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[Seite der Druckausg.: 23 (Fortsetzung)]



3 Die notwendige Demokratisierung der unpopulären Integration


Nationale Politiken und Strukturen sind also mit dem Muster der europäischen „Globalisierung„ weder sicher noch dauerhaft kompatibel, sondern der Preis ihrer Beibehaltung kann schmerzhaft ansteigen. Bisher haben die EU-Mitgliedstaaten auf Teile ihrer nationalen Souveränität verzichtet, da sie sich davon Vorteile beim Management der realen Anpassungen

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erwarteten. Aber bleibt das so? Für Länder wie Luxemburg und Irland könnte etwa eine Steuerharmonisierung in der EU das Ende geliebter Einnahmequellen bedeuten. Im Euroland mögen harte Alternativen zwischen Einkommenseinbußen oder Beschäftigungsverlusten oder die erschwerte Finanzierbarkeit von wohlfahrtsstaatlichen Systemelementen die Bürger besonders irritieren, wenn sie als Auswirkung innereuropäischen Wettbewerbs erlebt werden. Schon heute benutzen nationale Regierungen die EU als Sündenbock für „unpopuläre„ Politiken. Das hat vor allem seit den Beschlüssen von Maastricht mit ihren weitreichenden Folgen das Ansehen der EU gesenkt und die Zustimmung zur Integration untergraben (vgl. Tabelle 7). Die EU scheint damit das Schicksal der inzwischen verschrieenen Globalisierung zu teilen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass für bestimmte Länder bzw. Zielgruppen (z.B. arme Regionen, Bauern) die EU selbst durch ihre redistributiven Politiken die Einkommenschancen bestimmt. Im Gegenteil: Die Aufrechterhaltung dieser Umverteilungsstrukturen ist Gegenstand massiver politischer Konflikte in der EU. Ihr Management ist eine weitere Aufgabe der europäischen Mehrebenen-Demokratie.

Tabelle 7: Zustimmung und Bewertung der EU-Mitgliedschaft

1983

1990

1996

2000

EU Mitgliedschaft „gute Sache„

54

72

47

50

EU-Mitgliedschaft vorteilhaft für mein Land

52

59

44

47

Quelle: Eurobarometer

Die euroskeptischen EU-Bürger – ganz zu schweigen von den Regierungen einzelner Mitgliedstaaten - haben aber nur bedingt Anlass, sich über mangelnde demokratische Einwirkungsmöglichkeiten zu beschweren. Sie sind – wenn auch meist indirekt – an den wichtigsten Entscheidungen beteiligt:

  • Die erste und wichtigste Entscheidung ist der Beitritt eines Landes zu EU selbst. Er wird nicht nur vom Parlament beschlossen, sondern war in vielen Ländern auch Gegenstand eines Referendums, das gelegentlich (z.B. in Norwegen und der Schweiz) auch negativ ausging. Auch Parlamente haben sich schon gegen einen Beitritt bzw. die Einleitung eines entsprechenden Verfahrens ausgesprochen (z.B. Malta Anfang der 90er Jahre).

  • Änderungen der konstitutionellen Grundlagen der Integration in Gestalt der Verträge sind jeweils von den nationalen Parlamenten zu verabschieden und unterliegen in einigen Mitgliedstaaten zusätzlich noch Volksabstimmungen, die keineswegs bedeutungslos sind, wie die dänische Ablehnung des Maastrichtvertrages und die irische Ablehnung des Vertrages von Nizza belegen.

  • Die Assoziierung und Erweiterung (vor allem auch um ärmere Kandidaten) ist im Sinne einer weiteren Globalisierung eine der kritischsten Entscheidungen, die die EU zu treffen hat. Sie ist ebenfalls in allen Altmitgliedern vom Parlament zu ratifizieren. Eine Gedankenspiel des Erweiterungskommissars Verheugen, auch Referenden dazu durchzuführen, stieß auf verbreitete Kritik. In der Tat hat jedoch Frankreich vor der Aufnahme Großbritanniens (und Irlands und Dänemarks) ein Referendum durchgeführt, das der Erweiterung zustimmte.

  • Die Handelspolitik ist Kompetenz der Kommission (ohne Mitwirkung des Parlaments) und daher der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen. Allerdings gibt es natürlich ein Lobbying sowohl der Regierungen als auch betroffener Industrien.

  • Der Binnenmarkt unterliegt dem „normalen„ Verfahren der Beschlussfassung durch den Rat auf Vorschlag der Kommission und unter Mitwirkung des Parlaments. Obwohl viele Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit fallen können, ist in wichtigen Bereichen (noch) Einstimmigkeit (z.B. Steuerharmonisierung) erforderlich.

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Die Entscheidungsverfahren in der Mehrebenenpolitik der EU sind naturgemäß noch weiter vom Wahlbürger entfernt als nationale demokratische Prozesse. Allerdings haben sich mit der Direktwahl des europäischen Parlaments (EP) die Mitwirkungsmöglichkeiten verbessert. Aber das EP hat nur beschränkte Kompetenzen, die viele wichtige Bereiche ausklammern. Die Wahlbeteiligung ist notorisch gering, wenn es keine Wahlpflicht gibt oder die Wahl nicht mit nationalen Wahlen zusammenfällt. Das geringe Interesse der Wähler resultiert einmal aus der perzipierten Schwäche des Parlaments, zum andern aus der Struktur der europäischen Parteien. Trotz verbreiteter Euroskepsis (siehe oben Tabelle 7) gibt es kaum nennenswerte politische Kräfte, insbesondere Parteien, die eine euroskeptische oder gar Anti-Integrationsprogrammatik vertreten, mit der notorischen Ausnahme der britischen Konservativen. Dieses Fehlen einer cleavage zwischen Integrationsgegnern und -befürwortern in den polities der EU behindert eine demokratische Kontrolle der EU. Wenn die Integrationsverlierer zu Mehrheiten werden, könnte sich das aber rasch und dramatisch ändern. [Vgl. Philippe C. Schmitter, „How to Democratize the European Union And Why Bother?„ London, Boulder, New York, Oxford 2000.]

Am stärksten ist die europäische Geldpolitik einer demokratischen Kontrolle entzogen. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank übertrifft sogar noch ihr Vorbild, die deutsche Bundesbank. Wechselkurs- und Fiskalpolitik sind aber stärker intergouvernemental im Rahmen des ECOFIN-Rates organisiert. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt schränkt hier die nationalen Handlungsspielräume weiter mit massiven Sanktionsandrohungen ein. Es bleibt abzuwarten, wie gut die Konfliktregelung bei stärkeren Unterschieden in Politikpräferenzen (z.B. angesichts assymetrischer Schocks) funktioniert. [Vgl. kritisch dazu Christian Deubner „Währungsunion ohne Politische Union?„ SWP-Studie, Berlin 2001, der davon ausgeht, dass die vorhandenen Instrumente ausreichen.]
Die Regierungen werden möglicherweise starkem gesellschaftlichem Druck ausgesetzt sein, wenn Anpassungslasten direkter in Form von Realeinkommenseinbußen bestimmter Gruppen anfallen.

Die eigene Regierung, die sich der Wiederwahl stellen muss, bleibt der wichtigste Ansprechpartner der Wähler bezüglich die Integrationspolitik. Die Regierungen haben den mächtigsten Einfluss auf die Gestaltung der EU-Politik und der Integration. Die europäische Einigung ist primär ein intergouvernementales Projekt. In vielen wichtigen Fragen bedarf es der Einstimmigkeit im Rat, nicht zuletzt bei wichtigen institutionellen Entscheidungen wie der Ernennung der Kommission. Ansonsten sichert die qualifizierte Mehrheit auch kleineren Ländern einen überproportionalen Einfluss zu – wie übrigens auch im Parlament. Die Regierungen unterliegen zwar prinzipiell in ihren jeweiligen Ländern der parlamentarischen Kontrolle, aber de facto ist ihr Verhalten im Rat bzw. den verschiedenen Räten und in den real fast wichtigeren vorgelagerten Treffen des Ausschusses der Ständigen Vertreter (COREPER) weitgehend der Aufsicht und Mitwirkung der Legislative entzogen. Es sind die verschiedenen, inzwischen sehr zahlreichen Ministerien (nicht nur das Außenministerium, sondern auch fast jedes andere hat heute Europaabteilungen oder -referate), die den Gesetz- und Verordnungsprozess der EU steuern.

Allerdings darf man sich diesen Prozess nicht als hermetisch gegen die Gesellschaft abgeschirmte Geheimdiplomatie vorstellen. Wichtige Interessengruppen (Unternehmer, Verbraucher, Umweltorganisationen etc.) nehmen auf ihn durch ihre Lobbyorganisationen, von denen es inzwischen in Brüssel ein große Anzahl gibt, Einfluss. Im Bereich der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen und der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern fördert und unterstützt die EU offiziell eine Art „Eurokorporatismus„. Aber es fehlt letztlich eine europäische Öffent-

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lichkeit, die die Meinungsbildung eines europäischen demos strukturiert. Schon aus Sprachgründen dominiert nach wie vor die nationale polity.

Nationale politische Erfahrungen, Strukturen und Kultur prägen auch die Erwartungen der jeweiligen Gesellschaften an die politische Gestaltung der europäischen Einigung. Für die Briten braucht Europa keine Verfassung, für die Deutschen wäre es am besten eine große Bundesrepublik, für die Franzosen steht eine effiziente Verwaltung im Vordergrund, deren parlamentarische und zivilgesellschaftliche Kontrolle zweitrangig erscheint. [Vgl. Larry Siedentop „Democracy in Europe„ Harmondsworth 2000.] Derartige Unterschiede, die sich unter 15 oder demnächst 25 Mitgliedstaaten noch vermehren lassen, erschweren naturgemäß den Aufbau einer europäischen Staatlichkeit und produzieren Konflikte über Verfahren und Institutionen, auch wenn diese keine direkte Auswirkung auf den eigentlich wichtigeren sozioökonomischen Output der Integration haben.

Die Unzufriedenheit der Wähler sowie regionaler und nationaler Interessen mit dem Output der europäischen Politik artikuliert sich in immer wieder neuen Überlegungen und Vorschlägen zur Kompetenzverteilung, einer anderen Gewaltenteilung, eventuell gebündelt in einer Verfassung. Mehr Subsidiarität und Flexibilität sollen die Europapolitik den Bürgern und nationalen Wünschen näher bringen. Doch angesichts der realen Integration der Märkte wirft die Differenzierung der Politik stets neue Probleme auf. Lässt man mehr nationale Alleingänge, opting-outs und Sonderregelungen zu, so droht sich der Systemwettbewerb wieder zu verschärfen, der durch harmonisierte Bedingungen gerade in geregelte Bahnen gelenkt werden sollte.

Man nehme etwa die Wettbewerbspolitik: Die Gestaltung des Binnenmarkts ist nach der Währungsunion der Bereich, in dem die EU besonders weit über die globalen Regime hinausgegangen ist, um ein level playing field in Europa herzustellen. Ließe die EU mehr Ausnahmen zu, so würden sich die Konkurrenten in anderen Länder in ihren Interessen bedroht fühlen. Die Konsumenten profitieren zwar von jeder Kostensenkung (durch Subventionen, öffentliche Vorleistungen etc.), aber die Regierungen reagieren im Namen der Produzenten und eventuell auch im langfristigen Interesse der Konsumenten. Denn durch unfairen Wettbewerb könnte die Produzentenvielfalt ausgedünnt werden und späteren Preiserhöhungen durch die überlebenden Oligopolisten ist vorzubeugen, wenn die Marktzugangsbarrieren für Neuanbieter hoch sind. Setzt die EU jedoch harmonisierte Bedingungen durch, so betritt sie einen endlosen Sumpf immer weiterer Regulierungstatbestände (Forschung, Infrastruktur, Bildung/Ausbildung, Arbeitsrecht Arbeitsbeziehungen, soziale Systeme, etc.), da sie alle die Kostenstruktur der Konkurrenten beeinflussen. Und diese Kostenstruktur wird im Euroland noch transparenter.

Hier vermengen sich alsbald zwei unterschiedliche Ansätze europäischer Politik. Der enge, realistische Ansatz würde nur die Tatbestände regulieren, die real grenzüberschreitende Märkte berühren. Supranational wäre demnach nur zu regeln, was national nicht mehr zu kontrollieren ist. Umgekehrt dürfte die EU sich nicht in nationale, „innere„ Angelegenheiten einmischen, die keine Außenwirkungen haben. Dieses Verbot entspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Der zweite, normative Ansatz will gemeinsame europäische Werte durchsetzen. Das impliziert aber, dass diese gemeinsamen Normen demokratisch festzulegen sind, wobei der Grad der Zustimmung (qualifizierte Mehrheit, Einstimmigkeit) von der Tragweite der Normen abhinge. Bei real sehr unterschiedlichen Strukturen bedeutet die Anwendung einheitlicher Normen naturgemäß sehr unterschiedliche Anpassungslasten.

Illustriert am Beispiel der Umweltpolitik hieße das: Im ersten Fall wird nur grenzüberschreitende Verschmutzung reguliert, während man die unterschiedlichen Standards ignoriert. Im

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zweiten Fall sollen überall in der EU die gleichen Standards für saubere Umwelt (Luft, Wasser etc.) gelten, auch wenn das sehr unterschiedliche Investitionen erfordert und die nationalen Präferenzen anders liegen. Die tatsächlich zentrale Frage, ob ein Anbieter sich durch geringere Auflagen Wettbewerbsvorteile schaffen darf, liegt dazwischen. Zwar verteilen Umweltauflagen direkt nur Kosten zwischen den Verschmutzern und den „Umweltkonsumenten„, die durch die vor der Regulierung stattfindende Externalisierung betroffen waren, um, also meist innerhalb eines Landes (sonst griffe der erste Ansatz); aber die weitere Überwälzung der Kosten auf die Preise und damit auf die Wettbewerbsbedingungen europaweit gehandelter Güter schafft weiteren Regelungsbedarf, der demokratisch zu steuern ist.

Ähnlich stellt sich das Problem in bestimmten Bereichen der Sozialpolitik bzw. des Schutzes der Arbeitnehmerinteressen. Eine Begrenzung der Arbeitszeit, eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz oder mehr Mitbestimmung senken – zumindest kurzfristig [Steigt langfristig die Produktivität aufgrund besserer Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer (weniger Krankheit etc.) oder weniger Arbeitskonflikte, so löst sich das Dilemma ohnehin in Wohlgefallen auf..] – die Produktivität der Beschäftigten und verteilen damit auch in einer geschlossenen Volkswirtschaft Wohlfahrt von Unternehmen und letztlich Konsumenten auf die Arbeitnehmer um. Wenn dies politisch in einem Land gewünscht ist, so ist das zunächst eine nationale Angelegenheit. Sie verschlechtert aber auch die Wettbewerbsposition wie umgekehrt eine Lockerung solcher Schutzregeln die Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Damit droht ein Unterbietungswettlauf, bei dem die Konsumenten im unterbotenen Land profitieren, die Produzenten jedoch potentiell aus dem Markt gedrängt werden, wenn nicht durch Abwertung, Zölle oder Subventionen wieder eine Rückverteilung von Konsumenten auf die Produzenten erfolgt. Diese Instrumente verbieten sich aber alle im Euroland. Damit stellt sich das Problem einheitlicher, auf EU-Ebene zu setzender Normen, deren Umverteilungseffekte zwangsläufig politische Konflikte auslösen, die durch eine demokratische Gestaltung der Integration zu lösen sind.

So überzieht die reale Marktintegration Europa und die globalisierte Weltgesellschaft mit gegenseitigen Abhängigkeiten, die immer auch schon das Produkt politischer Entscheidungen sind und deren Regelung die Betroffenen von der Politik, und das heißt primär der ihnen jeweils zugänglichen, meist nationalen Politik, erwarten. Diese Regelung erfasst aber zwangsläufig kulturelle, gesellschaftliche und politische Strukturen und Interessen verschiedener Staaten und Regionen. Sie übersetzen sich in machtpolitische Konflikte, deren Austragung in institutionalisierten demokratischen Bahnen auch für den Frieden wichtig ist. Europa und die EU haben hier viel erreicht und könnten ein Vorbild sein. Aber sie zeigen auch deutlich die gewaltigen Probleme, die auf diesem Weg liegen, und deren Lösung auch in Europa noch lange nicht gelungen ist.

Die EU hat versucht und versucht weiter, Auswege aus diesem Dilemma zu finden. So hat sie in jüngster Zeit gerade im Bereich der schwierigen Reform der Sozial- und Beschäftigungspolitik die Methode der „offenen Koordinierung„ gewählt, die weniger verbindlich als etwa die Verabschiedung einer EU-Richtlinie ist, für die in einigen Bereichen auch die vertraglichen Grundlagen fehlen. Aber das Unbehagen der Mitgliedstaaten und auch der darunter befindliche Gebietskörperschaften (z.B. Bundesländer) bleibt stark. Sie sehen wichtige Interessen einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen gefährdet und verlangen eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen. Die beim EU-Gipfel in Laeken Mitte Dezember 2001 ins Auge gefasste Verfassung könnte und sollte hier Klarheit herbeiführen und die Grundlagen für eine demokratische Gestaltung der Integration schaffen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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