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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 8 (Fortsetzung)]
Die EU ist doppelt globalisiert. Ihre Wirtschaft ist einmal Teil der globalisierten Weltwirtschaft. Dank ihrer Mitgliedschaft in der WTO und einer Fülle multi- und bilateraler Abkommen ist sie für Handels- und Kapitalströme weitgehend offen. Aber ihre Wirtschaft ist weniger internationalisiert (z.B. gemessen am Anteil des Außenhandels am BSP) als die der Mitgliedstaaten und sie ist ein mächtigerer Verhandlungspartner in der internationalen Wirtschaftsdiplomatie. Daher sehen manche Regierungen und soziale Gruppen in der EU die Union als einen möglichen Schutzschild gegen vermutete negative Wirkungen der Globalisierung auf Wachstum und Verteilung. Zum anderen hat die EU ihre eigene Wirtschaft, also die nationalen Ökonomien der Mitgliedstaaten, in weit höherem Maße integriert und damit globalisiert als es die Weltwirtschaft, selbst die Untergruppe der WTO-Mitglieder, ist. Schon der Gründungsvertrag der EWG von 1957 sah nicht nur einen vollständigen Abbau der Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen, sondern auch die Kontrolle des Wettbewerbs vor. Die übrigen Freizügigkeiten, vor allem auch des Kapitals, waren anfangs noch von zahlreichen Einschränkungen begleitet. Mit der Herstellung des einheitlichen Binnenmarktes (1986-1992) und [Seite der Druckausg.: 9] der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Maastrichter Vertrag von 1992 hat sich die Vertiefung der Integration nochmals beschleunigt. Innerhalb Eurolands werden sich ab dem 1.1.2002 weitgehend Marktverhältnisse durchsetzen, die sich von einem nationalen Binnenmarkt kaum noch unterscheiden, auch wenn Sprache, Kultur und nationalspezifische Regulierungen weiterhin für Differenzierungen sorgen werden, die sich auch z.B. in Preisunterschieden für gleiche oder ähnliche Produkte äußern. [Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Europäische Wirtschaft Beiheft A, Wirtschaftsanalysen Nr.7, Juli 2001.] Vor allem, um den einheitlichen Binnenmarkt für Güter und Dienstleistungen zu schaffen, bedurfte es einer Fülle von Regelungen, die teils durch Harmonisierung unterschiedlicher nationaler Regeln (z.B. in Form von Mindeststandards), teils durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung erreicht wurden. Ein großer Teil des riesigen Bestandes an Gemeinschaftsrecht der EU, der acquis communautaire, besteht aus diesen Regeln für den Binnenmarkt, die im wesentlichen die oben genannten mikroökonomischen Risiken für Konsumenten reduzieren sollen. Dabei ist ein nicht unerheblicher Markt nur in sehr eingeschränkter Weise als Markt organisiert, nämlich der Agrarmarkt. Er unterliegt der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU und damit einem nahezu planwirtschaftlichen Verfahren zur Bestimmung der Preise und Mengen der landwirtschaftlichen Produktion. Neben die produktbezogenen Regeln tritt das gesamte Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbskontrolle der EU, die den Regelungsinteressen der Unternehmen Rechnung trägt, um Verzerrungen zu vermeiden. Aber auch für die Umsetzung der übrigen Grundfreiheiten, die Freizügigkeit für Kapital und Arbeit, bedurfte (und bedarf es z.T. noch) umfassender Regeln. Damit sind der nationalen Wirtschaftspolitik die wichtigsten Instrumente zur Steuerung der Nachfrage und zur diskriminierenden Gestaltung der Angebotsbedingungen zugunsten nationaler Unternehmen genommen. Sie können weder Zölle oder andere Handelshemmnisse, noch den Wechselkurs, noch die staatliche Nachfrage (Fiskalpolitik, Beschaffungspolitik), noch Subventionen, noch viele andere Regulierungen einsetzen. Die entsprechende europäische Politik mag wirkungsvoller sein als die aufgegebenen nationalen Möglichkeiten (insbesondere in der Währungspolitik), aber ihre zwangsläufig europäische Ausrichtung dürfte nicht immer die gerade für einzelne nationale Wirtschaften nötige sein. Die Mitgliedstaaten sind dabei unterschiedlich betroffen, je nach dem, ob sie bisher stärker auf Abwertungen, konzertierte Lohnpolitik oder strukturelle Reformen des Wohlfahrtstaates gesetzt haben, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen.
[Einen hervorragenden Überblick bieten Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000; die von ihnen analysierten 18 OECD-Länder decken zwar nicht alle Mitgliedstaaten ab, umfassen aber die wichtigsten strukturellen Alternativen.]
Im folgenden soll die Globalisierung Europas vor allem im Hinblick auf die oben (S.2) schon erwähnten zwei Problemstellungen betrachtet werden, die in der weltweiten Globalisierungsdebatte eine besondere Beachtung gefunden haben:
[Seite der Druckausg.: 10] Diese beiden Dimensionen weisen naturgemäß einen starken Regelungs- und Konfliktlösungsbedarf innerhalb der EU auf, für den sie eine Fülle von meist intergouvernementalen und bürokratischen Verfahren und Institutionen entwickelt hat, deren Legitimität aber zunehmend in Frage gestellt wird nicht zuletzt, da die Legitimation durch überzeugenden Output in Form erfolgreichen wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs kaum gelungen ist.
2.1 Der Kohäsionsraum Europa: Aufholprozesse mit Hindernissen
Die EU selbst hat sich das Ziel gesetzt, regionale Einkommensdisparitäten abzubauen (Art. 158-162 EUV). Dieses Ziel impliziert eine Angleichung der nationalen Entwicklungsunterschiede, geht aber darüber sogar hinaus. In der Tat ist es (in) der EU gelungen, die Abstände in den durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen der Mitgliedstaaten abzubauen, allerdings nur bedingt die zwischen den ärmsten und reichsten Regionen. Auch und gerade innerhalb der ärmeren Länder haben die regionalen Disparitäten weiter zugenommen, wie der zweite Kohäsionsbericht
[Vgl. EU-Kommission „Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Zusammenfassung, p.4]
der Kommission im Januar 2001 belegte (siehe Tabelle 1). Die Konvergenzerfolge fallen deutlich schwächer aus, wenn man das Einkommen zu Wechselkursen statt (wie in Tabelle 1) zu Kaufkraftparitäten vergleicht. Der ebenfalls für die gute Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten wichtige Aufholerfolg Irlands relativiert sich massiv, wenn man beider Messung vom Bruttoinlandsprodukt zum Bruttosozialprodukt übergeht und wirklich nur das Einkommen der Iren berücksichtigt und die Gewinne der dort tätigen ausländischen Investoren ausklammert (vgl. unten).
Tabelle 1: Einkommensdisparitäten in der EU (Standardabweichung von EU15=100)
Quelle: EU-Kommission Einheit Europas. Solidarität der Völker. Vielfalt der Regionen. Zweiter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Brüssel 2001, Statistischer Anhang, Tabelle A.2, S.20 Die Wachstumsergebnisse der ärmeren, peripheren Regionen ergeben ein uneinheitliches Bild: Irland (seit 1993) und Portugal (seit 1985) wiesen hohe Wachstumsraten auf. Dagegen stagnierten Griechenland, die ehemalige DDR und Süditalien vergleichsweise, obwohl sie zwischen 5 und 50% ihres BSP an Hilfe erhielten. Die neue Peripherie der mittel- und ost- [Seite der Druckausg.: 11] europäischen Beitrittsländer weisen nach der Transformationsrezession zwar wieder überwiegend positive Wachstumsraten auf, holen jedoch nur sehr langsam und unstetig auf. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Konvergenz des Pro-Kopf-Einkommens bzw. dessen Ausbleiben innerhalb der EU. Vor allem die Aufholerfolge der letzten zehn Jahre scheinen Globalisierungs- und Integrationsbefürworter zu bestätigen. Sie bestätigen auch die (neo-)klassische Wirtschaftstheorie, die einen Konvergenzprozess erwartet, weil das Kapital aus den kapitalreicheren Ländern wegen seines sinkenden Grenzertrages dort in die kapitalärmeren Länder der Peripherie fließt, die niedrigere Löhne mit steigender Produktivität verbinden. Die wachsenden regionalen Disparitäten und die anhaltenden Probleme einiger Regionen sprechen dagegen für eine Agglomerationstheorie, die wachsende Grenzerträge in hochentwickelten Zentren vermutet, während die schwachen Standorte (z.B. ex-DDR, Mezzogiorno, Alentejo) in einem Teufelskreis der Unterentwicklung stecken bleiben.
[So die Annahme, die in klassischer Form von Paul Krugman und Anthony Venables in „Integration and the Competitiveness of Peripheral Industry" in Christopher Bliss and Braga de Macedo „Unity with Diversity in the European Economy" Cambridge et al. 1990, S. 56-75 vorgestellt wurde.]
Betrachtet man die Länder und Regionen der europäischen Peripherie im einzelnen [Vgl. Michael Dauderstädt und Lothar Witte (Hg.) „Cohesive Growth in the Enlarging Euroland„, FES Bonn 2001.], so scheint klar, dass Integration und Öffnung an sich weder Wachstum schaffen noch verhindern, sondern es die Interaktion der eigenen Strukturen und Wirtschaftspolitik mit der Außenwirtschaft ist, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Damit ist aber die europäische (bzw. globale) Politik nicht aus der Verantwortung entlassen, da unterschiedliche Integrationsmodelle unterschiedliche Risiken mit sich bringen, auf die im folgenden eingegangen wird. Der Abbau der wichtigsten wettbewerbsverzerrenden Schutzmechanismen und nationalen (oder regionalen) Fördermöglichkeiten ist durch massive europäische Subventionen kaum zu ersetzen. So haben große Kapitaltransfers (typisch in der ex-DDR, aber auch in die übrige europäische Peripherie) eine reale Überbewertung der Währung bzw. Lohnerhöhungen jenseits des Produktivitätsfortschritts begünstigt, dadurch Arbeitsplätze vernichtet und Investoren abgeschreckt. Der Zwangsverzicht auf eine selektive Handels- und Industriepolitik hat ein Entwicklungsmodell wie in Südostasien blockiert und die Wettbewerbschancen einheimischer Produzenten verringert. Die Währungsunion wiederum behindert mit ihrer Fixierung auf Preisstabilität und feste Wechselkurse die notwendigen überdurchschnittlichen nominalen Einkommenssteigerungen in den aufholenden Ländern. Der Vorteil der EU-Integration liegt für ärmere Länder vor allem im ungehinderten Zugang zu den reichen EU-Märkten und zu zusätzlichem Kapital, teils in Form öffentlicher Transfers und Kredite, teils in Form von ausländischen Direktinvestitionen. Allerdings nutzt Marktzugang ohne wettbewerbsfähiges Angebot nichts und Transfers können wie im Fall Griechenlands konsumiert und verschwendet statt produktiv investiert werden. Da das Kapital auch durch geeignete Politiken angelockt werden kann (z.B. Subventionen, Steuervorteile), sind auf EU-Ebene Regelungen zu treffen, die einen unlauteren Wettbewerb verhindern bzw. festlegen, welche Formen von Anreizen akzeptabel sind und welche einen Unterbietungswettlauf oder ein Nullsummenspiel auslösen. [Seite der Druckausg.: 12] Die nachholende Entwicklung einer Reihe von erfolgreichen Ländern (z.B. Japan, Korea, Taiwan) belegt, dass ausländische Investitionen keine notwendige Voraussetzung sind. Selbst Polen hatte in der ersten Hälfte der 90er Jahre im Vergleich etwa zu Ungarn ein deutlich höheres Wachstum bei geringen Auslandsinvestitionen. Portugal, Spanien und Irland stützten ihr Wachstum dagegen auf viele Investitionen. In dem Maße, wie nicht nur vorhandene Firmen (z.B. bei Privatisierung) aufgekauft wurden, sondern zusätzliche, moderne Produktionskapazität entstand, können ausländische Investoren zum langfristigen Wachstum beitragen, indem sie Technologie, Ausbildung, Management und Marketing mitbringen. Ausländisches Kapital gibt es allerdings nicht umsonst, wie vor allem das Beispiel Irland belegt. Gerade im Erfolgsfall und bei kleinen Ländern kann der Abfluss von Gewinnen volkswirtschaftlich beachtliche Dimensionen erreichen. Irland, das zu den relativ erfolgreichsten Einwerbern von Auslandsinvestitionen (4,2% des BIP 1987-96 [Vgl. EU Kommission „Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union„, Brüssel 1999, S. 221]) zählt, hat dies nicht nur dank (mit EU-Mitteln finanzierter) guter Infrastruktur, niedriger Löhne und gut ausgebildeter Arbeitskräfte erreicht, sondern auch durch eine niedrige Unternehmens- und Gewinnbesteuerung. Diese Steuervorteile haben multinationale Konzerne nicht nur veranlasst, in Irland zu investieren, sondern dort auch in großem Umfang anderswo entstandene Gewinne buchhalterisch mittels transfer pricing anfallen zu lassen. So ist in Irland die Lohnquote seit 1980 von 77% auf 53% des Volkseinkommens gesunken und das Bruttosozialprodukt (d.h. das Einkommen der Iren) liegt 20% unter dem Bruttoinlandsprodukt, das auch die in Irland entstandenen Gewinne der ausländischen Firmen umfasst, womit Irland in der Pro-Kopf-Einkommensliga der EU von Platz 5 (BIP/Kopf) auf Platz 10 (BSP/Kopf) zurückfällt. [Vgl. Michael Dauderstädt, „Irland, der "keltische Tiger" – Vorbild oder Warnung für ein wachsendes Europa?„ in: ifo Schnelldienst 6-2001] Die irischen Verhältnisse sind insofern untypisch, als für die EU insgesamt und auch in den meisten größeren Mitgliedstaaten Auslandsinvestitionen einen viel geringeren Stellenwert (gemessen im Anteil am BIP bzw. der gesamten Investitionen) haben. Grenzüberschreitende Investitionen innerhalb der EU machten zwischen 1987 und 1996 unter 1% des BSP aus.
[Vgl. EU Kommission „Sechster Periodischer Bericht über die sozioökonomische Lage der Regionen der Europäischen Union„, Brüssel 1999.]
Tabelle 2: Intra-EU-Handel der EU-Mitgliedstaaten 2000 (in % des BIP)
Quelle: Eurostat
Trotzdem tragen ausländische Investitionen oft zur Modernisierung ihrer Wirtswirtschaften bei. Sie nutzen die komparativen Vorteile dieser Ökonomien, in armen Ländern häufig die niedrigen Löhne. Globalisierungskritiker unterstellen oft, dies sei das einzige Motiv für ausländische Investoren und sie hielten ihre Wirtsländer in diesem Niedriglohnstatus durch Drohung der Abwanderung. Tatsächlich sind die Investitionsmotive gemischt und im Erfolgsfall steigt die Produktivität und erlaubt höhere Einkommen. Für die ausländischen Investoren (aber auch für einheimische Unternehmer, die mit Importen konkurrieren oder exportieren) kommt es dabei auf die zu Wechselkursen verglichenen Löhne an. Für die Beschäftigten sind diese niedrigen Löhne oft dadurch akzeptabel, dass ihre Kaufkraft deutlich höher liegt. Dieser Kaufkraftvorteil schmilzt aber in einem Binnenmarkt auf die Dauer in dem Maße ab, wie sich das Gesetz des einheitlichen Preises (Law of one price) durchsetzt, was allerdings relativ langsam geschieht, wie Preisunterschiede auch in seit langem der EU angehörenden Ländern belegen.
[Vgl. Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Europäische Wirtschaft Beiheft A, Wirtschaftsanalysen Nr.7, Juli 2001.]
Im Euroland sind diese Aufwertungen nicht mehr möglich. Einkommenskonvergenz hängt dann von einem rascheren Anstieg der Löhne in den ärmeren Ländern ab. Das bedeutet höhere Inflation, da auch die Löhne in Branchen mit geringem Produktivitätswachstum (z.B. viele Dienstleistungen, vor allem im öffentlichen Sektor) steigen müssen (Balassa-Samuelson-Effekt)
[Vgl. Europäische Zentralbank, Monatsbericht Oktober 1999 „Inflationsunterschied in einer Währungsunion", pp. 39-49, und UN-ECE „Economic Survey of Europe„ 2001, No. 1, pp.227-241.].
Die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit sei es durch Abwertung oder Kontrolle der Inflation wird durch offene Kapitalmärkte erschwert. Gerade die erfolgreicheren ärmeren Länder sind oft Ziel starker Kapitalzuflüsse, die reale Aufwertungen auslösen, die nicht im gleichen Umfang durch Produktivitätsfortschritte gesichert sind. Die gleichen Finanzmärkte reagieren [Seite der Druckausg.: 14] dann mit plötzlicher Kapitalflucht, wenn sich pessimistischere (oder realistische) Einschätzungen der Wirtschaftsentwicklung durchsetzen. Innerhalb Eurolands drohen dann aber nicht mehr die von Globalisierungskritikern gefürchteten Abwertungen und IWF-Programme. Stattdessen müssen sich Schuldner (Empfänger der Kapitalzuflüsse) durch Ausgabeneinschränkungen anpassen und die Gläubiger auch mit normalen Konkursen oder Zahlungsverzögerungen rechnen. Portugal könnte das erste Beispiel für eine solche nationale Anpassungskrise im Euroland sein, da es seit seinem Beitritt zur Währungsunion eine massive Schuldenposition aufgebaut hat [Vgl. Abel Mateus „Portugal’s Accession and Convergence Towards the European Union„ in Dauderstädt/Witte, a.a.O., S. 52-65.], die in früheren Zeiten (vor dem EU-Beitritt) zu einer Verschuldungskrise mit IWF-Intervention geführt hätte. Jetzt drohen partiell nach argentinischem Muster, wenn auch (zunächst) ohne Finanzkrise des Staates - Kollapse der überschuldeten portugiesischen Wirtschaftseinheiten (Banken, Unternehmen, Haushalte). Die Anpassungsmöglichkeiten (z.B. staatliche Hilfen für Banken) sind aber nicht mehr rein national entscheidbar. Die EU-Politiken haben somit eine zwiespältige Wirkung auf die armen Regionen. Ähnliche Probleme sind auch für die noch ärmeren künftigen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa zu erwarten:
[Seite der Druckausg.: 15] lasten aber dafür den der Gastländer, wo sie in der Regel am unteren Ende der Lohnpyramide schlecht qualifizierten Einheimischen Konkurrenz machen. Während die wirklich großen Aufholerfolge der jüngeren Wirtschaftsgeschichte (Westeuropa, Japan, Ostasien) im durch die Bretton-Woods-Ordnung geschützten Rahmen nationaler Akkumulationsregime stattfanden, erlaubt die Globalisierung (und die europäische Integration) nur noch das Aufholen durch Teilnahme am offenen, internationalen Akkumulationsprozess. Innerhalb des integrierten Europa versuchen spezielle Förderpolitiken den Schutz früherer Regime zu ersetzen, um die Chancen erfolgreicher Teilnahme am globalen/europäischen Wachstum zu verbessern.
Die Antwort auf die erste Frage lautet also: Die Globalisierung bzw. die EU-Integration erlaubt durchaus die Entwicklung der armen Länder, ja sie unterstützt sie mit einer Reihe von Politiken. Im Ergebnis kann das allerdings ganz anders aussehen, nicht zuletzt, weil die armen Länder die Chancen nicht wahrnehmen, den ebenfalls durch die Integration ausgelösten Risiken jedoch erliegen. Einige EU-Politiken weisen deutlich [Seite der Druckausg.: 16] mehr Risiken als Chancen auf und müssten umgestaltet werden, wenn das Ziel der aufholenden Entwicklung und Kohäsion Priorität haben soll. Nur in Ausnahmefällen haben es arme Länder und Regionen in der EU geschafft, ihren Einkommensrückstand voll zu überwinden. Das irische Beispiel mit seinem außergewöhnlichen Erfolg in den 1990er Jahren belegt zwar diese Möglichkeit, legt aber auch die Befürchtung nahe, dass sie nur auf Kosten anderer Mitgliedstaaten und um den Preis wachsender Einkommensdisparitäten im aufholenden Land zu realisieren ist. Gerade in den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas mit ihren egalitären Traditionen und Erwartungen und sensiblen nationalen Befindlichkeiten drohen hier Konflikte. Für die Demokratisierung der Integration schließlich impliziert dieser Befund, dass ärmere EU-Länder (nach einer big bang - Erweiterung 2004 eventuell die Mehrheit) besondere Interessen an der Gestaltung der gemeinsamen Politiken einbringen sollten und werden. Sie betreffen nicht nur die unmittelbar wirksamen redistributiven Politiken der EU (Struktur-, Regional- und Kohäsionsfonds), sondern auch die Währungspolitik, die Geldpolitik und die Wettbewerbspolitik. Angesichts verschärfter Einkommensdisparitäten erhält die Frage der Einkommensverteilung und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Korrekturmöglichkeiten, der der folgende Abschnitt gewidmet ist, besondere Bedeutung.
2.2 Der europäische Sozialraum: ein hoher Preis für wenig Arbeit
Europas Leistungen in punkto Beschäftigung und Verteilung haben sich mit wachsender Integration keineswegs verbessert, wie die folgende Tabelle 3 zeigt. Inwieweit die Integration dafür verantwortlich ist oder ob durch sie Schlimmeres verhindert wurde, kann wahrscheinlich weder theoretisch zweifelsfrei geklärt und erst recht nicht empirisch belegt werden. Aber einige mögliche Kausalketten lassen sich aufweisen. Tabelle 3: Beschäftigung und Verteilung in Europa 1960-2001
Quelle: Eurostat Die Interessen der sozial Schwachen in Europa und vor allem in den relativ reicheren Teilen der EU werden zumindest potentiell durch folgende Integrationsprozesse betroffen:
Tabelle 4: Struktur der Staatseinnahmen (2000; in % des BIP)
Quelle: Eurostat
[Seite der Druckausg.: 18] gen, vor allem Zinsen, ist problematischer, da der Steuergegenstand häufig mobil ist. Damit stellt sich das Problem der Kontrolle und Steuergerechtigkeit, das auch nur teilweise auf europäischer Ebene zu lösen ist. Immobiles Vermögen ließe sich dagegen relativ leicht besteuern.
Trotzdem benutzen wichtige Akteure wie Arbeitgeber oder Politiker den Verweis auf angebliche außenwirtschaftliche Zwänge, um bestimmte Verteilungsstrukturen (z.B. niedrigere Löhne oder andere Steuersätze und- gegenstände) oder Regeln wie etwa bzgl. der Gestaltung der industriellen Beziehungen (Streikrecht, Mitbestimmung etc.) durchzusetzen. Spiegelbildlich sehen sich dann die sozial Schwächeren, die Arbeitnehmer und ihre politischen Vertreter als Opfer der Integration. De facto sind die hausgemachten Strukturen und Politiken bedeutsamer. Das am ehesten mit der Globalisierung verbundene Nachlassen der Nachfrage nach wenig qualifizierter Arbeit ist in hohem Maße auch durch technologische und betriebsorganisatorische Veränderungen bedingt, die aber letztlich nur einen anderen Weg zur Senkung der Lohnstückkosten darstellen. Gravierender wirkt sich das unterschiedliche Beschäftigungswachstum in den nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Sektoren (Dienstleistungen) aus, das stärker durch unterschiedliche Steuersysteme und Sozialpolitiken bedingt ist. [Vgl. Fritz W. Scharpf „Economic Changes, Vulnerabilities, and Institutional Capabilities„ in: Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000, Vol. 1 „From Vulnerability to Competitiveness", S.21-124. ] Die EU hat seit ihrer Gründung versucht, mögliche negative soziale Wirkungen der Integration durch Ansätze europäischer Sozialpolitik zu begrenzen. Der Umsetzung der im Vertragstext verankerten Ziele (wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt, stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen) dienten die Vorschriften des sozialpolitischen Kapitels des EWG-Vertrags (Art. 117-128 EWGV), insbesondere der dort eingerichtete Europäische Sozialfonds, sowie als beratendes Organ der Wirtschafts- und Sozialausschuss. Die Ausgaben für den Sozialfonds bildeten aber nur einen bescheidenen Teil des Haushalts der EU. Die Masse des Unionsrechts, des acquis communautaire, dient der Fundierung des Binnenmarktes. Die sozialen Folgen bleiben den Mitgliedstaaten und ihren Gebietskörperschaften überlassen, die sich - vor allem in der Währungsunion - eher in einer Kostensenkungskonkurrenz mit den anderen Standorten fühlen. Großbritannien akzeptierte die Sozialcharta erst nach langem Zögern nach der Wahlniederlage der Konservativen. Sie legt Mindeststandards fest, die in den meisten Mitgliedstaaten von nationalen Regeln übertroffen werden. In der Beschäftigungspolitik nahm die Rolle der EU erst mit dem Vertrag von Amsterdam deutlich zu. [Seite der Druckausg.: 19] Diese zwei wichtigen Bereiche, Beschäftigung (bzw. Arbeitslosigkeit) und Sozialpolitik, seien näher untersucht, da sie den Wohlstand gerade der sozial Schwächeren beeinflussen. Beide Bereiche sind auch nicht unabhängig voneinander, da hohe Arbeitslosigkeit die Sozialhaushalte belastet und eine falsch konzipierte Sozialpolitik eventuell der Arbeitslosigkeit Vorschub leistet.
2.2.1 Das Globalisierungsdilemma: Beschäftigung oder Einkommen
Die Alternative zwischen Einkommen und Beschäftigung ist eine strategische Variable bei der Steuerung der sozialen Entwicklung und der Reaktion auf außenwirtschaftliche Anpassungszwänge. Beschäftigung ist relativ leicht zu schaffen, wenn man die potentiellen Arbeitnehmer dazu bewegen kann, ein niedriges Einkommen zu akzeptieren. Will man jedoch gleichzeitig auch sozialen Ausgleich, so verändern sich die Optionen. Die schmerzloseste Lösung ist, die Produktivität der Arbeitslosen durch Bildung so zu steigern, dass sie für die Arbeitgeber auch bei höheren Löhnen attraktiv sind. Eine andere Alternative ist der schwedische Weg der Beschäftigung im staatlichen Sektor der sozialen Dienstleistungen, wo die Produktivität weniger entscheidend ist als die gezielte Sozialisierung der Nachfrage. Bei einer großen Anzahl von Fällen, wo dies nicht möglich ist, könnte man die Lage auch der zu einem (niedrigen) Markteinkommen Beschäftigten verbessern, indem man ihre Nettoeinkommen durch steuerliche Umverteilung oder Entlastung bei den Sozialabgaben (Kombilohn, negative Einkommenssteuer) oder durch Zugang zu Kapitaleinkommen (Vermögensbildung der Arbeitnehmer) aufstockt. Die oben betrachteten Integrationsmechanismen unterwerfen diese Optionen unterschiedlichen Beschränkungen und Risiken. Tabelle 5: Produktivität, Arbeiteinsatz und Einkommen in Europa im Vergleich (OECD-Durchschnitt =100)
Quelle: Bert van Ark und Robert H. McGuckin International comparisons of labor productivity and per capita income in Monthly Labor Review, July 1999, S.36
In der Beschäftigungspolitik stehen strukturell sehr unterschiedliche Optionen zur Wahl, wobei ein Land einen einmal historisch eingeschlagenen Weg oft nur schwer verlassen kann. So können Produktivitätszuwächse in Steigerungen teils des Prokopfeinkommens, teils der bezahlten [Seite der Druckausg.: 20] Nicht-Arbeit bzw. Freizeit umgesetzt werden, wobei sich dahinter wiederum eine kürzere Jahresarbeitszeit der Beschäftigten, höhere Arbeitslosigkeit, eine niedrigere Erwerbsquote oder eine andere Altersstruktur (hoher Anteil der Unter-15- und Über-65-jährigen) verbergen kann. Bietet man mehr Menschen die Chance zu bezahlter Freizeit in einer der genannten Formen, so sinkt das Nettoeinkommen der Beschäftigten, die durch Steuern und/oder Sozialabgaben die nicht arbeitenden Mitbürger alimentieren. Andererseits sinkt damit auch das Arbeitsangebot, die Marktmacht der Arbeitnehmer steigt und lässt höhere Löhne zu. Hochlohnpolitiken fördern das Produktivitätswachstum, an dem dann aber vorzugsweise die Beschäftigten partizipieren. Gibt es nicht genug Hochlohnarbeitsplätze, so bleibt die Erwerbsquote relativ niedrig und/oder die Arbeitslosigkeit hoch. Die europäische Wirtschaft war lange nicht ausreichend in der Lage, den arbeitsfähigen Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht für Markteinkommen tätig sind (Arbeitslose, aber auch etwa Hausfrauen), Arbeitsplätze mit einem attraktiven Einkommen zu bieten, das sie für die Aufgabe ihres Sozialeinkommens oder der Freizeit hinreichend entschädigt hätte. Dabei ist die vollständige Ausschöpfung dieses Potentials nicht unbedingt wünschenswert, wenn dadurch gesellschaftlich wichtige, aber unbezahlte Reproduktionstätigkeiten reduziert werden. Hier unterscheiden sich die europäischen Wohlfahrtsgesellschaften. Während kontinentale Länder mehr auf innerfamiliäre Unterstützung setzten, haben vor allem die skandinavischen auf staatliche Dienstleistungen gesetzt. Dienstleistungen sind derjenige Sektor, der die größten Beschäftigungspotentiale bietet, dessen Wachstum aber stark von steuerlichen, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Regelungen abhängt. [Vgl. Göran Esping-Andersen „The Three Worlds of Welfare Capitalism„ Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.]
Ein beachtlicher Teil der Einkommensunterschiede zwischen EU-Ländern lässt sich durch die unterschiedliche Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials erklären, die ihrer- [Seite der Druckausg.: 21] seits wieder von den Steuer- und Sozialsystemen abhängt. So reduziert der hohe Teilzeitarbeitanteil bzw. die geringere Jahresarbeitszeit die Produktivität pro Arbeitnehmer vor allem in den Niederlanden, Italien und Deutschland, während in Spanien der umgekehrte Effekt eintritt. Hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Partizipationsraten senken das Prokopfeinkommen überdurchschnittlich in Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland und Spanien, während Dänemark hier seine niedrigere Produktivität ausgleichen kann. Theoretisch sollte mit steigendem Arbeitseinsatz die Produktivität (und damit letztlich die Einkommen) sinkt. Dagegen spricht aber die Erfahrung der USA. Obwohl die USA weniger Arbeitslose und eine höhere Partizipationsrate haben, liegt die amerikanische Stundenproduktivität 20% über dem OECD-Durchschnitt. Japan dagegen erreicht ein relativ hohes Prokopfeinkommen trotz niedriger Stundenproduktivität durch lange Arbeitszeiten, niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Partizipationsrate. Die europäischen Arbeiter sind zwar produktiver als die Japaner, arbeiten aber weniger. Dadurch liegt das Prokopfeinkommen 10% unter dem OECD-Durchschnitt (siehe Tabelle 5).
[Vgl. Bert van Ark und Robert H. McGuckin „International comparisons of labor productivity and per capita income„ in Monthly Labor Review , July 1999, S.33-41]
2.2.2 Wohlfahrtsstaaten im Wettbewerb
Die sozialen Sicherungssysteme in Europa unterscheiden sich erheblich voneinander. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP steigt mit dem Prokopfeinkommen. Diese Korrelation ist für die Gesamtausgaben relativ eng, obwohl sie für einzelne Ausgabenkomponenten nicht nachzuweisen ist.
Tabelle 6: Armut, Mindesteinkommensregelungen und Sozialausgaben in der EU
Quelle: Lydia Kocar Armut in Europa. Eine Einführung in: Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften in Osnabrück (Hg.) Forum für soziale Gerechtigkeit in Europa (KooperationsScripte 1), Osnabrück 2001, Pierre Guibentif/Denis Bouget: Mindesteinkommen in der Europäischen Union ein sozialpolitischer Vergleich, Lissabon 1997; Göran Therborn: Die Gesellschaften Europas 1945-2000, ein sozialpolitischer Vergleich, Frankfurt a.M. 2000, [Seite der Druckausg.: 22] Da Sozialausgaben die Wettbewerbsfähigkeit belasten können, wurde zur Vermeidung eines Unterbietungswettlaufs vorgeschlagen, den EU-Mitgliedsstaaten einen Korridor (Busch
[Vgl. Klaus Busch „Das Korridormodell: ein Konzept zur Weiterentwicklung der EU-Sozialpolitik„ in Internationale Politik und Gesellschaft 2/98, S.147-156.])
vorzugeben, indem sich die Sozialausgaben bewegen sollten, oder eine Untergrenze (Scharpf
[Vgl. Fritz W. Scharpf „Governing in Europe: Effective and Democratic?„ Oxford 1999]).
Das Niveau der Sozialausgaben ist dabei weniger wichtig als die Art ihrer Finanzierung und die Verwendung. So ist das Niveau nicht mit dem Ausmaß der Arbeitslosigkeit korreliert - wie von liberalen Kritikern des Wohlfahrtsstaates gern unterstellt wird. Die Finanzierung durch einkommensbezogene Abgaben (wie in Deutschland) erhöht jedoch die Arbeitskosten, was vor allem die Nachfrage nach gering entlohnter und wenig produktiver Arbeit im Dienstleistungssektor verringert. Umgekehrt schaffen steuerfinanzierte öffentliche Sozialdienstleistungen Arbeitsplätze (z.B. in Skandinavien).
In der Alterssicherung ist das Grundproblem zu lösen, dass ohne Änderung des Renteneintrittsalters in Zukunft weniger Aktive die Güter und Dienstleistungen produzieren müssen, die immer mehr Senioren konsumieren. Ob die Finanzierung des Altenkonsums im Umlageverfahren oder durch Ansparen von Kapital geschieht, ändert nur etwas an der Befindlichkeit derer, die auf Konsum verzichten müssen. Im ersten Fall tun sie es als Beitragzahler gegen das institutionelle Versprechen späterer Renteneinkünfte, im zweiten als Sparer gegen das marktvermittelte Versprechen späterer Kapitalerträge. Im Euroland ist das zweite Versprechen aber nicht [Seite der Druckausg.: 23] mehr national eingebettet, da die Kapitalmärkte liberalisiert sind. Eine echte Alternative, die keine gesellschaftlichen Versprechen unterstellen, wäre nur das höhere Renteneintrittsalter. Es steigert aber das potentielle Arbeitsvolumen, das dann auch zu beschäftigen wäre. In den Bereichen Bildung und Gesundheit geht es um öffentliche Dienste, die in den meisten EU-Ländern zum großen Teil über Steuern oder Krankenversicherungen finanziert werden. Ihr Anteil am Volkseinkommen (oder besser an den Volksausgaben) steigt zwangsläufig, da die Produktivität in diesen beiden Dienstleistungsbranchen langsamer steigt als in der Landwirtschaft oder Industrie, die Einkommen aber relativ im Gleichschritt mitwachsen, und da die Nachfrage nach diesen Leistungen mit der allgemeinen Wohlstandsentwicklung eher zunimmt. Allerdings führt die Form der Finanzierung im Vergleich zu einer marktmäßigen Allokation zu Effizienzverlusten, da die Anbieter kaum unter Wettbewerbsdruck stehen (was das Produktivitätswachstum bremst) und die Konsumenten zu geringer Selbstkontrolle neigen. In der EU könnte eine mehr marktorientierte Versorgung einen europaweiten Wettbewerb von Anbietern von Bildung und Gesundheit auslösen. Allerdings hätte eine reine Marktlösung die Nachteile, dass eine Benachteiligung der Armen (die hohe Preise für diese Dienstleistungen nicht bezahlen können) kaum akzeptabel wäre und eine Umstrukturierung des Angebots nach Kostenkriterien etwa im Gesundheitssektor die Kapazitäten so verkleinert, dass bei massiven Problemen (Seuchen, Terroranschlägen) keine ausreichende Versorgung mehr gewährleistet wäre. Letztlich geht es darum, welchen Umfang und welche Qualität an öffentlichen Gütern, Risikovorsorge und sozialem Ausgleich sich eine Gesellschaft leisten kann und will. Sie muss es mit Umschichtungen beim Konsum und bei den Investitionen bezahlen, die aber durchaus die Produktivität (dank öffentlicher Zusatzinputs) und Lebensqualität (dank sozialen Friedens und Sicherheit) erhöhen können. In der Regel können und wollen ärmere Länder relativ weniger für diese Zwecke aufwenden als reiche. Aber jede entsprechende Entscheidung hat indirekt Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der anderen Länder. Zusammenfassend lautet die Antwort auf die zweite Frage, dass die Gefährdungen des europäischen Sozialmodells stärker von seiner inneren Struktur als von außen ausgehen. Aber in der Tat sind manche, gerade spezifisch europäischen Elemente, insbesondere des kontinentalen Modells [Im Gegensatz zum angelsächsischen oder skandinavischen Modell (Vgl. Göran Esping-Andersen „The Three Worlds of Welfare Capitalism„ Cambridge 1990 oder aktueller Scharpf/Schmidt, a.a.O.).], stärkeren Belastungen durch die Integration ausgesetzt als andere. Vor allem am unteren Ende der Produktivitätsskala kann Beschäftigung nicht zu den Löhnen stattfinden, die in Europa üblich und notwendig sind, um menschenwürdig zu leben und die Umverteilung zur Nichtarbeit zu finanzieren. Das Niveau dieser Umverteilung bestimmen aber weitgehend nationale politische Interessen und Prozesse. Die EU-Mitgliedschaft verändert jedoch die Konfliktlinien dieser Verteilungskämpfe und schränkt die der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlaubten Anpassungsmechanismen gegenüber veränderten Wettbewerbsverhältnissen ein. Die dadurch ausgelösten Legitimationskrisen nationaler Politik verlängern sich in die europäische Mehrebenendemokratie. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002 |