FES | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
|
TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.:17] 4. Außenpolitik und Probleme der nationalen Sicherheit Nahezu alle Experten (86%) konstatieren für das vergangene Jahrzehnt eine Schwächung der nationalen Sicherheit des Landes. In dieser Frage stimmen ale Gruppen und Strömungen der russischen außenpolitischen Elite überein. Als ernste Bedrohung der nationalen Sicherheit wurden Gefahren von außen (internationaler Terrorismus, die Expansion des islamischen Fundamentalismus, Dominanz der USA), wie von innen (technologischer und wirtschaftlicher Rückstand und unzureichende Konkurrenzfähigkeit russischer Waren wie der mögliche Zerfall Russlands) genannt: Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands
Im Gegensatz zum Westen fällt auf, dass die außenpolitische Elite den globalen Gefahren, d.h. vor allem ökologischen Gefahren, kaum große Beachtung beimisst. Dieser Umstand hat vielfach mit den Besonderheiten der Transformationsperiode zu tun, die seit Anbeginn unter dem Primat der Innenpolitik stand. Als prioritäres Ziel galt es, das Überleben des Landes zu sichern, seinen Zerfall zu verhindern und die Erfordernisse der Restrukturierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft mit einem Minimum an innergesellschaftlichen Konflikten einzuleiten und durchzusetzen. Dieser Aufgabenkomplex wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Maßnahmen hat eine teilnehmende und aktive Außenpolitik als auch globalpolitische Sichtweise der außenpolitischen Funk- [Seite der Druckausg.:18] tionselite Russland gehemmt. Nach außen ist damit gleichsam der Eindruck vermittelt worden, das Land konzentriere sich allzu sehr auf die Lösung kurzfristiger Aufgaben, sei sogar anfällig für isolationistische Illusionen oder habe aufgrund seiner nur sektoralen Integration in den Weltmarkt die Bedeutung der Globalisierung nicht erkannt. Unbestritten dominieren kurzfristige Politikansätze. Langfristige oder strategische Überlegungen, auf welche Sektoren das Land setzen und diese auch fördern soll, um zumindest einen Nischenplatz in der internationalen Arbeitsteiligkeit zu besetzen, und welche außen- und sicherheitspolitische Orientierung einer solchen Strategie angepasst wären, wurden in der gesamten Periode der vorhergehenden Präsidentschaft Jelzins nicht angestellt. Erst seit dem März 2000 hat sich hier eine Besserung eingestellt. Dennoch ist noch ein erschreckender Mangel an langfristigen und perspektivischen Denken feststellbar, so dass zukünftige Herausforderungen nicht als akute Bedrohung empfunden werden. In erster Linie fehlt der außenpolitischen Elite das Bewusstsein sich mit Fragen der erweiterten Sicherheitsagenda, also ökologischen, technologischen und sozialen wie wirtschaftlichen Herausforderungen auseinander zu setzen. Daraus resultierende Gefährdungen (wie die Aufzehrung von Rohstoffen, Klimaerwärmung, vertragswidrige Verbreitung von Kernwaffen oder die demographische Expansion Chinas in den sibirischen Raum) werden zwar abstrakt als Bedrohung empfunden, aber außerhalb der autorisierten Kompetenz des Außenministeriums angesiedelt. Obwohl unter den Gefahren für die nationale Sicherheit in erster Linie wachsende Spannungen zu den USA und zum Westen insgesamt hervorgehoben werden, erscheint der außenpolitischen Elite die Gefahr der Rückkehr zum Kalten Krieg nicht sonderlich groß. In den letzten fünf Jahren sank der Anteil jener, die an diese Möglichkeit glauben, ungefähr um ein Drittel (siehe Tabelle 9). Der Anteil derer, die eine solche Rückentwicklung für möglich halten, liegt immerhin noch deutlich höher als 1993. Der Grund für diesen Wahrnehmungswandel dürfte darin liegen, dass sich trotz aller Schwierigkeiten im Verhältnis zum Westen, und insbesondere zu den USA, stabile Mechanismen des Zusammenwirkens herausgeschält haben: Die westliche Massenkultur ist zum Bestandteil des russischen Alltags geworden, Kontakte im Bereich der Bildung, des Tourismus etc. haben sich um ein Vielfaches intensiviert. Ausländische Direktinvestitionen werden als wichtiger Faktor der wirtschaftlichen Entwicklungen des Landes eingestuft. Die Monitorfunktion internationaler Organisationen wie IMF und Weltbank wird zwar kritisiert aber als reale Bezugsgröße russischer Politik akzeptiert. Weder eine Mehrheit der außenpolitischen Elite noch der Bevölkerung glauben an ein erneutes Aufflackern des Kalten Krieges. Tabelle 9 Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg (in %)
[Seite der Druckausg.:19] Das Ergebnis bestätigt sich auch für Gruppen, die Präsident W. Putin sehr kritisch beurteilen (siehe Tabelle 10). Tabelle 10 Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg durch Anhänger und
Darüber hinaus ist interessant, dass die Frage nach dem Status des Landes - ob Russland eine Großmacht bzw. ein Imperium ist oder zu den führenden Ländern dieser Welt zählen soll - immer realistischer beantwortet wird. Für die Mehrzahl der Experten (ca. 51%) ist es weniger relevant, ob Russland wieder zu einer Großmacht wird. Diese realistische Orientierung bedeutet aber nicht, dass Russland etwa die Rolle eines global players aufgegeben hat. Wenn es um die Verteidigung konkreter Interessen oder um die Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit durch externe Faktoren geht, (siehe Tabelle 11), zeigt sich eine prägende Tendenz der Selbstbehauptung, sich nicht zum Spielball externer Machtkonstellationen machen zu lassen. Eine solche Tendenz zeigt sich vor allem in Bezug auf konkrete Zonen lebenswichtiger nationaler Interessen, wie im Bereich der Informationsexpansion des Westens. Tabelle 11 Reaktionen auf eine eventuelle Gefährdung der nationalen Sicherheit (in %)
Aufschlussreich ist, und dies belegt eine neue Phase in der Tendenz zur Selbstbehauptung, dass sich langsam eine neue Identität herauskristallisiert, die nicht im Kontext der sowjetischen Vergangenheit genannt werden will. Signifikant scheint, dass insbesondere jüngere Experten (bis 40 und zwischen 40 und 50 Jahre) für eine aktive und selbstbewusste Politik des Landes eintreten. Für 35-40% dieser Gruppe ist die Selbstbestimmung Russlands als Großmacht von entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig vertreten jüngere Experten in praktischen Fragen eine nicht minder glasharte Position wie ihre älteren Kollegen. [Seite der Druckausg.:20] Ausgeprägt ist auch, dass die Praktiker in der außenpolitischen Elite weniger kompromissbereit und flexibel sind als unabhängige Analytiker. So wurde die Bedeutung der Großmachtstellung von 54 % der Praktiker und lediglich von 33 % der Analytiker bejaht (siehe Tabelle 12). Tabelle 12 Zustimmung zu den Thesen zur nationalen Sicherheit des Landes unter
Bei er Frage nach den Hauptgefährdungen für das russische Ansehen in der Welt zeigt sich eine eindeutige Dominanz der inneren Probleme des Landes. Im Unterschied zu den Bedrohungen der nationalen Sicherheit nehmen hier die wirtschaftliche Schwäche des Landes, seine Korruption und Kriminalität die zentrale Stellung ein. Zwar beschädigt der Krieg in Tschetschenien ebenfalls das Ansehen Russlands in der Welt, jedoch wird er wesentlich weniger genannt, als noch vor fünf Jahren (siehe Tabelle 13). Tabelle 13 Faktoren, die das russische Ansehen in der Welt beschädigen (in %)
[Seite der Druckausg.:21]
In der Frage der viel diskutierten Pläne der US-amerikanischen Administration, ein Raketenabwehrsystem aufzubauen, teilen sich die Ansichten der Experten: 28% halten diese Pläne für eine wirkliche Gefahr, weil Russland darauf keine entsprechende Antwort im militärpolitischen Bereich geben könne. 15% meinen hingegen, dass von diesen Plänen keine Gefahr ausgehe. Eine relative Mehrheit (41%) geht das Problem eher dialektisch an: Die Gruppe sieht in den amerikanischen Plänen eine potentielle Bedrohung, die Russland dazu zwinge, sein Militärpotential zu stärken und zu modernisieren. Für 49% der Experten, die offensichtlich solchen Überlegungen anhängen, führt das unilaterale Vorgehen der USA bei AMD/BMD dazu, dass nolens volens neue Akzente in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Russlands gesetzt werden und dabei letztlich auch wieder das Thema der vorrangigen Entwicklung von taktischen Atomwaffen auf die Tagesordnung gelangt. Hingegen sprechen sich 25% für die vorrangige Entwicklung der konventionellen Streitkräfte und deren Modernisierung aus. Für russische Verhältnisse nicht unbeträchtlich ist aber auch der Teil der außenpolitischen Elite, der für die Abrüstung sowohl der Kernwaffen, als auch der Konventionalwaffen eintritt. Das Land solle sich ausschließlich auf die friedliche wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren, meinen erstaunlicherweise 16 %. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001 |