FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.:17]


4. Außenpolitik und Probleme der nationalen Sicherheit

Nahezu alle Experten (86%) konstatieren für das vergangene Jahrzehnt eine Schwächung der nationalen Sicherheit des Landes. In dieser Frage stimmen ale Gruppen und Strömungen der russischen außenpolitischen Elite überein.

Als ernste Bedrohung der nationalen Sicherheit wurden Gefahren von außen (internationaler Terrorismus, die Expansion des islamischen Fundamentalismus, Dominanz der USA), wie von innen (technologischer und wirtschaftlicher Rückstand und unzureichende Konkurrenzfähigkeit russischer Waren wie der mögliche Zerfall Russlands) genannt:

Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands
(in %, (Mehrfachnennungen)

  • 61,0

Internationaler Terrorismus, mögliche Expansion des islamischen Fundamentalismus auf russisches Territorium

  • 58,6

Niedrige wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit Russlands

  • 54,8

Wachsender wissenschaftlicher und technischer Rückstand zu den entwickelten westlichen Ländern

  • 52,9

Fortsetzung der NATO-Osterweiterung (Aufnahme ehemaliger Republiken der UdSSR wie die Baltische Länder, Ukraine, Georgien etc.)

  • 51,4

Weltherrschaft der USA und ihrer engsten Verbündeten

  • 51,0

Pressionen internationaler Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, um Russland als wirtschaftlichen Konkurrenten zu beseitigen.

  • 26,2

Gefahr eines Zerfalls Russlands

  • 18,6

Informationskriege, informationspsychologische Einwirkung auf Russland

  • 17,1

Politische und demographische Expansion Chinas

  • 16,7

Schwächung der UNO und Zerstörung des internationalen Systems der kollektiven Sicherheit

  • 15,7

Große technische Katastrophen

  • 11,9

Vertragswidrige Verbreitung der Atomwaffen

  • 10,0

Globale Gefahren (Klimaerwärmung, Zerstörung der Ozonschicht, AIDS, Aufzehrung der Naturressourcen usw.)

  • 7,1

Gebietsansprüche an Russland seitens der Nachbarstaaten

  • 3,3

Eine reale Bedrohung der nationalen Sicherheit besteht nicht



Im Gegensatz zum Westen fällt auf, dass die außenpolitische Elite den globalen Gefahren, d.h. vor allem ökologischen Gefahren, kaum große Beachtung beimisst. Dieser Umstand hat vielfach mit den Besonderheiten der Transformationsperiode zu tun, die seit Anbeginn unter dem Primat der Innenpolitik stand. Als prioritäres Ziel galt es, das Überleben des Landes zu sichern, seinen Zerfall zu verhindern und die Erfordernisse der Restrukturierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft mit einem Minimum an innergesellschaftlichen Konflikten einzuleiten und durchzusetzen. Dieser Aufgabenkomplex wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Maßnahmen hat eine teilnehmende und aktive Außenpolitik als auch globalpolitische Sichtweise der außenpolitischen Funk-

[Seite der Druckausg.:18]

tionselite Russland gehemmt. Nach außen ist damit gleichsam der Eindruck vermittelt worden, das Land konzentriere sich allzu sehr auf die Lösung kurzfristiger Aufgaben, sei sogar anfällig für isolationistische Illusionen oder habe aufgrund seiner nur sektoralen Integration in den Weltmarkt die Bedeutung der Globalisierung nicht erkannt. Unbestritten dominieren kurzfristige Politikansätze. Langfristige oder strategische Überlegungen, auf welche Sektoren das Land setzen und diese auch fördern soll, um zumindest einen Nischenplatz in der internationalen Arbeitsteiligkeit zu besetzen, und welche außen- und sicherheitspolitische Orientierung einer solchen Strategie angepasst wären, wurden in der gesamten Periode der vorhergehenden Präsidentschaft Jelzins nicht angestellt. Erst seit dem März 2000 hat sich hier eine Besserung eingestellt. Dennoch ist noch ein erschreckender Mangel an langfristigen und perspektivischen Denken feststellbar, so dass zukünftige Herausforderungen nicht als akute Bedrohung empfunden werden. In erster Linie fehlt der außenpolitischen Elite das Bewusstsein sich mit Fragen der „erweiterten Sicherheitsagenda„, also ökologischen, technologischen und sozialen wie wirtschaftlichen Herausforderungen auseinander zu setzen. Daraus resultierende Gefährdungen (wie die Aufzehrung von Rohstoffen, Klimaerwärmung, vertragswidrige Verbreitung von Kernwaffen oder die demographische Expansion Chinas in den sibirischen Raum) werden zwar abstrakt als Bedrohung empfunden, aber außerhalb der autorisierten Kompetenz des Außenministeriums angesiedelt.

Obwohl unter den Gefahren für die nationale Sicherheit in erster Linie wachsende Spannungen zu den USA und zum Westen insgesamt hervorgehoben werden, erscheint der außenpolitischen Elite die Gefahr der Rückkehr zum Kalten Krieg nicht sonderlich groß. In den letzten fünf Jahren sank der Anteil jener, die an diese Möglichkeit glauben, ungefähr um ein Drittel (siehe Tabelle 9). Der Anteil derer, die eine solche Rückentwicklung für möglich halten, liegt immerhin noch deutlich höher als 1993. Der Grund für diesen Wahrnehmungswandel dürfte darin liegen, dass sich trotz aller Schwierigkeiten im Verhältnis zum Westen, und insbesondere zu den USA, stabile Mechanismen des Zusammenwirkens herausgeschält haben: Die westliche Massenkultur ist zum Bestandteil des russischen Alltags geworden, Kontakte im Bereich der Bildung, des Tourismus etc. haben sich um ein Vielfaches intensiviert. Ausländische Direktinvestitionen werden als wichtiger Faktor der wirtschaftlichen Entwicklungen des Landes eingestuft. Die Monitorfunktion internationaler Organisationen wie IMF und Weltbank wird zwar kritisiert aber als reale Bezugsgröße russischer Politik akzeptiert. Weder eine Mehrheit der außenpolitischen Elite noch der Bevölkerung glauben an ein erneutes Aufflackern des Kalten Krieges.

Tabelle 9

Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg (in %)


Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg

1993

1996

2001

Sehr wahrscheinlich

8

20

15

Nicht sehr wahrscheinlich

27

43

29

Unwahrscheinlich

58

30

50

Überhaupt nicht möglich

5

5

4

Keine Antwort

2

1

2

[Seite der Druckausg.:19]

Das Ergebnis bestätigt sich auch für Gruppen, die Präsident W. Putin sehr kritisch beurteilen (siehe Tabelle 10).

Tabelle 10

Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg durch Anhänger und
Gegner W. Putins (in %)

Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr zum Kalten Krieg

Anhänger
W. Putins

Gegner
W. Putins

Sehr wahrscheinlich

10,3

20,0

Nicht sehr wahrscheinlich/ unwahrscheinlich

82,9

74,5

Überhaupt nicht möglich

5,1

3,3

Keine Antwort

1,7

2,2



Darüber hinaus ist interessant, dass die Frage nach dem Status des Landes - ob Russland eine Großmacht bzw. ein Imperium ist oder zu den führenden Ländern dieser Welt zählen soll - immer realistischer beantwortet wird. Für die Mehrzahl der Experten (ca. 51%) ist es weniger relevant, ob Russland wieder zu einer Großmacht wird. Diese „realistische„ Orientierung bedeutet aber nicht, dass Russland etwa die Rolle eines „global players„ aufgegeben hat. Wenn es um die Verteidigung konkreter Interessen oder um die Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit durch externe Faktoren geht, (siehe Tabelle 11), zeigt sich eine prägende Tendenz der Selbstbehauptung, sich nicht zum Spielball externer Machtkonstellationen machen zu lassen. Eine solche Tendenz zeigt sich vor allem in Bezug auf konkrete Zonen lebenswichtiger nationaler Interessen, wie im Bereich der Informationsexpansion des Westens.

Tabelle 11

Reaktionen auf eine eventuelle Gefährdung der nationalen Sicherheit (in %)

Aussagen:

Einver-
standen

Nicht ein-
verstanden

Jeder Angriff auf die Stellung Russlands als Großmacht bedroht die nationale Sicherheit

45,7

51,0

Es ist notwendig, konkrete Zonen der lebenswichtigen nationalen Interessen Russlands außerhalb seines Territoriums festzulegen

76,2

20,0

Es ist erforderlich, russische Militärpräsenz in strategischen Regionen der Welt sicherzustellen

57,6

40,0

Es ist erforderlich, der Informationsexpansion des Westens entgegenzuwirken

71,4

26,2



Aufschlussreich ist, und dies belegt eine neue Phase in der Tendenz zur Selbstbehauptung, dass sich langsam eine neue Identität herauskristallisiert, die nicht im Kontext der sowjetischen Vergangenheit genannt werden will. Signifikant scheint, dass insbesondere jüngere Experten (bis 40 und zwischen 40 und 50 Jahre) für eine aktive und selbstbewusste Politik des Landes eintreten. Für 35-40% dieser Gruppe ist die Selbstbestimmung Russlands als Großmacht von entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig vertreten „jüngere„ Experten in praktischen Fragen eine nicht minder glasharte Position wie ihre älteren Kollegen.

[Seite der Druckausg.:20]

Ausgeprägt ist auch, dass die Praktiker in der außenpolitischen Elite weniger kompromissbereit und flexibel sind als unabhängige Analytiker. So wurde die Bedeutung der Großmachtstellung von 54 % der Praktiker und lediglich von 33 % der Analytiker bejaht (siehe Tabelle 12).

Tabelle 12

Zustimmung zu den Thesen zur nationalen Sicherheit des Landes unter
Analytikern und Praktikern (in %)


Thesen:

Analytiker

Praktiker

Jeder Angriff auf die Stellung Russlands als Großmacht bedroht die nationale Sicherheit

32,5

53,8

Russland hat außerhalb seines Territoriums lebenswichtige nationale Interessen, die es zu definieren gilt

72,5

78,5

Interessen der nationalen Sicherheit erfordern russische Militärpräsenz in strategisch wichtigen Regionen der Welt

53,8

60,0

Die nationale Sicherheit wird durch eine zu große soziale Kluft zwischen verschiedenen Einkommensschichten in Russland gefährdet

80,0

82,3

Die verstärkte staatliche Wirtschaftsregulierung soll zu einer Priorität der nationalen Sicherheit werden

63,8

78,5

Russland ist durch die westliche Informationshegemonie gefährdet

71,3

71,5



Bei er Frage nach den Hauptgefährdungen für das russische Ansehen in der Welt zeigt sich eine eindeutige Dominanz der inneren Probleme des Landes. Im Unterschied zu den Bedrohungen der nationalen Sicherheit nehmen hier die wirtschaftliche Schwäche des Landes, seine Korruption und Kriminalität die zentrale Stellung ein. Zwar beschädigt der Krieg in Tschetschenien ebenfalls das Ansehen Russlands in der Welt, jedoch wird er wesentlich weniger genannt, als noch vor fünf Jahren (siehe Tabelle 13).

Tabelle 13

Faktoren, die das russische Ansehen in der Welt beschädigen (in %)


Negative Faktoren

1996

2001

Wirtschaftliche Schwäche Russlands

87

80

Korruption und Kriminalität

66

67

Krieg in Tschetschenien

66

30

Schwächung des russischen militärischen Potentials

42

36

Widersprüchlichkeit der russischen außenpolitischen Doktrin

29

21

Tätigkeit von B. Jelzin/ W Putin als Präsident der RF

22

1

Gefährdung der Demokratie und Menschenrechte in Russland

16

8

Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten in der RF

8

1

Russischer Widerstand gegen die NATO-Osterweiterung

4

3

[Seite der Druckausg.:21]

  • Anti Missile Defense/AMD und Ballistic Missile Defense/BMD

In der Frage der viel diskutierten Pläne der US-amerikanischen Administration, ein Raketenabwehrsystem aufzubauen, teilen sich die Ansichten der Experten: 28% halten diese Pläne für eine wirkliche Gefahr, weil Russland darauf keine entsprechende Antwort im militärpolitischen Bereich geben könne. 15% meinen hingegen, dass von diesen Plänen keine Gefahr ausgehe. Eine relative Mehrheit (41%) geht das Problem eher dialektisch an: Die Gruppe sieht in den amerikanischen Plänen eine potentielle Bedrohung, die Russland dazu zwinge, sein Militärpotential zu stärken und zu modernisieren. Für 49% der Experten, die offensichtlich solchen Überlegungen anhängen, führt das unilaterale Vorgehen der USA bei AMD/BMD dazu, dass nolens volens neue Akzente in der Sicherheits-– und Verteidigungspolitik Russlands gesetzt werden und dabei letztlich auch wieder das Thema der vorrangigen Entwicklung von taktischen Atomwaffen auf die Tagesordnung gelangt. Hingegen sprechen sich 25% für die vorrangige Entwicklung der konventionellen Streitkräfte und deren Modernisierung aus.

Für „russische Verhältnisse„ nicht unbeträchtlich ist aber auch der Teil der außenpolitischen Elite, der für die Abrüstung sowohl der Kernwaffen, als auch der Konventionalwaffen eintritt. Das Land solle sich ausschließlich auf die friedliche wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren, meinen erstaunlicherweise 16 %.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2001

Previous Page TOC Next Page