ausländischen Investoren ausklammert (vgl. unten).

Tabelle 1: Einkommensdisparitäten in der EU (Standardabweichung von EU15=100)


EU-15 nach Regionen

EU-15 nach Regionen
ohne neue Bundesländer

EU-15 nach Mitgliedstaaten

EU-15 nach Mitgliedstaaten
ohne neue Bundesländer

EU-15 innerhalb Mitgliedstaaten

EU-15 innerhalb Mitgliedstaaten
ohne neue Bundesländer

1988


26,7


15,9


20,7

1989


26,4


15,3


20,7

1990


26,5


15,4


20,6

1991

29,4

26,4

13,1

15,5

24,5

21,0

1992

28,6

26,5

13,2

15,6

23,8

20,9

1993

27,7

26,3

12,5

14,6

23,4

21,3

1994

27,5

26,5

12,7

14,6

23,0

21,2

1995

28,5

28,1

12,5

14,1

24,5

23,5

1996

28,4

28,1

11,9

13,5

24,7

23,8

1997

28,3

27,9

11,5

13,0

24,8

24,0

1998

28,3

27,8

11,2

12,7

25,0

24,1

Quelle: EU-Kommission „Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Statistischer Anhang, Tabelle A.2, S.20

Die Wachstumsergebnisse der ärmeren, peripheren Regionen ergeben ein uneinheitliches Bild: Irland (seit 1993) und Portugal (seit 1985) wiesen hohe Wachstumsraten auf. Dagegen stagnierten Griechenland, die ehemalige DDR und Süditalien vergleichsweise, obwohl sie zwischen 5 und 50% ihres BSP an Hilfe erhielten. Die neue Peripherie der mittel- und ost-

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europäischen Beitrittsländer weisen nach der Transformationsrezession zwar wieder überwiegend positive Wachstumsraten auf, holen jedoch nur sehr langsam und unstetig auf. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens bzw. dessen Ausbleiben innerhalb der EU.

Vor allem die Aufholerfolge der letzten zehn Jahre scheinen Globalisierungs- und Integrationsbefürworter zu bestätigen. Sie bestätigen auch die (neo-)klassische Wirtschaftstheorie, die einen Konvergenzprozess erwartet, weil das Kapital aus den kapitalreicheren Ländern wegen seines sinkenden Grenzertrages dort in die kapitalärmeren Länder der Peripherie fließt, die niedrigere Löhne mit steigender Produktivität verbinden. Die wachsenden regionalen Disparitäten und die anhaltenden Probleme einiger Regionen sprechen dagegen für eine Agglomerationstheorie, die wachsende Grenzerträge in hochentwickelten Zentren vermutet, während die schwachen Standorte (z.B. ex-DDR, Mezzogiorno, Alentejo) in einem Teufelskreis der Unterentwicklung stecken bleiben. [So die Annahme, die in klassischer Form von Paul Krugman und Anthony Venables in „Integration and the Competitiveness of Peripheral Industry" in Christopher Bliss and Braga de Macedo „Unity with Diversity in the European Economy" Cambridge et al. 1990, S. 56-75 vorgestellt wurde.]
Insgesamt schneiden die – im Weltmaßstab ohnehin schon relativ hoch entwickelten – Länder der europäischen Peripherie besser ab als viele Entwicklungsländer, die in den letzten Jahrzehnten teilweise absolute Verarmungsprozesse durchmachten.

Betrachtet man die Länder und Regionen der europäischen Peripherie im einzelnen [Vgl. Michael Dauderstädt und Lothar Witte (Hg.) „Cohesive Growth in the Enlarging Euroland„, FES Bonn 2001.], so scheint klar, dass Integration und Öffnung an sich weder Wachstum schaffen noch verhindern, sondern es die Interaktion der eigenen Strukturen und Wirtschaftspolitik mit der Außenwirtschaft ist, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Damit ist aber die europäische (bzw. globale) Politik nicht aus der Verantwortung entlassen, da unterschiedliche Integrationsmodelle unterschiedliche Risiken mit sich bringen, auf die im folgenden eingegangen wird. Der Abbau der wichtigsten „wettbewerbsverzerrenden„ Schutzmechanismen und nationalen (oder regionalen) Fördermöglichkeiten ist durch massive europäische Subventionen kaum zu ersetzen. So haben große Kapitaltransfers (typisch in der ex-DDR, aber auch in die übrige europäische Peripherie) eine reale Überbewertung der Währung bzw. Lohnerhöhungen jenseits des Produktivitätsfortschritts begünstigt, dadurch Arbeitsplätze vernichtet und Investoren abgeschreckt. Der Zwangsverzicht auf eine selektive Handels- und Industriepolitik hat ein Entwicklungsmodell wie in Südostasien blockiert und die Wettbewerbschancen einheimischer Produzenten verringert. Die Währungsunion wiederum behindert mit ihrer Fixierung auf Preisstabilität und feste Wechselkurse die notwendigen überdurchschnittlichen nominalen Einkommenssteigerungen in den aufholenden Ländern.

Der Vorteil der EU-Integration liegt für ärmere Länder vor allem im ungehinderten Zugang zu den reichen EU-Märkten und zu zusätzlichem Kapital, teils in Form öffentlicher Transfers und Kredite, teils in Form von ausländischen Direktinvestitionen. Allerdings nutzt Marktzugang ohne wettbewerbsfähiges Angebot nichts und Transfers können – wie im Fall Griechenlands – konsumiert und verschwendet statt produktiv investiert werden. Da das Kapital auch durch geeignete Politiken angelockt werden kann (z.B. Subventionen, Steuervorteile), sind auf EU-Ebene Regelungen zu treffen, die einen „unlauteren„ Wettbewerb verhindern bzw. festlegen, welche Formen von Anreizen akzeptabel sind und welche einen Unterbietungswettlauf oder ein Nullsummenspiel auslösen.

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Die nachholende Entwicklung einer Reihe von erfolgreichen Ländern (z.B. Japan, Korea, Taiwan) belegt, dass ausländische Investitionen keine notwendige Voraussetzung sind. Selbst Polen hatte in der ersten Hälfte der 90er Jahre – im Vergleich etwa zu Ungarn – ein deutlich höheres Wachstum bei geringen Auslandsinvestitionen. Portugal, Spanien und Irland stützten ihr Wachstum dagegen auf viele Investitionen. In dem Maße, wie nicht nur vorhandene Firmen (z.B. bei Privatisierung) aufgekauft wurden, sondern zusätzliche, moderne Produktionskapazität entstand, können ausländische Investoren zum langfristigen Wachstum beitragen, indem sie Technologie, Ausbildung, Management und Marketing mitbringen. Ausländisches Kapital gibt es allerdings nicht umsonst, wie vor allem das Beispiel Irland belegt.

Gerade im Erfolgsfall und bei kleinen Ländern kann der Abfluss von Gewinnen volkswirtschaftlich beachtliche Dimensionen erreichen. Irland, das zu den relativ erfolgreichsten Einwerbern von Auslandsinvestitionen (4,2% des BIP 1987-96 [Vgl. EU Kommission „Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union„, Brüssel 1999, S. 221]) zählt, hat dies nicht nur dank (mit EU-Mitteln finanzierter) guter Infrastruktur, niedriger Löhne und gut ausgebildeter Arbeitskräfte erreicht, sondern auch durch eine niedrige Unternehmens- und Gewinnbesteuerung. Diese Steuervorteile haben multinationale Konzerne nicht nur veranlasst, in Irland zu investieren, sondern dort auch in großem Umfang anderswo entstandene Gewinne buchhalterisch mittels transfer pricing anfallen zu lassen. So ist in Irland die Lohnquote seit 1980 von 77% auf 53% des Volkseinkommens gesunken und das Bruttosozialprodukt (d.h. das Einkommen der Iren) liegt 20% unter dem Bruttoinlandsprodukt, das auch die in Irland entstandenen Gewinne der ausländischen Firmen umfasst, womit Irland in der Pro-Kopf-Einkommensliga der EU von Platz 5 (BIP/Kopf) auf Platz 10 (BSP/Kopf) zurückfällt. [Vgl. Michael Dauderstädt, „Irland, der "keltische Tiger" – Vorbild oder Warnung für ein wachsendes Europa?„ in: ifo Schnelldienst 6-2001]

Die irischen Verhältnisse sind insofern untypisch, als für die EU insgesamt und auch in den meisten größeren Mitgliedstaaten Auslandsinvestitionen einen viel geringeren Stellenwert (gemessen im Anteil am BIP bzw. der gesamten Investitionen) haben. Grenzüberschreitende Investitionen innerhalb der EU machten zwischen 1987 und 1996 unter 1% des BSP aus. [Vgl. EU Kommission „Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union„, Brüssel 1999.]
Betrachtet man die Leistungsbilanzsalden, die den Nettokapitalströmen entsprechen müssen, so liegen sie im langfristigen Durchschnitt meist unter 3% (wenige Länder hatten länger stärkere Überschüsse oder Defizite). Das schließt kurzfristig stärkere Abweichungen nicht aus (z.B. Portugal 2000; siehe Tabelle 2). Typische starke (Im Verhältnis zum eigenen BIP) Kapitalimporteure sind Spanien, Portugal und Griechenland, bei denen die Handelsdefizite gegenüber den EU-Partnern noch deutlicher ausgeprägt sind. Irland nimmt wieder eine Sonderstellung ein: Paradoxerweise war Irland in seiner Hauptwachstumsphase Kapitalexporteur; erst ab 2000 weist es ein geringes Defizit auf.

Tabelle 2: Intra-EU-Handel der EU-Mitgliedstaaten 2000 (in % des BIP)

Land

Exporte in die EU

Importe aus der EU

Intra-EU-Handelssaldo

Leistungsbilanzsaldo

Belgien/Lux.

49,8

44,6

5,2

4,1

Dänemark

16,8

18,5

-1,7

1,2

Deutschland

15,5

13,7

1,8

-0,5

Griechenland

4,4

14,5

-10,1

-2,0

[Seite der Druckausg.: 13]

Spanien

14,2

17,6

-3,4

-2,4

Frankreich

13,7

12,6

1,1

1,6

Irland

49,6

29,4

20,2

-0,5

Italien

11,3

11,4

-0,1

1,0

Niederlande

39,2

25,9

13,3

5,4

Österreich

19,2

23,8

-4,6

-3,5

Portugal

18,1

27,9

-9,8

-9,7

Finnland

18,5

16,5

2

5,7

Schweden

20,4

20,4

0

2,5

Großbritannien

10,4

11,5

-1,1

-1,5

Quelle: Eurostat

Trotzdem tragen ausländische Investitionen oft zur Modernisierung ihrer Wirtswirtschaften bei. Sie nutzen die komparativen Vorteile dieser Ökonomien, in armen Ländern häufig die niedrigen Löhne. Globalisierungskritiker unterstellen oft, dies sei das einzige Motiv für ausländische Investoren und sie hielten ihre Wirtsländer in diesem Niedriglohnstatus durch Drohung der Abwanderung. Tatsächlich sind die Investitionsmotive gemischt und im Erfolgsfall steigt die Produktivität und erlaubt höhere Einkommen. Für die ausländischen Investoren (aber auch für einheimische Unternehmer, die mit Importen konkurrieren oder exportieren) kommt es dabei auf die zu Wechselkursen verglichenen Löhne an. Für die Beschäftigten sind diese niedrigen Löhne oft dadurch akzeptabel, dass ihre Kaufkraft deutlich höher liegt. Dieser Kaufkraftvorteil schmilzt aber in einem Binnenmarkt auf die Dauer in dem Maße ab, wie sich das Gesetz des einheitlichen Preises (Law of one price) durchsetzt, was allerdings relativ langsam geschieht, wie Preisunterschiede auch in seit langem der EU angehörenden Ländern belegen. [Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Europäische Wirtschaft Beiheft A, Wirtschaftsanalysen Nr.7, Juli 2001.]
Die in Kaufkraftparitäten gemessenen Einkommen konvergieren schneller als die in Wechselkursen. Aufwertungen waren in der Vergangenheit für den Löwenanteil der Einkommenskonvergenz zwischen den ärmeren und reicheren Ländern Europas verantwortlich. [Vgl. Annamaria Artner and Andras Inotai „Chances of Closing the Development Gap. A Statistical Approach„ Institute for World Economics Working Papers Nr. 80, Budapest 1997]

Im Euroland sind diese Aufwertungen nicht mehr möglich. Einkommenskonvergenz hängt dann von einem rascheren Anstieg der Löhne in den ärmeren Ländern ab. Das bedeutet höhere Inflation, da auch die Löhne in Branchen mit geringem Produktivitätswachstum (z.B. viele Dienstleistungen, vor allem im öffentlichen Sektor) steigen müssen (Balassa-Samuelson-Effekt) [Vgl. Europäische Zentralbank, Monatsbericht Oktober 1999 „Inflationsunterschied in einer Währungsunion", pp. 39-49, und UN-ECE „Economic Survey of Europe„ 2001, No. 1, pp.227-241.].
Für die aufholenden Länder ist es daher wichtig, dass die Europäische Zentralbank und die EU diese höhere Inflationsrate toleriert. Sie müssen dabei ihre Wirtschaftspolitik so gestalten, dass die höhere Inflation nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Solange sie ihren Wechselkurs noch kontrollieren, ist das durch Kontrolle der Aufwertung bzw. Abwertung möglich. Entsprechende Schritte empfehlen sich bei starken Importanstiegen und Exporteinbrüchen, die ein nicht dauerhaft zu finanzierendes Handelsbilanzdefizit verursachen.

Die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit – sei es durch Abwertung oder Kontrolle der Inflation – wird durch offene Kapitalmärkte erschwert. Gerade die erfolgreicheren ärmeren Länder sind oft Ziel starker Kapitalzuflüsse, die reale Aufwertungen auslösen, die nicht im gleichen Umfang durch Produktivitätsfortschritte gesichert sind. Die gleichen Finanzmärkte reagieren

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dann mit plötzlicher Kapitalflucht, wenn sich pessimistischere (oder realistische) Einschätzungen der Wirtschaftsentwicklung durchsetzen. Innerhalb Eurolands drohen dann aber nicht mehr die von Globalisierungskritikern gefürchteten Abwertungen und IWF-Programme. Stattdessen müssen sich Schuldner (Empfänger der Kapitalzuflüsse) durch Ausgabeneinschränkungen anpassen und die Gläubiger auch mit „normalen„ Konkursen oder Zahlungsverzögerungen rechnen. Portugal könnte das erste Beispiel für eine solche „nationale„ Anpassungskrise im Euroland sein, da es seit seinem Beitritt zur Währungsunion eine massive Schuldenposition aufgebaut hat [Vgl. Abel Mateus „Portugal’s Accession and Convergence Towards the European Union„ in Dauderstädt/Witte, a.a.O., S. 52-65.], die in früheren Zeiten (vor dem EU-Beitritt) zu einer Verschuldungskrise mit IWF-Intervention geführt hätte. Jetzt drohen – partiell nach argentinischem Muster, wenn auch (zunächst) ohne Finanzkrise des Staates - Kollapse der überschuldeten portugiesischen Wirtschaftseinheiten (Banken, Unternehmen, Haushalte). Die Anpassungsmöglichkeiten (z.B. staatliche Hilfen für Banken) sind aber nicht mehr rein national entscheidbar.

Die EU-Politiken haben somit eine zwiespältige Wirkung auf die armen Regionen. Ähnliche Probleme sind auch für die noch ärmeren künftigen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa zu erwarten:

  • Handelspolitik: Der Abbau der Handelschranken im Innern setzt die ärmeren und schwächeren Ökonomien einem verstärkten Wettbewerbsdruck aus. Inwieweit ihre günstigeren Kosten qualitative Standortnachteile ausgleichen können, hängt auch von der Stärke verbleibender Barrieren (Sprache, Kultur, Transportkosten, weiter bestehende regulatorische Unterschiede) ab. [Vgl. Krugman und Venables, a.a.O..] Der gemeinsame Außenzoll, den die ärmeren, später der EG/EU beigetretenen bzw. beitretenden Länder übernehmen müssen, spiegelt die Schutzinteressen (und Wettbewerbsstärken) der Altmitglieder wider. Der vergleichsweise hohe Schutz der Landwirtschaft und sunset industries (Stahl, Textil etc.) könnte den notwendigen Strukturwandel zur Modernisierung der Peripherie bremsen (ein Effekt, der im Kern erwünscht war!) und dort Ressourcen in ohnehin noch viel zu großen perspektivlosen Sektoren binden.

  • Kohäsionspolitik: Die Kohäsionspolitik verfolgt ebenfalls eine Vielfalt von Zielen, die nur indirekt etwas mit dem Ausgleich der Einkommensunterschiede zu tun haben. Meist haben jeweils neu der EG/EU beigetretene Länder(gruppen) neue Förderlinien (z.B. dünn besiedelte Regionen für die skandinavischen Länder) durchgesetzt. Grundsätzlich ist zwischen Nationen lediglich der Nettotransfer bedeutsam, der aber nur einen teil des gesamten Transfers ausmacht, da viele relativ ärmere Regionen in reichen Ländern, d.h. auch Nettobeitragszahlern der EU, ebenfalls von der Förderung profitieren. Grundsätzlich könnte die Kohäsionspolitik jedoch in Verbindung mit klugen nationalen Politiken die Standortattraktivität ärmerer Länder durch bessere Infrastruktur und Bildung erhöhen. Der Fall Irland belegt am besten diese Option, mit EU-Hilfen spürbare Verbesserungen zu erzielen, die es erlaubt haben, als „keltischer Tiger„ interessante Segmente transnationaler Produktions- und Wertschöpfungsketten auf sein Territorium und in seinen Besteuerungsraum zu ziehen.

  • Migrationspolitik: Sieht man den – allerdings nicht unbedeutenden – Risiken des brain drain ab, so könnten die ärmeren Länder von der Freizügigkeit in der EU am
    ehesten profitieren, da dazu keine weiteren Investitionen notwendig sind. Vor allem im grenznahen Raum findet Migration in Form von Pendeln schon statt und trägt zu einem Abschliff der steilen Einkommensbruchkante bei, allerdings potentiell auch durch Senkung der Nominaleinkommen auf der reicheren Seite. Migranten erhöhen zwar nicht das BIP, aber das BSP ihrer Herkunftsländer. Sie entlasten dort den Arbeitsmarkt, be-

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    lasten aber dafür den der Gastländer, wo sie in der Regel am unteren Ende der Lohnpyramide schlecht qualifizierten Einheimischen Konkurrenz machen.

Während die wirklich großen Aufholerfolge der jüngeren Wirtschaftsgeschichte (Westeuropa, Japan, Ostasien) im durch die Bretton-Woods-Ordnung geschützten Rahmen nationaler Akkumulationsregime stattfanden, erlaubt die Globalisierung (und die europäische Integration) nur noch das Aufholen durch Teilnahme am offenen, internationalen Akkumulationsprozess. Innerhalb des integrierten Europa versuchen spezielle Förderpolitiken den Schutz früherer Regime zu ersetzen, um die Chancen erfolgreicher Teilnahme am globalen/europäischen Wachstum zu verbessern.

Aufholendes Wachstum, ein Nullsummenspiel?

Wenn die Armen reicher werden, scheint das zunächst auch für die Reichen besser zu sein. Abgesehen von moralischen, politischen und strategischen Folgen wie ein wahrscheinlicherer Frieden, mehr Stabilität und weniger Migration erhöht sich das Angebot und auch die Nachfrage. Im einzelnen kann es dabei jedoch zu schmerzhaften Anpassungsprozessen kommen, die eine Nullsummenwahrnehmung nahe legen, die auch von vielen Nationalisten und Populisten gepflegt wird.

Um sich am Markt durchzusetzen, müssen die ärmeren Ökonomien ihre Waren und Dienstleistungen billig anbieten, was empfindlichen Konkurrenzdruck auslöst, auch wenn die Nutznießer von den niedrigen Preisen in Gestalt höherer Realeinkommen profitieren. Übergangsweise erscheinen die Währungen dieser Länder unterbewertet zu sein (und sie sollten das auch sein, um den Aufholprozess zu erleichtern).

Nullsummenpessimisten sehen in jedem Exportüberschuss einen Export von Arbeitslosigkeit, die sich im importierenden Land dann zwangsläufig erhöht. Sie befürchten einen allgemeinen Nachfrageeinbruch, weil teuere Arbeit durch billigere ersetzt wird. In der Tat führen die durch internationalen Handel bewirkten Produktivitätssteigerungen zu Unterbeschäftigung, wenn die Nachfrage nicht gleichzeitig ausgeweitet wird. Nicht zuletzt sind internationale Produktionsstrukturen pfadabhängig, d.h. etablierte Zonen wettbewerbsfähiger Produktion bleiben weiter stark, da sie Haushaltseinnahmen erzeugen, die auch die Produktion komplementärer öffentlicher Güter (Infrastruktur, Forschung, Bildung, Sicherheit, etc.) ermöglichen, die wiederum die Wettbewerbsfähigkeit stärken und erhalten.

Positivsummenoptimisten weisen darauf hin, dass die Handelsbilanz an sich keine Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau hat, da sie nur ein Ungleichgewicht von Sparen und Investitionen ausdrückt. Investitionen gehen an den Ort mit der höchsten Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, die aber mit wachsendem Zustrom sinkt, wodurch es zu einem automatischen Ausgleich kommt (also kein Agglomerationsvorteil!). Die internationale Arbeitsteilung nutzt allen Beteiligten und die scheinbare Unterbietung durch niedrige Löhne ist ein vorübergehendes Phänomen, das sich im Laufe des Integrationsprozesses auflöst, wenn auch in den ärmeren Ländern das Arbeitsangebot ausgeschöpft wird und die Produktivität steigt .

Die Antwort auf die erste Frage lautet also: Die Globalisierung bzw. die EU-Integration erlaubt durchaus die Entwicklung der armen Länder, ja sie unterstützt sie mit einer Reihe von Politiken. Im Ergebnis kann das allerdings ganz anders aussehen, nicht zuletzt, weil die armen Länder die Chancen nicht wahrnehmen, den ebenfalls durch die Integration ausgelösten Risiken jedoch erliegen. Einige EU-Politiken weisen deutlich

[Seite der Druckausg.: 16]

mehr Risiken als Chancen auf und müssten umgestaltet werden, wenn das Ziel der aufholenden Entwicklung und Kohäsion Priorität haben soll.

Nur in Ausnahmefällen haben es arme Länder und Regionen in der EU geschafft, ihren Einkommensrückstand voll zu überwinden. Das irische Beispiel mit seinem außergewöhnlichen Erfolg in den 1990er Jahren belegt zwar diese Möglichkeit, legt aber auch die Befürchtung nahe, dass sie nur auf Kosten anderer Mitgliedstaaten und um den Preis wachsender Einkommensdisparitäten im aufholenden Land zu realisieren ist. Gerade in den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas mit ihren egalitären Traditionen und Erwartungen und sensiblen nationalen Befindlichkeiten drohen hier Konflikte.

Für die Demokratisierung der Integration schließlich impliziert dieser Befund, dass ärmere EU-Länder (nach einer big bang - Erweiterung 2004 eventuell die Mehrheit) besondere Interessen an der Gestaltung der gemeinsamen Politiken einbringen sollten und werden. Sie betreffen nicht nur die unmittelbar wirksamen redistributiven Politiken der EU (Struktur-, Regional- und Kohäsionsfonds), sondern auch die Währungspolitik, die Geldpolitik und die Wettbewerbspolitik. Angesichts verschärfter Einkommensdisparitäten erhält die Frage der Einkommensverteilung und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Korrekturmöglichkeiten, der der folgende Abschnitt gewidmet ist, besondere Bedeutung.

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2.2 Der europäische Sozialraum: ein hoher Preis für wenig Arbeit

Europas Leistungen in punkto Beschäftigung und Verteilung haben sich mit wachsender Integration keineswegs verbessert, wie die folgende Tabelle 3 zeigt. Inwieweit die Integration dafür verantwortlich ist oder ob durch sie Schlimmeres verhindert wurde, kann wahrscheinlich weder theoretisch zweifelsfrei geklärt und erst recht nicht empirisch belegt werden. Aber einige mögliche Kausalketten lassen sich aufweisen.

Tabelle 3: Beschäftigung und Verteilung in Europa 1960-2001

Jahr

1960

1961-70

1971-80

1981-90

1991-2000

2001

Lohnquote

72,5

69,8

70,0

68,7

67,0

66,2

Arbeitslosigkeit

2,3

2,2

4,0

9,0

9,9

7,7

Quelle: Eurostat

Die Interessen der sozial Schwachen in Europa und vor allem in den relativ reicheren Teilen der EU werden – zumindest potentiell – durch folgende Integrationsprozesse betroffen:

  • Handel: Der Freihandel innerhalb der (demnächst um Niedriglohnländer erweiterten) Union, der Abbau fast aller Handelsbarrieren gegenüber vielen ärmeren assoziierten Ländern und die Handelsliberalisierung in der WTO haben den Markt der reicheren EU für Produkte geöffnet, die dank niedriger Löhne (oder anderer Arbeitskosten einschließlich der durch Arbeitsschutz- und Arbeitszeitbestimmungen, Mitbestimmungsrechte etc. bedingten Kosten) besonders mit jenen eigenen Produktionen konkurrieren, die relativ viel und weniger qualifizierte Arbeit benutzen. Im Ergebnis dürfte die Nachfrage nach dieser Arbeit in der EU sinken. Sinken ihre Kosten (vor allem Lohn) nicht ebenfalls, so steigt die Arbeitslosigkeit.

  • Kapitalströme: Kapitalbewegungen, vor allem in Form von Auslandsinvestitionen und damit verbundenen Produktionsverlagerungen, die durch ähnliche Kostengründe motiviert sind, wirken in die gleiche Richtung. Jedoch sind diese grenzüberschreitenden Investitionen für die meisten Länder relativ unbedeutend (siehe oben Tabelle 2) und umfassen einen hohen Anteil von anders motivierten Investitionen (z.B. Markterschließung, Fusionen, Übernahmen).

    [Seite der Druckausg.: 17]

  • Migration: Einwanderung aus Billiglohnländern hätte ebenfalls einen ähnlichen Effekt, indem sie die einheimischen, weniger qualifizierten Arbeitskräfte der Konkurrenz durch die Migranten aussetzt. Offiziell ist diese Einwanderung aber stark reglementiert und eingeschränkt, was allerdings eine große Zahl illegaler Einwanderer nicht ausschließt. Legale Einwanderung (im Gegensatz zu Pendlern oder illegalen Migranten) werden mittelfristig ähnlich hohe Reproduktionskosten haben und daher ähnlich hohe Löhne fordern. Grundsätzlich sind EU-interne Migrationsbewegungen relativ schwach ausgeprägt. Von insgesamt 8,2 Millionen ausländischen Erwerbspersonen in der EU kamen gerade 2,9 Millionen aus der EU selbst. [Vgl. Heinz Werner „Wirtschaftliche Integration und Arbeitskräftewanderungen in der EU" in: Aus Politik und Zeitgeschichte B8/2001 S.13.]
    Das ist bei einer Bevölkerung von 377 Millionen kein allzu großer Anteil. Hinzu kommt eine mögliche Sozialmigration, die nicht durch Aussicht auf Beschäftigung, sondern auf Sozialhilfeleistungen motiviert ist. Sie belastet öffentliche Haushalte und schränkt deren Leistungsfähigkeit für die eigenen Bürger ein.

  • · Steuerkonkurrenz: Alle drei wesentlichen Steuerquellen (Haushalte, Unternehmen, Güter und Dienstleistungen) sind – wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß – grenzüberschreitend mobil. Sie neigen naturgemäß dazu, sich an den Ort der niedrigsten Besteuerung zu bewegen, wenn dem keine die Steuerersparnis übersteigenden Kosten entgegenstehen. Sehen sich Staaten daher zur Steuersenkung gezwungen bzw. verlieren die stärker besteuernden Länder ihre „Steuersubjekte„, so verringert sich damit der Spielraum für staatliche Umverteilung.


Tabelle 4: Struktur der Staatseinnahmen (2000; in % des BIP)

Land

Laufende Staats-einnahmen

Indirekte Steuern

Direkte
Steuern

Sozial-
versicherungs-
beiträge

Übrige
laufende
Einnahmen

Belgien

49,0

13,0

17,5

15,9

2,7

Dänemark

56,2

17,3

29,6

3,5

5,8

Deutschland

45,8

12,3

12,0

18,5

3,0

Griechenland

41,1

14,8

8,7

13,8

4,1

Spanien

38,8

11,9

10,3

13,1

3,5

Frankreich

48,9

15,5

11,9

18,4

3,7

Irland

34,7

13,9

13,3

5,7

2,5

Italien

45,4

15,3

14,6

12,6

3,2

Luxemburg

45,3

13,3

16,4

11,5

4,9

Niederlande

43,4

12,2

11,8

16,9

4,7

Österreich

47,6

15,4

12,7

16,9

3,4

Portugal

44,3

16,0

10,8

12,6

4,5

Finnland

50,9

14,0

18,8

13,0

5,7

Schweden

57,5

14,8

21,3

16,6

5,6

Großbritannien

39,2

13,7

16,2

7,5

2,0

EU-15

44,6

13,8

13,8

14,4

3,3

Quelle: Eurostat

  • Haushalte bzw. Einkommensbezieher sind am wenigsten mobil. Nur wenige Reiche und auf internationalen Märkten operierende Selbständige können ohne größere Nachteile ihren Wohnsitz und damit ihren Steuerort frei wählen. Die direkte Besteuerung von Einkommen aus Arbeit ist daher keinem allzu großen Wettbewerb ausgesetzt und kann den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Die Besteuerung von Einkommen aus Vermö-

[Seite der Druckausg.: 18]

    gen, vor allem Zinsen, ist problematischer, da der Steuergegenstand häufig mobil ist. Damit stellt sich das Problem der Kontrolle und Steuergerechtigkeit, das auch nur teilweise auf europäischer Ebene zu lösen ist. Immobiles Vermögen ließe sich dagegen relativ leicht besteuern.
    Unternehmen sind kurzfristig ebenfalls wenig mobil, können aber eventuell mittel- bis langfristig ihren Standort verlagern, um einer hohen Besteuerung zu entgehen. Allerdings sind die Gewinne mobiler als die Unternehmen. Sie können - z.B. durch transfer pricing – innerhalb eines multinationalen Unternehmens an den Ort der günstigsten Besteuerung verlagert werden..
    Umsatz- und Verbrauchssteuern belasten den Konsum. Soweit Waren und Dienstleistungen ex- und importiert werden, waren schon seit Gründung der EWG vertragliche Vorkehrungen zu treffen, um den unterschiedlichen Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen Rechnung zu tragen. Wie die folgende Tabelle 4 zeigt, sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den indirekten Steuern auch relativ am geringsten. Sie lagen 2000 zwischen 11,9% des BIP in Spanien und 17,3% in Dänemark. Die großen Unterschiede bei den Einnahmen (zwischen 34,7% des BIP in Irland und 57,5% in Schweden) resultieren daher überwiegend aus Unterschieden bei den direkten Steuern und Sozialabgabesätzen.

Trotzdem benutzen wichtige Akteure wie Arbeitgeber oder Politiker den Verweis auf angebliche außenwirtschaftliche Zwänge, um bestimmte Verteilungsstrukturen (z.B. niedrigere Löhne oder andere Steuersätze und- gegenstände) oder Regeln wie etwa bzgl. der Gestaltung der industriellen Beziehungen (Streikrecht, Mitbestimmung etc.) durchzusetzen. Spiegelbildlich sehen sich dann die sozial Schwächeren, die Arbeitnehmer und ihre politischen Vertreter als Opfer der Integration. De facto sind die hausgemachten Strukturen und Politiken bedeutsamer. Das am ehesten mit der Globalisierung verbundene Nachlassen der Nachfrage nach wenig qualifizierter Arbeit ist in hohem Maße auch durch technologische und betriebsorganisatorische Veränderungen bedingt, die aber letztlich nur einen anderen Weg zur Senkung der Lohnstückkosten darstellen. Gravierender wirkt sich das unterschiedliche Beschäftigungswachstum in den nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Sektoren (Dienstleistungen) aus, das stärker durch unterschiedliche Steuersysteme und Sozialpolitiken bedingt ist. [Vgl. Fritz W. Scharpf „Economic Changes, Vulnerabilities, and Institutional Capabilities„ in: Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000, Vol. 1 „From Vulnerability to Competitiveness", S.21-124. ]

Die EU hat seit ihrer Gründung versucht, mögliche negative soziale Wirkungen der Integration durch Ansätze europäischer Sozialpolitik zu begrenzen. Der Umsetzung der im Vertragstext verankerten Ziele („wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt„, „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen„) dienten die Vorschriften des sozialpolitischen Kapitels des EWG-Vertrags (Art. 117-128 EWGV), insbesondere der dort eingerichtete Europäische Sozialfonds, sowie als beratendes Organ der Wirtschafts- und Sozialausschuss. Die Ausgaben für den Sozialfonds bildeten aber nur einen bescheidenen Teil des Haushalts der EU. Die Masse des Unionsrechts, des acquis communautaire, dient der Fundierung des Binnenmarktes. Die sozialen Folgen bleiben den Mitgliedstaaten und ihren Gebietskörperschaften überlassen, die sich - vor allem in der Währungsunion - eher in einer Kostensenkungskonkurrenz mit den anderen Standorten fühlen. Großbritannien akzeptierte die Sozialcharta erst nach langem Zögern nach der Wahlniederlage der Konservativen. Sie legt Mindeststandards fest, die in den meisten Mitgliedstaaten von nationalen Regeln übertroffen werden. In der Beschäftigungspolitik nahm die Rolle der EU erst mit dem Vertrag von Amsterdam deutlich zu.

[Seite der Druckausg.: 19]

Diese zwei wichtigen Bereiche, Beschäftigung (bzw. Arbeitslosigkeit) und Sozialpolitik, seien näher untersucht, da sie den Wohlstand gerade der sozial Schwächeren beeinflussen. Beide Bereiche sind auch nicht unabhängig voneinander, da hohe Arbeitslosigkeit die Sozialhaushalte belastet und eine falsch konzipierte Sozialpolitik eventuell der Arbeitslosigkeit Vorschub leistet.

2.2.1 Das Globalisierungsdilemma: Beschäftigung oder Einkommen

Die Alternative zwischen Einkommen und Beschäftigung ist eine strategische Variable bei der Steuerung der sozialen Entwicklung und der Reaktion auf außenwirtschaftliche Anpassungszwänge. Beschäftigung ist relativ leicht zu schaffen, wenn man die potentiellen Arbeitnehmer dazu bewegen kann, ein niedriges Einkommen zu akzeptieren. Will man jedoch gleichzeitig auch sozialen Ausgleich, so verändern sich die Optionen. Die schmerzloseste Lösung ist, die Produktivität der Arbeitslosen durch Bildung so zu steigern, dass sie für die Arbeitgeber auch bei höheren Löhnen attraktiv sind. Eine andere Alternative ist der schwedische Weg der Beschäftigung im staatlichen Sektor der sozialen Dienstleistungen, wo die Produktivität weniger entscheidend ist als die gezielte Sozialisierung der Nachfrage. Bei einer großen Anzahl von Fällen, wo dies nicht möglich ist, könnte man die Lage auch der zu einem (niedrigen) Markteinkommen Beschäftigten verbessern, indem man ihre Nettoeinkommen durch steuerliche Umverteilung oder Entlastung bei den Sozialabgaben (Kombilohn, negative Einkommenssteuer) oder durch Zugang zu Kapitaleinkommen (Vermögensbildung der Arbeitnehmer) aufstockt. Die oben betrachteten Integrationsmechanismen unterwerfen diese Optionen unterschiedlichen Beschränkungen und Risiken.

Tabelle 5: Produktivität, Arbeiteinsatz und Einkommen in Europa im Vergleich

(OECD-Durchschnitt =100)

Land

Stunden-
produktivität

Arbeits-
volumen

Arbeits-
losigkeit

Partizipations-
rate

Alters-
struktur

Pro-Kopf-
einkommen

Belgien

128

-5

-3

-19

-1

101

Dänemark

92

0

1

9

1

103

Deutschland

105

-5

-3

-4

2

96

Finnland

93

0

-7

2

0

88

Frankreich

123

-9

1

-6

-9

97

Griechenland

75

-4

-2

-11

1

58

Irland

108

5

-4

-12

-3

95

Italien

106

-11

-5

-1

2

91

Niederlande

121

-26

2

-4

2

96

Österreich

102

-4

3

-2

1

100

Portugal

56

2

0

1

1

60

Spanien

84

13

-14

-13

2

71

EU

103

-5

-4

-4

0

90

USA

120

-1

3

9

-2

128

Japan

82

10

4

6

4

106

Quelle: Bert van Ark und Robert H. McGuckin „International comparisons of labor productivity and per capita income„ in Monthly Labor Review, July 1999, S.36
Bemerkung: Summe der Spalten 2 bis 6 ergibt Spalte 7, d.h. das Einkommen erhöht sich bzw. verringert sich gegenüber der Stundenproduktivität (immer relativ zum OECD-Durchschnitt) je nach Arbeitseinsatz der Volkswirtschaft.

In der Beschäftigungspolitik stehen strukturell sehr unterschiedliche Optionen zur Wahl, wobei ein Land einen einmal historisch eingeschlagenen Weg oft nur schwer verlassen kann. So können Produktivitätszuwächse in Steigerungen teils des Prokopfeinkommens, teils der bezahlten

[Seite der Druckausg.: 20]

Nicht-Arbeit bzw. Freizeit umgesetzt werden, wobei sich dahinter wiederum eine kürzere Jahresarbeitszeit der Beschäftigten, höhere Arbeitslosigkeit, eine niedrigere Erwerbsquote oder eine andere Altersstruktur (hoher Anteil der Unter-15- und Über-65-jährigen) verbergen kann. Bietet man mehr Menschen die Chance zu bezahlter Freizeit in einer der genannten Formen, so sinkt das Nettoeinkommen der Beschäftigten, die durch Steuern und/oder Sozialabgaben die nicht arbeitenden Mitbürger alimentieren. Andererseits sinkt damit auch das Arbeitsangebot, die Marktmacht der Arbeitnehmer steigt und lässt höhere Löhne zu. Hochlohnpolitiken fördern das Produktivitätswachstum, an dem dann aber vorzugsweise die Beschäftigten partizipieren. Gibt es nicht genug Hochlohnarbeitsplätze, so bleibt die Erwerbsquote relativ niedrig und/oder die Arbeitslosigkeit hoch.

Die europäische Wirtschaft war lange nicht ausreichend in der Lage, den arbeitsfähigen Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht für Markteinkommen tätig sind (Arbeitslose, aber auch etwa Hausfrauen), Arbeitsplätze mit einem attraktiven Einkommen zu bieten, das sie für die Aufgabe ihres Sozialeinkommens oder der „Freizeit„ hinreichend entschädigt hätte. Dabei ist die vollständige Ausschöpfung dieses Potentials nicht unbedingt wünschenswert, wenn dadurch gesellschaftlich wichtige, aber unbezahlte Reproduktionstätigkeiten reduziert werden. Hier unterscheiden sich die europäischen Wohlfahrtsgesellschaften. Während „kontinentale„ Länder mehr auf innerfamiliäre Unterstützung setzten, haben vor allem die skandinavischen auf staatliche Dienstleistungen gesetzt. Dienstleistungen sind derjenige Sektor, der die größten Beschäftigungspotentiale bietet, dessen Wachstum aber stark von steuerlichen, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Regelungen abhängt. [Vgl. Göran Esping-Andersen „The Three Worlds of Welfare Capitalism„ Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.]

Beschäftigungskonkurrenz im Euroland

Da die Arbeit weniger mobil ist, kann man ihre Faktorentlohnung (im Gegensatz zum Kapitalzins) ohne allzu großes Risiko der Abwanderung senken, um die Nachfrage nach Arbeit zu steigern. Allerdings werden dann manche Arbeitskräfte versuchen, sich andere Einkommensquellen zu erschließen (z.B. Sozialleistungen). Am längsten bleiben wenig produktive Arbeitskräfte unbeschäftigt, da ihre Grenzproduktivität unter ihren Lohnerwartungen liegt bzw. die Arbeitgeber den angebotenen Lohn nicht so senken (dürfen, wollen, können, sollen), dass er unter deren Produktivität läge.

Solange in fast allen EU-Ländern Arbeitslosigkeit besteht, droht ein Unterbietungswettlauf, der versucht, Beschäftigung im eigenen Land durch Lohnsenkung zu schaffen. Dies wurde in der Vergangenheit durch competitive disinflation [Vgl. David P. Calleo „Rethinking Europe’s Future" Princeton und Oxford 2001, S.154-175, sowie dort zitiert Jean-Paul Fitoussi „Competitive Disinflation: The Mark and Budgetary Policy in Europe" Oxford 1993; ähnlich auch Scharpf/Schmidt a.a.O..] (niedrigere Preissteigerungen als die Konkurrenten) versucht. Allerdings dürfen die niedrigen Löhne nicht lediglich eine ähnlich niedrige Produktivität widerspiegeln. Ein Weg wäre, durch diese niedrigen Löhne Investoren anzulocken; die zweite Möglichkeit besteht darin, durch die so entstehenden Kostenvorteile Marktanteile auf Exportmärkten zu gewinnen. Die im Erfolgsfall drohende nominale Aufwertung käme in der Währungsunion nicht zustande. Real käme sie in Form von Lohn-, Kosten- und Preissteigerungen erst dann zum Tragen, wenn das vorhandene Arbeitsangebot ausgeschöpft wäre.

Ein beachtlicher Teil der Einkommensunterschiede zwischen EU-Ländern lässt sich durch die unterschiedliche Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials erklären, die ihrer-

[Seite der Druckausg.: 21]

seits wieder von den Steuer- und Sozialsystemen abhängt. So reduziert der hohe Teilzeitarbeitanteil bzw. die geringere Jahresarbeitszeit die Produktivität pro Arbeitnehmer vor allem in den Niederlanden, Italien und Deutschland, während in Spanien der umgekehrte Effekt eintritt. Hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Partizipationsraten senken das Prokopfeinkommen überdurchschnittlich in Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland und Spanien, während Dänemark hier seine niedrigere Produktivität ausgleichen kann. Theoretisch sollte mit steigendem Arbeitseinsatz die Produktivität (und damit letztlich die Einkommen) sinkt. Dagegen spricht aber die Erfahrung der USA. Obwohl die USA weniger Arbeitslose und eine höhere Partizipationsrate haben, liegt die amerikanische Stundenproduktivität 20% über dem OECD-Durchschnitt. Japan dagegen erreicht ein relativ hohes Prokopfeinkommen trotz niedriger Stundenproduktivität durch lange Arbeitszeiten, niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Partizipationsrate. Die europäischen Arbeiter sind zwar produktiver als die Japaner, arbeiten aber weniger. Dadurch liegt das Prokopfeinkommen 10% unter dem OECD-Durchschnitt (siehe Tabelle 5). [Vgl. Bert van Ark und Robert H. McGuckin „International comparisons of labor productivity and per capita income„ in Monthly Labor Review , July 1999, S.33-41]

2.2.2 Wohlfahrtsstaaten im Wettbewerb

Die sozialen Sicherungssysteme in Europa unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP steigt mit dem Prokopfeinkommen. Diese Korrelation ist für die Gesamtausgaben relativ eng, obwohl sie für einzelne Ausgabenkomponenten nicht nachzuweisen ist.

Tabelle 6: Armut, Mindesteinkommensregelungen und Sozialausgaben in der EU



Land

Armut
(% der Bevölkerung mit einem Einkommen von unter 50% des nationalen Durchschnittseinkommens)
1996

Mindesteinkommen in % des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens

Sozialausgaben in %
des Bruttoinlandsproduktes
1997

Belgien

13,6

30,9

28,5

Dänemark

6,9

43,7

31,4

Deutschland

13,7

14,6

29,9

Finnland

8,0

20,7/21,7

29,9

Frankreich

14,1

19,3

30,8

Griechenland

20,1

k.A.

23,6

Großbritannien

19,9

20,7

26,8

Irland

20,5

29,9

17,5

Italien

18,2

k.A.

25,9

Luxemburg

12,9

29,8

24,8

Niederlande

11,8

38,7

30,3

Österreich

10,4

20,1

28,8

Portugal

22,7

15,4

22,5

Schweden

k.A.

24,7

33,7

Spanien

18,0

20,8-30,5

21,4

Quelle: Lydia Kocar „Armut in Europa. Eine Einführung„ in: Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften in Osnabrück (Hg.) „Forum für soziale Gerechtigkeit in Europa„ (KooperationsScripte 1), Osnabrück 2001, Pierre Guibentif/Denis Bouget: Mindesteinkommen in der Europäischen Union – ein sozialpolitischer Vergleich, Lissabon 1997; Göran Therborn: Die Gesellschaften Europas 1945-2000, ein sozialpolitischer Vergleich, Frankfurt a.M. 2000,

[Seite der Druckausg.: 22]

Da Sozialausgaben die Wettbewerbsfähigkeit belasten können, wurde zur Vermeidung eines Unterbietungswettlaufs vorgeschlagen, den EU-Mitgliedsstaaten einen Korridor (Busch [Vgl. Klaus Busch „Das Korridormodell: ein Konzept zur Weiterentwicklung der EU-Sozialpolitik„ in Internationale Politik und Gesellschaft 2/98, S.147-156.]) vorzugeben, indem sich die Sozialausgaben bewegen sollten, oder eine Untergrenze (Scharpf [Vgl. Fritz W. Scharpf „Governing in Europe: Effective and Democratic?„ Oxford 1999]).
Korridor und Untergrenze würden mit dem BIP ansteigen, womit ärmere Länder vor Wettbewerbsnachteilen geschützt werden, während den reicheren höheren Solidaritätspflichten nahegelegt werden. Zurecht werden Länder mit geringeren sozialen Problemen betonen, dass die geringen Ausgaben diesem Zustand entsprechen. Es ist kaum zu fordern, dass ein Land mit wenig Alten, Armen und Arbeitslosen ebensoviel ausgibt wie ein Land mit vielen.

Das Niveau der Sozialausgaben ist dabei weniger wichtig als die Art ihrer Finanzierung und die Verwendung. So ist das Niveau nicht mit dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit korreliert - wie von liberalen Kritikern des Wohlfahrtsstaates gern unterstellt wird. Die Finanzierung durch einkommensbezogene Abgaben (wie in Deutschland) erhöht jedoch die Arbeitskosten, was vor allem die Nachfrage nach gering entlohnter und wenig produktiver Arbeit im Dienstleistungssektor verringert. Umgekehrt schaffen steuerfinanzierte öffentliche Sozialdienstleistungen Arbeitsplätze (z.B. in Skandinavien).

Wohlfahrtsstaaten unter Druck – aber wodurch? Beispiel: Renten

Entscheidet sich ein Land, das Rentenalter zu senken (z.B. um bei Arbeitslosigkeit das Arbeitsangebot zu verringern), so müssen die noch aktiven Einkommensbezieher, insbesondere die Lohnabhängigen, größere Teile ihres Einkommens abgeben oder sparen. Dabei ist es weitgehend unerheblich, ob die Senkung des Rentenalters de jure (für alle) oder de facto (durch steigende Nutzung von Frühverrentungsmöglichkeiten) ausgelöst wird. Unerheblich ist auch, ob die Renten durch Umlage oder Kapitaldeckung finanziert werden. Denn auch ein Kapitaldeckungssystem erfordert höhere Sparleistungen bzw. Konsumeinschränkungen der aktiven Bevölkerung, die dann allerdings durch Vermögenszuwächse entschädigt wird.

Weigern sich z.B. Lohnempfänger, diese Einschränkungen zu akzeptieren, und versuchen sie ihre Nettolöhne zu verteidigen, so können bei gleich bleibender Produktivität folgende Konsequenzen eintreten: Auch in einer geschlossenen Volkswirtschaft steigen die Preise und real sinken die Löhne wieder. In einer offenen Volkswirtschaft wäre die höhere Inflation durch Abwertung zu kompensieren, wodurch sich die Kosten je nach ihrer Beteiligung am Außenhandel anders zwischen Produzenten verschiedener Branchen und Konsumenten verteilen. Im EU-Binnenmarkt sind Preissteigerungen gegen die Konkurrenz im Euroland nicht durchzusetzen; die Unternehmen müssen sich auf die zu den höheren Löhnen noch wettbewerbsfähige Produktion beschränken - mit der Folge von Krisen in arbeitsintensiven Branchen und Entlassungen. In diesem Fall droht bei den Beschäftigten die Wahrnehmung, dass die internationale Konkurrenz („Globalisierung„ bzw. „der Euro„) ihnen wahlweise entweder ihre Alterssicherung oder ihr Einkommen oder ihre Beschäftigung untergräbt.

In der Alterssicherung ist das Grundproblem zu lösen, dass ohne Änderung des Renteneintrittsalters in Zukunft weniger Aktive die Güter und Dienstleistungen produzieren müssen, die immer mehr Senioren konsumieren. Ob die Finanzierung des Altenkonsums im Umlageverfahren oder durch Ansparen von Kapital geschieht, ändert nur etwas an der Befindlichkeit derer, die auf Konsum verzichten müssen. Im ersten Fall tun sie es als Beitragzahler gegen das institutionelle Versprechen späterer Renteneinkünfte, im zweiten als Sparer gegen das marktvermittelte Versprechen späterer Kapitalerträge. Im Euroland ist das zweite Versprechen aber nicht

[Seite der Druckausg.: 23]

mehr national eingebettet, da die Kapitalmärkte liberalisiert sind. Eine echte Alternative, die keine gesellschaftlichen Versprechen unterstellen, wäre nur das höhere Renteneintrittsalter. Es steigert aber das potentielle Arbeitsvolumen, das dann auch zu beschäftigen wäre.

In den Bereichen Bildung und Gesundheit geht es um öffentliche Dienste, die in den meisten EU-Ländern zum großen Teil über Steuern oder Krankenversicherungen finanziert werden. Ihr Anteil am Volkseinkommen (oder besser an den Volksausgaben) steigt zwangsläufig, da die Produktivität in diesen beiden Dienstleistungsbranchen langsamer steigt als in der Landwirtschaft oder Industrie, die Einkommen aber relativ im Gleichschritt mitwachsen, und da die Nachfrage nach diesen Leistungen mit der allgemeinen Wohlstandsentwicklung eher zunimmt. Allerdings führt die Form der Finanzierung im Vergleich zu einer marktmäßigen Allokation zu Effizienzverlusten, da die Anbieter kaum unter Wettbewerbsdruck stehen (was das Produktivitätswachstum bremst) und die Konsumenten zu geringer Selbstkontrolle neigen. In der EU könnte eine mehr marktorientierte Versorgung einen europaweiten Wettbewerb von Anbietern von Bildung und Gesundheit auslösen. Allerdings hätte eine „reine„ Marktlösung die Nachteile, dass eine Benachteiligung der Armen (die hohe Preise für diese Dienstleistungen nicht bezahlen können) kaum akzeptabel wäre und eine Umstrukturierung des Angebots nach Kostenkriterien etwa im Gesundheitssektor die Kapazitäten so verkleinert, dass bei massiven Problemen (Seuchen, Terroranschlägen) keine ausreichende Versorgung mehr gewährleistet wäre.

Letztlich geht es darum, welchen Umfang und welche Qualität an öffentlichen Gütern, Risikovorsorge und sozialem Ausgleich sich eine Gesellschaft leisten kann und will. Sie muss es mit Umschichtungen beim Konsum und bei den Investitionen bezahlen, die aber durchaus die Produktivität (dank öffentlicher Zusatzinputs) und Lebensqualität (dank sozialen Friedens und Sicherheit) erhöhen können. In der Regel können und wollen ärmere Länder relativ weniger für diese Zwecke aufwenden als reiche. Aber jede entsprechende Entscheidung hat indirekt Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der anderen Länder.

Zusammenfassend lautet die Antwort auf die zweite Frage, dass die Gefährdungen des europäischen Sozialmodells stärker von seiner inneren Struktur als von außen ausgehen. Aber in der Tat sind manche, gerade spezifisch europäischen Elemente, insbesondere des „kontinentalen„ Modells [Im Gegensatz zum angelsächsischen oder skandinavischen Modell (Vgl. Göran Esping-Andersen „The Three Worlds of Welfare Capitalism„ Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.).], stärkeren Belastungen durch die Integration ausgesetzt als andere. Vor allem am unteren Ende der Produktivitätsskala kann Beschäftigung nicht zu den Löhnen stattfinden, die in Europa üblich und notwendig sind, um menschenwürdig zu leben und die Umverteilung zur Nichtarbeit zu finanzieren. Das Niveau dieser Umverteilung bestimmen aber weitgehend nationale politische Interessen und Prozesse. Die EU-Mitgliedschaft verändert jedoch die Konfliktlinien dieser Verteilungskämpfe und schränkt die der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlaubten Anpassungsmechanismen gegenüber veränderten Wettbewerbsverhältnissen ein. Die dadurch ausgelösten Legitimationskrisen nationaler Politik verlängern sich in die europäische Mehrebenendemokratie.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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