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1 Globalisierung: eingebildete, vorgespiegelte und wirkliche Gefahren


Die Herstellung globaler Märkte durch internationale Regime wie etwa die über Jahrzehnte durch GATT und WTO entstandene, immer liberalere Welthandelsordnung würde kaum auf Kritik stoßen, wenn sie nur Vorteile brächte. In der gängigen Debatte um die „Globalisierung„ mischen sich jedoch mindestens zwei Kritiklinien, wobei manche Kritiker unterstellen, dass eine demokratischere Gestaltung der internationalen Regime diese Defizite reduzieren würde, da sie den betroffenen armen Ländern und Menschen einen größeren Einfluss (voice) einräumen würde:

  • Die erste sieht – ganz in der Tradition linker Imperialismuskritik – in der Globalisierung einen Prozess, der die armen Länder der „Dritten Welt„ weiter in Armut und Abhängigkeit hält, indem er ihre Wachstumschancen behindert und ungleiche Verteilungsstrukturen verfestigt.

  • Die zweite befürchtet dagegen, dass die Globalisierung den Wohlstand der reichen Länder gefährdet, wenn auch – dies wiederum in antikapitalistischer Kontinuität – vor allem die Interessen der Arbeiter und sozial Schwachen in den reichen Ländern bedroht seien, einmal direkt durch Schwächung ihrer Marktposition, aber auch indirekt durch „Sozialabbau„, also die Beschränkung sozialpolitischer Sicherungs- und Korrekturmöglichkeiten von Marktergebnissen.

In der Tat zeichnet sich die Zeitperiode, die gängig mit der Globalisierung verbunden wird, etwa der Zeitraum 1975-2000, dadurch aus, dass das Wachstum der Weltwirtschaft schwä-

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cher war als in der Zeit von 1950-1975 und die Verteilung ebenfalls ungleicher. Aber viele der Teilprozesse, die diesen Veränderungen unterliegen, lassen sich ohne Rückgriff auf die Globalisierung erklären bzw. wären eventuell ohne die Globalisierung noch massiver ausgefallen. So hat der Produktivitätsrückgang, der den Wachstumseinbruch nach 1973 maßgeblich mitverursacht hat, wahrscheinlich andere Ursachen. Der Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft hat China erhebliche Wachstumsgewinne und eine gewaltige Armutsreduzierung gebracht, gleichzeitig jedoch Mittel- und Osteuropa zumindest vorläufig relativ zurückgeworfen.

Was die armen Länder betrifft,
so lässt sich zwar generell eine stärkere wirtschaftliche Öffnung für Handels- und Kapitalströme beobachten, aber die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern sind erheblich. Erfolgreiche Länder zeichnen sich vor allem durch Exportorientierung aus. Ausländisches Kapital spielte eine uneinheitliche Rolle: Während es in einigen Ökonomien bzw. in bestimmten Perioden in Form von Entwicklungsfinanzierung (Kredite) und ausländischen Direktinvestitionen zum Wachstum, insbesondere auch der Exporte, beitrug, führte es in anderen zur Verschuldung, dauerhaften Belastungen und – im Fall von Kapitalflucht bei sinkenden Ertragserwartungen – massiven Wachstumseinbrüchen (z.B. Asienkrise). Aber in jedem Fall mischen sich Risiken der Globalisierung mit hausgemachten, politisch verursachten Fehlern, die Schuldzuweisungen erschweren, wenn nicht unmöglich machen.

Die Armen in den armen Ländern müssten der ökonomischen Theorie zufolge von der Globalisierung eher profitieren, da sie die Nachfrage nach billiger Arbeit und damit ihren Preis erhöht. Die Reichen bzw. besser qualifizierten Arbeitnehmer in den armen Ländern müssten dagegen mit relativen Einkommenseinbußen rechnen, da sie verschärfter Konkurrenz aus den reichen Ländern ausgesetzt sind, die über einen relativen Überfluss an Kapital und hochqualifizierten Arbeitskräften verfügen. Wenn sich de facto die Einkommensverteilung in vielen armen Ländern verschlechtert, so ist das eher einer Vermachtung von Märkten (vor allem von Kapital) und der politischen Kontrolle über Renteneinkommen zuzuschreiben.

Der von der Globalisierung zu trennende, mit ihr aber oft verbundene neo-liberale „Washington Consensus„, der armen Ländern eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik, Handelsliberalisierung und Privatisierung empfiehlt, ist partiell ein wohlgemeinter Versuch, über freiere Märkte solche gerade für die Armen schädlichen Vermachtungsstrukturen aufzubrechen. Er scheitert aber an den gesellschaftlichen und politischen Realitäten, die er nicht verändert und unter deren Bedingungen die scheinbaren Marktfreiheiten nur neue Bereicherungsquellen erschließen und weitere Schichten Anpassungsschocks und Marktrisiken aussetzen, auf die sie nicht vorbereitet und gegen die sie nicht abgesichert sind.

Was die reichen Länder betrifft,
so behaupten viele, das die Öffnung der nationalen Märkte einen Unterbietungswettlauf („race to the bottom„) bei Löhnen, Sozialleistungen, Steuern und Regulierungen auslöst, der Arbeitnehmer, Staat und Umwelt belastet, um Unternehmen und ihre Eigentümer („shareholder„) zu entlasten. Die wesentlichen Mechanismen, die diesen Druck ausüben, seien demnach

  1. der internationale Handel, der die nationale Produktion der Kostenkonkurrenz billigerer Anbieter aussetzt,

  2. die internationalen Kapitalmärkte, die das Kapital (und damit oft auch Wachstum und Beschäftigung) von weniger profitablen Standorten zu profitableren transferieren, und

  3. die neuen multinationalen Produktionsnetzwerke, die das gleiche mit Teilen der Wertschöpfungskette machen, indem sie einzelne Produktionsschritte an den weltweit kostengünstigsten Standort verlagern.

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Dabei ist ein großer und wachsender Teil des Handels Warentransport zwischen Teilen multinationaler Unternehmen, also ein Epiphänomen der dritten Komponente. Ebenso dient ein Teil der internationalen Kapitalströme dem Aufbau dieser transnationalen Produktionsstrukturen.

Die billigen Importe erhöhen aber das Realeinkommen und senken die Kosten der einheimischen Produktion. Dadurch bieten sich neue Absatzchancen, die den eventuell frei gesetzten Produktionsfaktoren wieder Beschäftigung bieten, wenn Anpassung und Strukturwandel gelingen. Außerdem handeln reiche Länder überwiegend untereinander und sind daher dem Wettbewerbsdruck von Niedriglohnländern relativ wenig ausgesetzt. Es sind auch kaum hohe Leistungsbilanzdefizite der reichen gegenüber den armen und weniger regulierten Ländern zu beobachten. Die EU selbst hat dank ihrer Größe einen relativ geringen Außenbeitrag und weist seit 1993 auch einen Leistungsbilanzüberschuss auf, den sie ganz überwiegend mit Mittel- und Osteuropa erzielt.

Schließlich schützt die hohe Produktivität an den hoch entwickelten Standorten die dortigen Produzenten vor Einkommens-, bei langsam wachsender Nachfrage aber nicht vor Beschäftigungsverlusten. Diese Produktivität erlaubt hohe Belastungen, ohne die Stückkosten im gleichen Maß zu erhöhen. Sie ist ihrerseits auch das Ergebnis von sozialen Investitionen in Gesundheit, Ausbildung, Forschung, Infrastruktur. Im Idealfall ergibt sich ein Tugendkreis aus meist öffentlich gesicherten Standortqualitäten und der Wettbewerbsfähigkeit hochproduktiver Anbieter. Diese Standorte sind auch attraktiv für Investoren, seien sie nun Kapitalanleger auf den Finanzmärkten oder Manager multinationaler Konzerne, die einen Produktionsverbund planen. Kehrseite des – partiell konkurrenzbedingten - Produktivitätsfortschritts in den Sektoren, die handelbare Güter herstellen, ist jedoch, dass dort in den reichen Ländern Beschäftigungsrückgänge zu registrieren sind, die meist nur durch neue Arbeitsplätze im geschützten Bereich der lokalen Dienstleistungen zu kompensieren sind. [Vgl. Fritz W. Scharpf „Economic Changes, Vulnerabilities, and Institutional Capabilities„ in: Fritz W. Scharpf und Vivien E. Schmidt „Welfare and Work in the Open Economy„ (2 Bände), Oxford 2000, Vol. 1 „From Vulnerability to Competitiveness", S.21-124.]

Ein allgemeiner Rückzug des Staates und/oder ein Abbau des Wohlfahrtsstaates im besonderen sind ebenfalls kaum empirisch festzustellen. Die Staatsquote ist ebenso wie der Anteil der Sozialausgaben relativ stabil oder sogar eher steigend. Die Finanzierungsprobleme ergeben sich im wesentlichen aus der hohen Arbeitslosigkeit, der demographischen Entwicklung und den steigenden Ansprüchen der Bürger an die Gesundheitsfürsorge. Nur erstere dürfte etwas mit der Globalisierung zu tun haben. Die Globalisierung könnte verstärkt ein Dilemma zwischen hohen Löhnen und hoher Beschäftigung produzieren. Dieses Dilemma stellt sich aber auch in einer geschlossenen Wirtschaft. Gegen eine monokausale Schuldzuweisung an die Globalisierung spricht die unterschiedliche Höhe der Arbeitslosenquoten in verschiedenen reichen Ländern, die unterschiedlichen nationalen Arbeitsmarktpolitiken, vor allem für die expandierenden Dienstleistungssektoren geschuldet sein dürfte. Weiter wäre es naheliegend (wenn auch empirisch wenig belegt), wenn reiche Bürger Länder mit starker Umverteilung verlassen und Arme dorthin einwandern würden, womit sich die Umverteilungsprobleme im Inland verschärfen, im Ausland abschwächen und dieser Trend sich selbst weiter verstärken würde.

Überwiegend gilt für die reichen Länder ähnlich wie für die ärmeren, dass die meisten Probleme, die der Globalisierung zugeschrieben werden, politisch und gesellschaftlich unbewältigte Verteilungsprobleme zwischen Verlierern und Gewinnern von internationalen Transaktionen (und in manchen Fällen nicht einmal von internationalen, sondern nationalen Entwicklungen) sind. Unbestreitbar ist jedoch, dass Verteilungsprobleme und marktbedingte Risiken in

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zunehmenden Maße grenzüberschreitend sind, d.h. Aktivitäten von Akteuren in anderen Ländern die Einkommens- und Wohlstandschancen im eigenen Land beeinflussen. Darüber Gestaltungsspielräume zu gewinnen, liegt im Interesse der Betroffenen. In Demokratien erwarten sie in der Regel, dass ihre Regierungen ihre Interessen vertreten. Geben die Regierungen Kompetenzen an inter- oder supranationale Organisationen ab oder binden sie sich durch Verträge an die Zustimmung anderer Regierungen, so empfinden sie das als Souveränitätsverlust. Er ist entweder durch Renationalisierung oder durch Demokratisierung der global governance aufzufangen.

Betrachtet man die Interessen und den Bedarf an politisch-administrativer Marktsteuerung näher, so leuchtet rasch ein, dass derartige Regulierungen nachgerade eine Voraussetzung für die Zunahme wirtschaftlicher Transaktionen und damit von Wachstum und Wohlstand sind. Dabei geht es nicht nur um klassische Eigentumsrechte oder die Versorgung mit einer stabilen Währung, sondern auch um eine Fülle feinerer, mikroökonomischer Regulierungen, die jedem bekannt sind, der etwa den aufwendigen Transformationsprozess der früheren Planwirtschaften verfolgt hat oder die Übernahme des umfangreichen acquis communautaire der EU durch die postkommunistischen Beitrittsländer. Nehmen wir nur einige typische Akteure:

  • Konsumenten, die ein Produkt kaufen, tun dies aus einer Situation asymmetrischer Information heraus. Der Produzent bzw. Verkäufer kennt die wahren Qualitäten und den Kostpreis viel besser als der Käufer, der bestenfalls den Vorteil hat, seine eigenen Bedürfnisse, also den Nutzen des Produkts für sich und die Opportunitätskosten besser einschätzen zu können. Um die aus dieser asymmetrischen Informationslage entspringenden Risiken zu minimieren, müsste der einzelne Konsument prohibitiv hohe Informationskosten übernehmen. Davon entlasten ihn verschiedene Mechanismen wie das Vertrauen in bewährte Tauschpartner, formalisiert etwa in Marken, aber auch Gütesigel etwa des TÜV oder die Gewissheit, dass bestimmte Sicherheits- und Qualitätsstandards staatlich vorgeschrieben und kontrolliert sind. Schließlich schützt ihn im Notfall das Recht, das den Verkäufer zwingt, für bestimmte Mängel zu haften, und die Gewissheit, dass der Justizapparat dieses Recht auch durchsetzt. Ohne diese Regulierungen und Rahmenbedingungen setzt sich der Käufer Risiken aus, die zu übernehmen er in der Regel nur bei Notlagen oder gewaltigen Preisvorteilen bereit ist. Bei grenzüberschreitenden Transaktionen erleichtern meist spezialisierte Importeure bzw. Exporteure diese Probleme, aber in dem Maße, wie Grenzkontrollen wegfallen, etwa im EU-Binnenmarkt, müssen die nationalen Regulierungen transnationalisiert werden.

  • Investoren, seien sie Unternehmer, die in einem bestehenden Unternehmen Produktionsentscheidungen treffen oder solche, die ein Unternehmen neu gründen wollen, oder Kapitalgeber, die die Risiken einer Investition einschätzen müssen, hängen noch stärker als Konsumenten von einer Fülle schwer zu kontrollierender Risiken ab, vor denen sie nicht zuletzt staatlichen Schutz durch Politik und Verwaltung erwarten. Ein wichtiger Bereich betrifft die Wettbewerbsbedingungen, die durch staatliches Handeln selbst, aber auch durch die Möglichkeiten anderer, konkurrierender Unternehmen (etwa der Versuch, marktbeherrschende Stellungen zu gewinnen) bestimmt werden. Im grenzüberschreitenden Wettbewerb nehmen diese Risiken zu, da andere Staaten „ihre„ Unternehmen anders behandeln, und werden durch spezifische Risiken wie z.B. das Wechselkursrisiko verstärkt.

  • Arbeitnehmer wären nicht nur in einer schwächeren Position, sondern technisch weitgehend überfordert, wenn sie alle arbeitsrechtlichen Details mit dem Arbeitgeber verhandeln müssten, statt sich auf kollektiv ausgehandelte oder gesetzliche Regelungen zu verlassen. Treten noch die sozialrechtlichen (Kranken-, Arbeitslosen- und Altersversicherung – um nur die drei wichtigsten zu nennen) hinzu, so hängen die Einkommens- und Lebenschancen zu einem erheblichen Teil von Faktoren ab, die sich deutlich von

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    den marktmäßig bestimmten Einflüssen (Qualifikation, Angebot und Nachfrage) unterscheiden. Grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften, soweit sie nicht nur im Topsegment der bestverdienenden Experten oder im Untergrund der Schwarzarbeit stattfindet, ist darauf angewiesen, dass die Betroffenen nicht nur den Reallohn vergleichen, sondern auch die Risiken und Sicherheiten, die sie mit in Kauf nehmen.

Diese staatlichen und/oder gesellschaftlichen Regelungen definieren marktvermittelte Lebens- und Einkommenschancen und –risiken. Sie haben auch bei formaler Symmetrie und „Objektivität„ angesichts realer Unterschiede in der Ressourcen- und Informationsausstattung der Marktteilnehmer distributive und eventuell redistributive Wirkungen, die immer konfliktträchtig sind. Im internationalen Bereich, wo die Marktteilnehmer unterschiedliche Nationalität aufweisen, können diese Konflikte zwischenstaatlichen Charakter annehmen und müssen durch diplomatische Verhandlungen gelöst werden, wenn gefährlichere „Lösungs„-optionen vermieden werden sollen.

Insgesamt ist die Globalisierung schon heute deutlich mehr reguliert als Marktapologeten und Globalisierungskritiker wahrhaben wollen. Marktteilnehmer sind schon im nationalen Binnenmarkt, aber erst recht in offenen und globalen Märkten Risiken ausgesetzt, die sie selbst nur zu sehr hohen Kosten reduzieren können. Sie erwarten daher vor allem von der Politik (dem Staat, der Regierung), dass sie diese Risiken reduziert. Umgekehrt sind sich vor allem demokratische Regierungen über diese Erwartungen ihrer Wähler im klaren und gestalten Öffnungsprozesse und „die Globalisierung„ oder flankieren sie durch nationale Politiken schon heute in einem Maße, das diesen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung trägt. [Vgl. Elmar Rieger und Stephan Leibfried „Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates„ Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2001]
Trotzdem mag dieses eher an spezifischen, nationalen Interessen orientierte Regulierungsskelett ungenügend sein. Das im Vergleich zur deutlich stärker geordneten Bretton-Woods-Periode (1945-72) geringere Wachstum in der globalisierten Weltwirtschaft könnte Ausdruck der Tatsache sein, dass weltweit Investoren in dieser – sicher auch chancenreichen – weniger geordneten Offenheit stärkere Risiken sehen, die nur entsprechend profitablere Investitionen sinnvoll erscheinen lassen. Es ist nicht zuletzt die Minderung solcher Risiken, insbesondere der Wechselkursrisiken, die Europa zur Gründung der Währungsunion in der Hoffnung auf langfristig höheres Wachstum veranlasst haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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