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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 18 / Fortsetzung] 2. Generationenproblem Altersversorgung Im Mittelpunkt der Debatte über Zustand und Zukunft des sogenannten Generationenvertrages steht in der Regel die Frage nach der Zukunftstauglichkeit des Rentensystems. Die Rentenproblematik hat sich nach Einschätzung des Vertreters der Gesellschaft für die Rechte zukünftiger Generationen (GRzG) inzwischen zu einem Symbolthema entwickelt. Noch vor 10 Jahren habe sich kaum ein Jugendlicher mit der Rentenproblematik beschäftigt. Heute sei es dagegen das am meisten emotionalisierte Thema, bei der es stellvertretend um die Frage gehe, ob sich jung und alt auf einen neuen Generationenvertrag zumindest in diesem Bereich einigen könnten. Diese Einschätzung wird auch vom Ergebnis der Shell-Jugendstudie aus dem Frühjahr 1997 bestätigt: Bei der Frage "Was beeinträchtigt Ihre persönliche Zukunftschancen am meisten?" rangierte das Thema Rente bei etwa 20 insgesamt genannten Problemfeldern zu- [Seite der Druckausgabe: 19] sammen mit Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung auf dem ersten Platz. Die Fokussierung auf das Thema Rente hat weitere Ursachen. Zum einen gibt es begriffshistorisch eine enge Verknüpfung zwischen dem Terminus Generationenvertrag und dem deutschen Rentensystem. Zum anderen liegt es an der scheinbaren Überschaubarkeit des Themas, das sich für jedermann - soweit er nicht zur wachsenden Gruppe der Arbeitslosen zählt - aus den zu entrichtenden Beiträgen zur Rentenversicherung und den später als Rentner zu erwartenden Leistungen erschließt. Die Anhebung des Beitragssatzes auf den bisherigen Höchststand von 21 Prozent des Bruttolohnes im kommenden Jahr und die Vorschläge der Bundesregierung für ihre sogenannte Rentenreform, deren Kerngedanke eine Absenkung des Rentenniveaus bis zum Jahre 2030 ist, haben die Zustimmung der heute Jungen für das Rentensystem weiter verringert. Ein Redakteur der Thüringischen Landeszeitung verweist auf das steigende Mißtrauen gegenüber dem bisherigen Rentensystem. Symptomatisch hierfür sei die Verfassungsklage eines Physiotherapeuten aus Rheinbach bei Bonn gegen das Rentensystem. Grundlage seiner Klage ist die Berechnung, daß er bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter ein Beitragsvolumen von rund 800.000 DM in die Rentenkasse eingezahlt haben wird, aber selbst bei einer deutlich über dem Durchschnitt liegenden Lebenserwartung lediglich Leistungen in Höhe von maximal 540.000 DM wird in Anspruch nehmen können. Andere Kommentare rückten das deutsche Rentensystem sogar in die Nähe der berüchtigten Kettenbriefe, bei denen bekanntlich die Letzten erhebliche Verluste erlitten, während die frühzeitig Beteiligten satte Erträge einstreichen könnten. 2.1 Das Drei-Säulen-System der Altersversorgung Die deutsche Altersversorgung beruht auf einem Drei-Säulen-System. Neben die gesetzliche Rentenversicherung, auf die in Deutschland rund 82 Prozent der Altersvorsorgeleistungen entfallen, treten als zweite und dritte Säule die betriebliche Altersvorsorge mit einem Anteil von rund 5 Prozent und die private Altersvorsorge mit etwa 12 Prozent. [Seite der Druckausgabe: 20] 2.1.1 Die betriebliche Altersversorgung Die betriebliche Altersvorsorge zählt zu den freiwilligen Sozialleistungen der Unternehmen. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge unterhält ungefähr jedes dritte Unternehmen in Deutschland mit mehr als drei Beschäftigten ein System der betrieblichen Altersvorsorge; in 57 Prozent der Fälle in Form der Direktzusage, bei der die Unternehmen selbst Pensionsrückstellungen bilden. Die restlichen Unternehmen wickelten die Finanzierung über einen externen Träger ab, wobei sich 22,2 Prozent einer Pensionskasse, 8,4 Prozent einer Unterstützungskasse und 12,2 Prozent einer Direktversicherung bei einem Lebensversicherungsunternehmen bedienten. Bezogen auf alle Unternehmen kamen rund 30 Prozent der Beschäftigten in den Genuß einer betrieblichen Altersvorsorge, bei den größeren Unternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten liegt dieser Anteil bei knapp 90 Prozent. Aufgrund der Verschlechterung der gesetzlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen für die betriebliche Altersvorsorge - unter anderem wurden die steuerliche Berücksichtigung von Zuwendungen an Unterstützungskassen eingeschränkt und der Pauschalsteuersatz auf Beiträge an Direktversicherungen und Pensionskassen auf 20 Prozent verdoppelt - hat sich in den letzten Jahren ein stark rückläufiger Trend ergeben. Während kleinere Betriebe ihre Versorgungswerke oftmals ganz schlössen, reduzierten größere Unternehmen ihre Leistungszusagen und führten reduzierte Versorgungspläne für neu eingestellte Mitarbeiter ein. Der Vertreter der GRzG kritisiert, daß diese Maßnahmen einseitig zu Lasten der Berufsanfänger gehen, während den älteren Betriebsrentnern keine Leistungskürzungen zugemutet würden. Heftige Kritik an der Politik äußert der Hauptgeschäftsführer der baden-württembergischen Papierverbände: Die Politik habe die Betriebsrenten unnötig verkompliziert und damit faktisch kaputt gemacht. Die Schering AG hat seit Firmengründung eine betrieblichen Altersversorgung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in ihrer heutigen Form seit 1952 besteht. Demnach erlangt ein Arbeitnehmer, der 30 Jahre bei Schering gearbeitet hat, den Anspruch auf [Seite der Druckausgabe: 21] eine Betriebsrente, deren Höhe ungefähr der Hälfte der gesetzlichen Rente entspricht, und die der Arbeitnehmer zusätzlich zu gesetzlichen Rentenversicherung erhält. Schering übernimmt direkte Versorgungszusagen und bildet hierfür entsprechende Rückstellungen. Der aus diesen Rückstellungen aufgebaute Kapitalstock beläuft sich heute auf 1,6 Mrd. DM. Dieses Kapital steckt größtenteils in den Maschinen, Werken und Produkten, und trägt insofern dazu bei, daß spätere Generationen von Schering-Mitarbeitern das Geschäft fortentwickeln können. Anfang der 90er Jahre hat sich die Unternehmensleitung von Rentenberatern Prognosen über die zukünftige Entwicklung ihrer betrieblichen Altersversorgung erstellen lassen. Diese Berechnungen dokumentierten, daß das Schering-Modell in dieser Form nicht dauerhaft finanzierbar sei. Damals hatte Schering 12.000 Mitarbeiter und 3.000 Betriebsrentner. Heute arbeiten noch 8.000 Menschen bei Schering, während die Zahl der Betriebrentner auf 4.200 Personen angewachsen ist. Den Prognosen zufolge hätten die jungen und die in Zukunft eingestellten Mitarbeiter später keine Gehaltssteigerungen erwarten können, weil aus jedem Gewinn, den das Unternehmen erwirtschaften würde, wegen der Rentenverpflichtungen zunächst ein Anteil von rund 80 Mio. DM in die Rückstellung hätte fließen müssen. Diese dauerhafte Belastung der jungen und zukünftigen Schering-Mitarbeiter habe das Schering-Management für nicht akzeptabel erachtet. Deshalb wurde in dem Unternehmen eine innerbetriebliche Rentenreform eingeleitet. Deren Ziel war, die Belastungen in Form eines Gesamtpaketes auf alle Generationen gleichermaßen zu verteilen, um dadurch die Einzelabsenkungen in Grenzen halten zu können. Das Änderungspaket wurde schließlich auf breiter Basis akzeptiert, was nach Einschätzung der Vertreterin der Schering AG dadurch erleichtert wurde, daß das Unternehmen noch immer eine der besten betrieblichen Altersversorgungssysteme in der deutschen Industrie besitzt. Im Dialog mit allen Betriebsgruppen wurde eine Lösung gefunden, bei der sowohl die aktiven Mitarbeiter als auch die Betriebsrentner einbezogen wurden. Da ein Eingriff in bestehende Renten juristisch nicht möglich sei, blieben die Einschnitte bei den Betriebsrentnern auf die freiwilligen Gratifikationen beschränkt. Dasselbe [Seite der Druckausgabe: 22] wurde bei den älteren Mitarbeiter vorgenommen, während bei den jüngeren Mitarbeitern die Dienstjahr-Anrechnung so verändert wurde, daß den Mitarbeitern heute nur noch 30 Dienstjahre für die Betriebsrente angerechnet werden können. Zusätzlich wurde für die noch nicht eingestellten Mitarbeiter das Rentenniveau reduziert. Die Einschnitte seien von den Mitarbeitern auch deshalb akzeptiert worden, weil vermittelt werden konnte, daß das Betriebsrentensystem nur auf diesem Wege für die jungen Mitarbeiter bezahlbar bleiben könne. 2.1.2 Die private Altersversorgung Die private Altersvorsorge wird in Deutschland hauptsächlich von der Kapitallebensversicherung dominiert. 1997 gab es in Deutschland rund 80 Millionen abgeschlossene Kapitallebensversicherungsverträge. Statistisch gesehen hat damit jeder Deutsche eine solche Lebensversicherung abgeschlossen. Bei der klassischen Kapitallebensversicherung deutscher Prägung handelt es sich um eine Finanzdienstleistung, bei der ein langfristiger Sparvorgang mit einer Risikolebensversicherung für den Todesfall und - auf Wunsch - mit anderen Versicherungen wie beispielsweise einer Berufsunfähigkeitsversicherung kombiniert wird. Beim Sparanteil der Kapitallebensversicherung wird aus den Einzahlungen des Kunden ein individueller Kapitalstock gebildet, auf den der Kunde im Erlebensfall nach Ablauf der vereinbarten Laufzeit einschließlich der gesetzlichen Mindestverzinsung sowie einer Überschußbeteiligung einen Anspruch hat. Die private Altersvorsorge wird derzeit in Deutschland nicht generell steuerlich gefördert. Einzig die Kapitallebensversicherung genießt hier eine Ausnahmestellung, weil deren Erträge für den Sparer steuerfrei sind, wenn der Vertrag für die Dauer von mindestens zwölf Jahren abgeschlossen worden ist. Dieses Steuerprivileg der Kapitallebensversicherung ist in den letzten Jahren wiederholt in die Kritik gekommen. Viele Experten fordern, die einseitige Steuerprivilegierung durch eine generelle Förderung aller für die Altersvorsorge geeigneten Kapitalanlagen zu ersetzen. [Seite der Druckausgabe: 23] 2.1.3 Die gesetzliche Rentenversicherung Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) kann heute auf eine 106jährige Geschichte zurückblicken. Mit Recht gilt sie als einer der Grundpfeiler des deutschen Sozialsystems, schließlich hat sie zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform überstanden. Diese Bestandskraft verdankt die Rentenversicherung aber vor allem ihrer strukturellen Flexibilität, denn die Erfolgsstory der deutschen Rentenversicherung ist auch eine Geschichte von Reformen und Systemwechseln. Sowohl bei der Finanzierung, als auch in Bezug auf Leistung und Reichweite der Absicherung hat die Rentenversicherung erhebliche Veränderungen erfahren. Ursprünglich als kapitalgedecktes System entworfen, wurde sie in der "Großen Rentenreform" des Jahres 1957 in ein reines Unlageverfahren umstrukturiert. Noch gravierender waren die Änderungen auf der Leistungsseite: Reichten die ausgezahlten Renten in den ersten 66 Jahren bestenfalls zur Existenzsicherung der Rentner, so wurden die Renten mit der Einführung der "dynamischen Rente" im Jahre 1957 zu einer echten Lebensstandardsicherung ausgeweitet. Heute ist diese Funktion der Rente nach Meinung des Vertreters der AGS wieder in Gefahr, da eine wachsende Zahl von Rentnern im Zuge der vorgesehenen Rentenkürzungen in die Nähe des Existenzminimums abrutschen wird. Die Wurzeln der deutschen Rentenversicherung reichen bis in die Blütejahre des deutschen Kaiserreiches zurück. Am 17. November 1881 erklärte der Deutsche Kaiser Wilhelm l. in seiner Thronrede, daß "die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Auch diejenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben eines jeden Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht". Die Erklärung des Kaisers, ursprünglich von Reichskanzler Otto von Bismarck verfaßt, gilt als Geburtsstunde der deutschen So- [Seite der Druckausgabe: 24] zialversicherung. Die damit verbundene Neuorientierung der staatlichen Sozialpolitik war eine notwendige Reaktion auf die sozialen und ökonomischen Umwälzungen der industriellen Revolution. Dennoch resultierte sie weniger aus sozialpolitischer Motivation der damaligen Eliten, sondern war primär Ausdruck der Bismarckschen Machtpolitik. Das Vordringen der ungeliebten Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft sollte durch die neue Sozialpolitik gestoppt werden. Als erste Maßnahme des neuen Sozialversicherungssystems wurde 1883 das Krankenversicherungsgesetz beschlossen, 1884 folgte das Unfallversicherungsgesetz. 1891 trat das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung" in Kraft, mit der Arbeiter und ein Teil der Angestellten erstmals in den Genuß einer staatlichen Altersversorgung kamen, auf die sie nach mindestens dreißig Beitragsjahren einen Anspruch erworben hatten, den sie frühestens nach Vollendung des siebzigsten Lebensjahres geltend machen konnten. Im Gegensatz zum heutigen deutschen Rentensystem war die damalige Altersversorung nach dem Kapitaldeckungsverfahren konzipiert. Beim Kapitaldeckungsverfahren werden die Einzahlungen der Rentenversicherungspflichtigen zum Aufbau eines Kapitalstockes verwendet, dessen Erträge dann zur Finanzierung der Renten verwendet werden. Zwanzig Jahre später kam es zur ersten Rentenreform. 1911 wurde die Hinterbliebenversicherung eingeführt, durch die erstmals Witwen und Waisen nach dem Tod eines Versicherten Anspruch auf einen Teil von dessen Rente erhielten. Im selben Jahr wurden Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung in der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusammengefaßt. Die beiden Weltkriege sowie Inflation und Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik führten zu erheblichen Belastungen für die Rentenversicherung. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde die Selbstverwaltung der Rentenversicherung beseitigt und es folgte die Zentralisierung der Verwaltung im Sinne der "Führer-Ideologie. Dennoch blieben die grundlegenden Strukturen der Rentenversicherung erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das traditionelle Rentensystem in den drei Westzonen bestehen, während in der sowjetischen Besatzungszone 1947 eine einheitliche Versicherung für alle Zweige der [Seite der Druckausgabe: 25] Sozialversicherung eingeführt wurde. 1951 wurde in der Bundesrepublik Deutschland auch die Selbstverwaltung wieder eingeführt. Bestehen blieben auch die Defizite der GRV: So garantierte die Rentenversicherung den Rentnern lediglich ein sehr bescheidenes Auskommen, das oftmals nur zur Grundsicherung ausreichte. Die verbreitete Altersarmut der Rentner sollte sich erst durch die große Rentenreform von 1957 ändern. Nun wurde die Rentenhöhe mit einem Automatismus an die Bruttolohnentwicklung der Erwerbstätigen angekoppelt - die sogenannte "dynamische Rente" war geboren. Dadurch konnten die Renten erstmals die Lebensstandardsicherung im Alter garantieren. Eine Steigerung des Bruttolohnes der Erwerbstätigen führte seitdem zeitversetzt um drei Jahre zu einem entsprechendem Anstieg des Renten. Als Folge dieser Verknüpfung zwischen Lohnentwicklung und Rentenleistungen stieg das Rentenniveau nach 1957 erheblich an und erreichte 1977 mit 73,8 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten seinen historischen Höchststand. Diese Ausweitung der Rentenleistungen wurde möglich, weil mit der Rentenreform das Finanzierungssystem grundlegend geändert worden war. Nunmehr war die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland nach dem reinen Umlageverfahren konzipiert. Das Umlageverfahren arbeitet nach dem Muster, daß jede fällige Rente durch die Pflichtbeiträge der Erwerbstätigen, einer steuerähnlichen Zwangsabgabe, die hälftig von den Erwerbstätigen und den Arbeitgebern zu zahlen ist, aufgebracht wird. Die Beitragszahlungen werden unmittelbar zur Auszahlung an die Rentenempfänger durchgereicht; es findet keine individuell zurechenbare Kapitalbildung statt, sondern eine Umverteilung zwischen den Beitragszahlergenerationen und den Rentnergenerationen. Aus den Beitragszahlungen erwächst ein Rechtsanspruch auf eine am verdienten Bruttoentgelt ausgerichtete Rente, die im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit von der dann aktiven Erwerbstätigen-Generation ebenfalls durch Beitrage aufgebracht werden muß. Dieser Rechtsanspruch ist dem Grunde nach eigentumsrechtlich geschützt, seine konkrete Ausgestaltung und Höhe unterliegt jedoch dem Gesetzgebungsvorbehalt. Beiträge und Leistungen stehen also in einer veränderlichen Relation zueinander. [Seite der Druckausgabe: 26] Die Rentenanpassungsgesetze des Jahres 1977 leuteten eine neue Phase in der bundesdeutschen Rentenpolitik ein. Zwanzig Jahre nach der "Großen Rentenreform" mußte die sozialliberale Bundesregierung erstmals Einschnitte in die Rentenversicherung vornehmen: Der Rentenwert für Ausbildungszeiten wurde gesenkt und die Bewertung der Ausbildungsausfallzeiten für Schule und Studium um die Hälfte gekürzt. Ein Jahr später wurde die Rentenerhöhung sogar erstmals ausgesetzt. Hatte die damalige Opposition im Deutschen Bundestag, die CDU/CSU-Fraktion, diese Einschnitte in die Rentenversicherung 1977 noch vehement kritisiert, setzte sie nach der politischen Wende des Jahres 1982 die Politik der Leistungsreduktion beschleunigt fort. Seit 1983 müssen Rentner Beiträge für ihre Krankenversicherung zahlen, 1984 wurden Ausbildungszeiten erneut schlechter bewertet und der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsschutz für freiwillige Versicherte ersatzlos gestrichen. 1986 wurde die Witwenrente beschnitten. Vorläufiger Endstand der Einschnitte und Leistungskürzungen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung sollte die Rentenreform des Jahres 1992 sein. Am 9. November 1989, dem Tag der Maueröffnung, beschloß der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller im Bundestag vertretenen Parteien die erneute Rentenreform, die zum 1.1.1992 in Kraft trat. Nach dem Willen der damals Verantwortlichen sollten dadurch die Renten mindestens bis zum Jahr 2010 gesichert werden. Im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen über die Rentenreform 1992 hatten Prognosen über die zu erwartende demographische Entwicklung und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Erwerbstätigen und Rentner erhebliche Zweifel an der dauerhaften Finanzierbarkeit der Rentenversicherung aufkommen lassen. 1987 hatte eine vom Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger (VDR) eingesetzte Kommission ein Gutachten vorgelegt, wonach die Beitragssätze zur Rentenversicherung bei unveränderten Rahmenbedingungen bis zum Jahr 2030 auf 37 bis 42 Prozent des Bruttolohnes ansteigen würden. Zur Stabilisierung der Rentenversicherung sah die Rentenreform 1992 die schrittweise Anhebung der Altersgrenze für das Erreichen des Rentenalters auf das 65. Lebensjahr vor. Außerdem wurde die Anpassung der Rentenhöhen nunmehr an die Entwicklung der Nettolohnentwicklung gekoppelt, statt wie bisher an die Bruttolöhne [Seite der Druckausgabe: 27] Das Rentennivau des sogenannten "Eckrentners", also des Idealrentners mit 45 Versicherungsjahren und Durchschnittsverdienst, sollte dauerhaft bei 70 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts aller Versicherten liegen. Neben diesen erneuten Einschnitten beinhaltete die Rentenreform 1992 aber auch deutliche Weiterentwicklungen. So wurde die Möglichkeit des gleitenden Übergangs in den Ruhestand geschaffen, außerdem wurden die Kindererziehungszeiten von bislang einem auf drei Jahre verlängert und die "Rente nach Mindesteinkommen" ausgeweitet, was besonders Frauen mit geringen Arbeitsjahren und niedrigem Verdienst durch eine nachträgliche Aufstockung der Rentenversicherungsbeiträge zugute kam. Zur Sicherstellung der Finanzierung wurde zudem der Bundeszuschuß auf rund 20 Prozent erhöht und für die Zukunft eine Beteiligung des Bundes an den demographischen Risiken der Rentenversicherung festgeschrieben. Nach Schätzung der Rentenexperten sollte diese Reform dazu führen, daß der Beitragssatz zur Rentenversicherung mindestens bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre auf unter 19 Prozent gedrückt werden könne. Bis zum Jahr 2030 sollte der Satz dann "lediglich" auf ein Volumen von 26 bis 29 Prozent ansteigen. Diesen Anstieg des Beitragssatzes um immerhin rund 50 Prozent hielten die damals politisch Verantwortlichen für vertretbar. Rückblickend wird die Rentenreform 1992 ausgesprochen kontrovers beurteilt. Der Vertreter der LVA Thüringen sieht in der Rentenreform 1992 unverändert eine tragfähige Grundlage für die Zukunft der Rentenversicherung. Die der damaligen Reform zugrundeliegenden Prognosen über die demographische Entwicklung und die Entwicklung des Beitragssatzes seien durch die bisherige Entwicklung trotz gewandelter Rahmenbedingungen bestätigt worden. Insofern bestehe auch kein Grund zu erneuten Reformen. Geändert habe sich jedoch das politische Denken. Denn damals sei es politischer Konsens aller Parteien gewesen, daß der Beitragssatz zur Rentenversicherung bis zum Jahr 2030 auf einen Beitragssatz von 26 bis 28 Prozent ansteigen würde. Dieser Konsens bestehe heute nicht mehr. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Jena bestätigt diese Einschätzung. Zwar sei es nachvollziehbar, daß die Verantwortlichen unter den damaligen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Beitragssteigerung bis auf 28 Prozent für akzeptabel [Seite der Druckausgabe: 28] erachteten. Heute könne diese Position jedoch vor dem Hintergrund der dramatischen Änderungen nicht mehr aufrecht gehalten werden. Deshalb seien weitere, über diese Reform hinausgehenden Schritte zur langfristigen Stabilisierung der Rentenversicherung notwendig. Unabhängig von der konkreten Bewertung steht außer Zweifel, daß sich die mit der Rentenreform 1992 verbundene Hoffnung auf stabile Beiträge und ein Ende der politischen Diskussion über das Rentensystem als Trugschluß erwiesen hat. Der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten führten zu erheblichen Belastungen für die deutsche Rentenversicherung. Nicht zuletzt deshalb, weil die Bundesregierung einen erheblichen Teil der Vereinigung über die Sozialversicherungssysteme finanzierte. So wurde die Überleitung des gesamten Alterssicherungssystems der DDR mit Rentenbestand und Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe über das Steueraufkommen finanziert, sondern alleine über die Rentenversicherung. Seit der Vereinigung wurden die Renten der Menschen in den neuen Bundesländern um 192 Prozent erhöht. Auch diese zur Lebensstandardsicherung notwendige Maßnahme wurde allein von den Beitragszahlern zur Rentenversicherung finanziert. Der Vertreter der LVA Thüringen hält zudem die in der Rentenreform 1992 vorgenommene Reduzierung der Schwankungsreserve auf das Volumen einer Monatausgabe für einen Fehler. 1991 gab es in der Rentenversicherung Rücklagen in Höhe von 50 Mrd. DM, was in etwa dem Umfang von 3 bis 4 Monatsausgaben entsprach. Vor diesem Hintergrund wurde der Beitragssatz, der zuvor bis 1991 stabil geblieben war, im Jahre 1991 auf 17,7 und im Jahre 1993 auf 17,5 Prozent gesenkt. Als die Probleme des Arbeitsmarktes voll auf die Rentenversicherung durchschlugen, waren die restlichen Reserven schnell aufgebraucht, so daß die Beitragssätze von nun an jedes Jahr erhöht werden mußten. Hätte es die Reduktion der Schwankungsreserve im Rentenreformgesetz 1992 nicht gegeben und wäre der Beitragssatz stabil bei 1 8,7 Prozent gehalten worden, dann wäre im Jahr 1997 zum ersten Mal die Heraufsetzung des Beitragssatzes notwendig gewesen. Nach Meinung des Vertreters der LVA Thüringen bedarf es keiner außergewöhnlichen prophetischen Qualitäten, [Seite der Druckausgabe: 29] um sagen zu können, daß es die heutige Rentendiskussion unter diesen Bedingungen nicht gegeben hätte.
Zur Kompensation der Mehrbelastungen der Rentenversicherung nahm die Bundesregierung bereits 1996 im Rahmen des sogenannten "Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes" weitere Einschnitte vor. So sollte die in der Rentenreform 1992 beschlossene Heraufsetzung der Altersgrenzen wesentlich schneller vollzogen werden. Zudem wurden die Anrechnungszeiten von Schul-, Fach-hochschul- und Hochschulausbildungen von 7 auf 3 Jahre verringert und die Möglichkeiten zur Rehabilitation erheblich eingeschränkt. Doch auch diese Einschnitte führten nicht zu der erhofften dauerhaften Stabilisierung der Rentenversicherung. Im Jahre 1997, zwanzig Jahre nach dem Trendwechsel in der bundesdeutschen Rentenpolitik des Jahres 1977, steht das deutsche Rentensystem am Scheideweg. [Seite der Druckausgabe: 30] Der dauerhafte Anstieg der Rentenbeiträge und die kontinuierlichen Kürzungen der Rentenleistungen sind Kennzeichen einer die Grundlagen der Rentenversicherung bedrohenden Entwicklung. Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung sind die Pläne der Bundesregierung für eine erneute "Rentenreform" mit weiteren drastischen Einschnitten in das langfristige Rentenniveau und die von Bundeskanzler Kohl und vielen Experten gleichermaßen als "nicht akzeptabel" empfundene Erhöhung des Beitragssatzes auf 21 Prozent im Jahre 1998. Kein Zweifel: Die gesetzliche Rentenversicherung befindet sich in einer existenzbedrohenden Krise. 2.2 Problemfaktoren der gesetzlichen Rentenversicherung Die Diskussion über Leistungsfähigkeit und Zukunftsperspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland wird auf verschiedenen Ebenen geführt, die in der teilweise hochemotionalisierten Auseinandersetzung oftmals miteinander vermischt werden. Zum einen geht es um die Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung, bei der zwischen den aktuellen und den langfristigen Problemen und Risiken unterschieden werden muß. "Die Gegenwart brüllt, und die Zukunft flüstert nur", hat US-Vizepräsident AI Gore einmal treffend zum Konflikt kurz- und langfristiger Anforderungen gesagt. Nach Einschätzung des SPD-Bundestagsabgeordneten aus Jena zeigt sich dieser Konflikt gerade auch bei der Diskussion über die Rentenversicherung. Dort gebe es zum einen eine aktuelle Finanzierungskrise, die primär aus der hohen Massenarbeitslosigkeit und den der Rentenversicherung aufgebürdeten sogenannten "versicherungsfremden Leistungen" resultiere. Verschärft wird diese Situation nach Einschätzung des Gesundheitspolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion dadurch, daß die Einkommen der Arbeitnehmer nicht mehr Schritt halten mit der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes. Seit 1982 sei die Lohnquote am Volkseinkommen von 76,9 Prozent auf nur noch 70,1 Prozent abgerutscht. Wäre die Lohnquote bis heute gleichgeblieben, müßte der Beitragssatz lediglich bei rund 18 Prozent liegen. Darüber hinaus ist die Rentenversicherung mit einem langfristigen Finanzierungsproblem konfrontiert, das sich aus der demographi- [Seite der Druckausgabe: 31] schen Entwicklung ergibt. Denn wegen der direkten Verknüpfung der Beiträge der rentenversicherungspflichtigen Erwerbstätigen mit den Auszahlungen an die Rentner ist die Leistungsfähigkeit des Umlageverfahrens unmittelbar vom Verhältnis der Beitragszahler bzw. dem Volumen der von ihnen erbrachten Leistungen zur Zahl der Leistungsempfänger bzw. der an sie ausgezahlten Rentenzahlungen abhängig. Entsprechend sensibel reagiert das Verfahren auf demographische Veränderungen. Neben diesen beiden parallel geführten Finanzierungsdiskussionen wird die Rentenversicherung im Rahmen der vor dem Hintergrund der Globalisierung entbrannten Diskussion über die Zustand und Zukunft des deutschen Sozialsystems grundsätzlich in Frage gestellt. "Können wir uns unser Sozialsystem und unseren Wohlfahrtsstaat überhaupt noch leisten?" lautet die Kernfrage dieser Debatte, bei der der Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland zumindest vordergründig die zentrale Rolle spielt. Schließlich wird auf einer vierten Ebene über bestehende Defizite und Systemfehler innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung diskutiert. Hierbei geht es um Aspekte wie die eigenständige Alterssicherung der Frauen oder die Anrechnung von Kindererziehungs- und anderer sogenannter "Ausfallzeiten" für die Rentenkasse. Eine Diskussion, die angesichts der dominierenden Finanzierungsdebatten in der öffentlichen Wahrnehmung lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. 2.2.1 Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit Nach offiziellen Angaben waren im November 1997 in Deutschland 9ut 4,3 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet; rund 400.000 mehr als noch ein Jahr zuvor. Für den Winter 1997/1998 rechnen der Deutsche Gewerkschaftsbund und Wissenschaftler des Sachverständigenrates übereinstimmend mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf über 5 Millionen. Ein Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, der bekanntlich lediglich die Spitze eines Eisberges darstellt. Zählt man zu den registrierten Arbeitslosen noch die Zahl der verdeckten Arbeitslosen hinzu, dürfte [Seite der Druckausgabe: 32] die Zahl derer, die in Deutschland keine Arbeitsstelle haben, bei insgesamt knapp sieben Millionen Menschen liegen - eine Zahl, die an die düsteren Jahre der Weimarer Republik erinnert. Die Massenarbeitslosigkeit hat nicht nur für die Betroffenen und ihre Familien dramatische Auswirkungen, sondern führt auch zu einer erheblichen Belastung der öffentlichen Haushalte. 1996 lagen die Kosten der Arbeitslosigkeit bei rund 170 Mrd. DM, die sich aus den direkten Leistungen an die Betroffenen sowie die Mindereinnahmen durch fehlende Steuerzahlungen und Leistungen an die Sozialkassen zusammensetzt. Der Abbau der Arbeitslosigkeit würde daher zu einer erheblichen Entlastung der Sozialkassen führen. Berechnungen zufolge würde der Zuwachs um 5,7 Millionen neue Arbeitsplätze zu einer Mehreinnahme in Höhe von rund 36 Mrd. DM führen, wodurch der Beitragssatz zur Rentenversicherung etwa um 2,4 Prozentpunkte reduziert werden könnte. Vor diesem Hintergrund besteht Einigkeit darüber, daß die Arbeitslosigkeit ursächlich für die aktuellen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung verantwortlich ist. Das Vorstandsmitglied der IG Metall fordert die Politiker auf, sich mit aller Kraft der Lösung der Arbeitslosenproblems anzunehmen, statt auf die von interessierter Seite inszenierte Ablenkungsdiskussion über die Rentenversicherung einzugehen. Als besonders bedenklich bezeichnet es der Vertreters der AGS, daß die Bundesregierung die aktive Arbeitsmarktpolitik inzwischen nahezu vollkommen eingestellt habe. Eine solche Politik sei angesichts der derzeitigen Situation auf dem Arbeitsmarkt unverantwortlich. Neben der Massenarbeitslosigkeit hat aber auch die Veränderung der Beschäftigungsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Auswirkungen auf die Rentenversicherung. Die Einmündung in klassische und sichere Vollzeitarbeitsplätze gelingt immer seltener. Gebrochene Erwerbsbiographien, bei denen Zeiten der Erwerbstätigkeit durch Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen werden, und das steigende Potential prekärer Beschäftigungsverhältnisse sind Merkmale dieser Entwicklung. Besonders problematisch für die sozialen Sicherungssysteme sind die wachsende Zahl von Jobs unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze der Sozialversicherung, die sogenannten "610-Mark-Jobs", und die sogenannten "Scheinselbständi- [Seite der Druckausgabe: 33] gen", die gänzlich außerhalb des Sicherungssystems in formaler Selbständigkeit, aber tatsächlich in wirtschaftlicher Abhängigkeit tätig sind. Nach geltender Rechtslage müssen sogenannte "geringfügig Beschäftigte" mit einem Monatseinkommen von weniger als 610 DM (520 DM in den neuen Bundesländern) keine Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Über die Zahl dieser Beschäftigungsverhältnisse kursieren ausgesprochen widersprüchliche Angaben. Neuesten Berechnungen der ISG Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH zufolge gibt es in Deutschland derzeit rund 5,6 Mio. geringfügige Arbeitsverhältnisse, was nach ISG-Angaben einer Steigerung von 26,4 Prozent seit 1992 entspricht. Bei rund 1,4 Mio. dieser Verträge handelt es sich um geringfügige Nebentätigkeiten. Das Sozioökonomische Panel (SOEP) der Projektgruppe im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat dagegen bereits für 1994 eine Zahl von 6,2 Mio. geringfügiger Arbeitsverhältnisse ermittelt. Inzwischen dürfte diese Zahl deutlich übertroffen sein, da alle Indikatoren für eine rasche Zunahme dieser Arbeitsverhältnisse sprechen. Das DIW hat im Rahmen einer anderen Untersuchung festgestellt, daß sich der Anteil der 610-DM-Arbeitsverhältnisse an der Gesamtzahl der Beschäftigten seit 1991 von 9,3 auf 11,1 Prozent erhöht hat. Beschäftigungsexpansion finde demnach in Deutschland fast ausschließlich im Bereich der geringfügigen Beschäftigung statt. Bei den sogenannten "Scheinselbständigen" handelt es sich um Personen, die formal als Selbständige tätig sind, de facto jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Auftraggebern stehen. Besonders häufig sind solche Formen abhängiger Selbständigkeit bei Außendiensttätigkeiten, in der Bauwirtschaft und in der Medienwirtschaft anzutreffen. Über den Umfang der Scheinselbständigkeit liegen keine tragfähigen Untersuchungen vor. Schätzungen schwanken zwischen 600.000 und 1,2 Mio. Fällen. Darüber hinaus hat auch die Arbeitsmarktpolitik selbst wesentlich zu Belastungen der Rentenversicherung beigetragen. Dies gilt besonders für das Instrument der Frühverrentung, das besonders in den neuen Bundesländern in erheblichem Maße in Anspruch genommen wurde. Insgesamt werden in Deutschland alleine in diesem Jahr [Seite der Druckausgabe: 34] rund 240.000 Menschen die Möglichkeit zur Frühverrentung in Anspruch nehmen. 2.2.2 Das Problem der versicherungsfremden Leistungen Neben der System konformen Umverteilung zwischen Erwerbstätigen und Rentnern gibt es in der Rentenversicherung politisch definierte Ausnahmetatbestände, die sogenannten "versicherungsfremden Leistungen". Im Prinzip handelt es sich um dabei um Leistungen, denen keine zuvor geleisteten Beiträge gegenüberstehen. Da die gesetzliche Rentenversicherung aber ganz bewußt auch als Instrument des Solidarausgleichs fungieren soll, ist die Definition dessen, was im Sinne dieses Ausgleichs systemimmanent ist, und welche Leistung als versicherungsfremd bezeichnet werden muß, umstritten. Zur Kompensation der versicherungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde in der Rentenreform von 1957 ein Zuschuß aus dem Bundeshaushalts eingeführt. Dieser Bundeszuschuß betrug damals 31 Prozent der Rentenausgaben, hat sich im Zeitverlauf jedoch auf knapp 18 Prozent verringert. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 wurde dieser Zusammenhang durch eine direkte Abhängigkeit zwischen Bundeszuschuß und Beitragssatz neu fixiert. Dieser verbesserte Zusammenhang zwischen den im Interesse der Allgemeinheit liegenden Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und den ihnen gegenüberstehenden Zahlungen aus dem Bundeshaushalt wurde im Zuge der Überführung des Alterssicherungssystems der DDR in die Rentenversicherung wieder aufgehoben. Hinzu kamen zusätzliche Ausgleichszahlungen wie die SED-Unrechtsbereinigung oder Leistungen an jüdische Emigranten aus den GUS-Staaten, die ebenfalls aus dem Beitragsaufkommen der Rentenversicherung finanziert wurden, ohne daß ihnen Ausgleichszahlungen aus dem Bundeshaushalt gegenüberstanden. Als Folge dieser Entwicklung wurden die "versicherungsfremden Leistungen" zu einem wesentlichen Streitgegenstand in der Debatte um die Finanzierung der GRV. Dabei geriet jedoch auch der Wesenszug der GRV als Instrument des Solidarausgleichs in politisch umkämpftes Terrain. Eine Sozialwissenschaftlerin erinnert daran, daß vieles von dem, was heute unter versicherungsfremde Leistungen subsumiert wird, vor einigen Jahren noch als Leistungen des [Seite der Druckausgabe: 35] Solidarausgleichs bezeichnet wurde. Schließlich beruhe die Rentenversicherung im Gegensatz zur Privatversicherung auf dem Solidarausgleich, d.h. die Rentenhöhe richtet sich nicht nur nach den jeweils eingezahlten Beiträgen, sondern orientiert sich auch an den Ergebnissen des Solidarausgleichs. Bei einer Neubewertung dieser Leistungen müsse daher grundsätzlich geklärt werden, ob die Rentenversicherung hauptsächlich aus Beiträgen, also aus Erwerbsarbeit, finanziert werden soll, oder ob alle steuerfinanzierten Leistungen des Systems herausgenommen werden sollen. Die Schwierigkeiten bei der Definition von versicherungsfremden Leistungen spiegeln sich entsprechend in der Bezifferung der daraus resultierenden Belastung für die Rentenversicherung wider. Die Spannbreite schwankt zwischen den Extrempositionen des Vertreters der baden-württembergischen Jungsozialisten, der die Höhe der Fremdleistungen auf 200 Mrd. DM beziffert, und der Einschätzung des Vorstandsmitglieds der IG Metall, der lediglich ein Volumen von 30 Mrd. DM als versicherungsfremd bezeichnen will. Der VDR hat für das Jahr 1995 ermittelt, daß 102 Mrd. DM, also gut 34 Prozent des gesamten Rentenvolumens, auf versicherungsfremde Leistungen entfielen. Abbildung 2: Die versicherungsfremden Leistungen
Quelle: VDR, Bundesverband deutscher Banken [Seite der Druckausgabe: 36] 42,7 Mrd. DM dieser versicherungsfremden Leistungen waren nicht durch den Bundeszuschuß abgedeckt. Nach Berechnungen der SPD-Bundestagsfraktion könnte der Beitrag zur Rentenversicherung um knapp drei Prozentpunkte gesenkt werden, wenn auch die restlichen 42,7 Mrd. aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert würden. Der Vertreter der LVA Thüringen bestätigt, daß die Verlagerungen von versicherungsfremden Leistungen auf den Steuerzahler die sauberste Lösung ist. Gegen eine solche Umfinanzierung spreche jedoch die Erfahrung, daß Leistungen in der vergangenen Jahren regelmäßig nicht verlagert, sondern gleich ganz gestrichen wurden. Deshalb müsse sehr darauf geachtet werden, daß unter dem Deckmantel der Umfinanzierung keine weiteren Leistungsstreichungen vorgenommen würden. 2.2.3 Auswirkungen der demographischen Entwicklung Neben die aktuellen Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland treten zunehmend langfristige Risiken, die sich insbesondere aus der demographischen Entwicklung ergeben Kennzeichen dieser Entwicklung sind die seit den 70er Jahren zurückgehende Geburtenrate und eine kontinuierlich steigende Lebenserwartung. Die deutlich unter dem gesellschaftlichen Reproduktionsfaktor liegende Geburtenrate kann theoretisch durch Zuwanderung kompensiert werden. Entscheidend für die Finanzierung der Rentenversicherung ist allerdings, ob für diese Menschen auch ein entsprechendes Arbeitsplatzangebot zur Verfügung steht. Denn eine hohe Geburtenrate oder eine entsprechende Zuwanderung können nur dann zur Entlastung der Rentenversicherung beitragen, wenn daraus auch neue Beitragszahler erwachsen. Darüber hinaus erwächst dem Umlageverfahren aus der steigenden Lebenserwartung eine problematische Veränderung im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer- und Rentnergeneration. So stieg nach Zahlen des VDR die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Westen zwischen 1980 und 1996 von rund 21 Millionen auf 22,3 Millionen während die der laufenden Versichertenrenten von 8 Millionen au fast 12 Millionen anwuchs. [Seite der Druckausgabe: 37]
[Seite der Druckausgabe: 38] Vor 30 Jahren kamen auf 100 rentenversicherungspflichtige Erwerbstätige 33 Rentenempfänger, 1995 mußten 100 Arbeitnehmer 46 Rentner finanzieren, im Jahre 2010 werden dies bereits 62 Rentenempfänger sein, 2030 rund 95 und im Jahr 2040 sogar 102 Rentner. Die Lebenserwartung 65jähriger stieg zwischen 1983 und 1993 um 1,4 Jahre, also jährlich um 1,7 Monate. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung werden die Laufzeiten der Renten entsprechend länger. So stieg die durchschnittliche Rentenlaufzeit in den westlichen Bundesländern zwischen 1980 und 1996 von 12,1 auf 15,9 Jahre, im Osten sogar auf 16,1 Jahre. 1996 bezogen Männer im statistischen Durchschnitt 4,5 Jahre länger Rente als dies noch 1960 der Fall war; bei Frauen lag die Differenz sogar bei 7,3 Jahren. Angesichts des medizinischen Forschritts kann davon ausgegangen werden, daß sich die Tendenz einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung weiter fortsetzen wird. Aus dieser prinzipiell erfreulichen Entwicklung erwachsen nach Einschätzung des Präsidenten der Technischen Universität Berlin erhebliche Probleme für das umlagefinanzierte Rentensystem. Selbst wenn es mit kurzfristigen Umschichtungen zwischen den Sozialsystemen oder der Herausnahme bestimmter versicherungsfremder Leistungen aus der Rentenkasse gelänge, die kurzfristigen Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung zu lösen, sei es nicht möglich, auf diesem Wege die langfristigen Probleme in den Griff zu bekommen. Entsprechend habe bereits vor drei Jahren der Vorsitzende des Sozialbeirats beim Bundesminister für Arbeit prognostiziert, daß ein Erwerbstätiger im Jahre 2030 von seinem Bruttoeinkommen rund 29 Prozent als Rentenbeiträge abführen müsse. Andere Prognosen beispielsweise vom Rentenexperten Miegel gingen sogar von 37 Prozent aus. Hinzu kämen Beiträge für Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung in Höhe von jeweils 5 Prozent und für die Krankenversicherung noch einmal mindestens 19 Prozent. Addiere man zu diesen insgesamt 58 Prozent Abgaben für die soziale Sicherung noch eine durchschnittliche Steuerlastquote von 25 Prozent, dann ergebe sich, daß ein Durchschnittsverdiener im Jahre 2030 rund 83 Prozent seines Einkommens zur Finanzierung des Sozialstaats und des Staatswesens im allgemeinen abfüh [Seite der Druckausgabe: 39] ren müsse. Dies sei eine völlig inakzeptable Perspektive für die jungen Menschen. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hält die aus der demographischen Entwicklung resultierenden Problem dagegen für lösbar. Schließlich sei die reine Gegenüberstellung von Beitragszahlern und Rentnern wenig aussagekräftig, solange nicht auch die Produktivitätsfortschritte berücksichtigt werde. 1960 hätten 3 Beitragszahler einen Rentner finanziert, während dies 1995 lediglich 1,8 Beitragszahler leisteten; jedoch hätten die 3 Beitragszahler 1960 ihrem Rentner weniger als die Hälfte der Kaufkraft zur Verfügung stellen können, als dies die 1 8 Beitragszahler des Jahres 1995 konnten. Und dies, obwohl die Jahresarbeitszeit von etwa 2.050 Arbeitsstunden im Jahre 1960 auf 1.560 Arbeitsstunden im Jahre 1995 gesunken sei. Die Voraussetzung für die Bewältigung der demographischen Herausforderung sei daher, genügend produktive Arbeitsplätze in der Zukunft bei genügend langer Lebens- und Wochenarbeitszeit zur Verfügung zu stellen. Der Vorstandsmitglied der IG Metall unterstreicht, daß die wachsende Lebenserwartung kein Problem für die Rentenversicherung darstelle. Gleichwohl seien hierfür Beitragssteigerungen unvermeidlich. Dieser Anstieg könne aber durch Maßnahmen, wie sie die SPD-Alterssicherungskommission vorgeschlagen habe, auf einen Beitragssatz von 23,3 Prozent im Jahr 2030 beschränkt werden. Diese Zahlen hält der Wissenschaftler des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg für zu optimistisch. Sollten sich die dann eingeflossenen Prämissen einer zurückgehenden Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Frauenerwerbsquote nicht bestätigen, dürfte der reale Beitragssatz im Jahr 2030 weit darüber liegen. Die Sozialwissenschaftlerin bezeichnet es darüber hinaus als Trugschluß zu glauben, die hohen Arbeitslosenzahlen würden sich durch einen Rückzug der Frauen an den sprichwörtlichen "heimischen Herd" reduzieren lassen. Die 50er Jahre mit ihrer tradierten Rollenverteilung seien unwiderruflich vorbei. Ein Indikator hierfür sei die Erfahrung aus den 70er Jahren, als erstmals gutausgebildete Frauen verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängten, obwohl parallel dazu zum ersten Mal Massenarbeitslosigkeit einsetzte. Bereits damals hätten die Frauen nicht mehr als Reservearmee funktioniert, [Seite der Druckausgabe: 40] was auf ihre bessere Ausbildung und dem gewandelten Verhältnis der Frauen zu ihrer Arbeit gelegen habe. In die Wissenschaft ging diese Entwicklung unter dem Fachbegriff des "widerständiges Verhalten" der Frauen ein. Mit derartig widerständigen Frauen müsse auch weiterhin gerechnet werden. 2.2.4 Die Debatte über die Krise des deutschen Sozialstaates Vor dem Hintergrund der Diskussion über die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland wird in zunehmendem Maße auch die Frage nach der Finanzierbarkeit des sozialen Systems in Deutschland gestellt. Der Geschäftsführer der Vereinigung der Unternehmerverbände in Berlin und Brandenburg erläutert, daß sich die Kostendynamik des deutschen Wohlfahrtsstaates längst von der Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt hat und in einem immer stärkeren Maße die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb gefährdet. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze und damit die Sicherung der Sozialversicherungssysteme könne ohne eine Absenkung der Staatsquote und der Abgabenbelastung für die Zukunft nicht gesichert werden. Ein Beispiel für die positive Auswirkung einer solchen Politik seien die Jahre zwischen 1982 und 1990, in denen die Staatsquote von fast 50 Prozent auf 45,8 Prozent reduziert wurde und gleichzeitig fast 2 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Ein Wissenschaftler des Instituts der Deutschen Wirtschaft unterstreicht, daß sich angesichts der Wettbewerbsprobleme der deutschen Wirtschaft die Frage aufdränge, ob die vereinbarten Normen in der sozialen Sicherung neu definiert werden müssen. Die Kernfrage laute, ob sich Deutschland seine Sicherungssysteme vor dem Hintergrund des gnadenlosen internationalen Wettbewerbs überhaupt noch leisten könne, oder ob es notwendig sei, zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit weitere Abstriche zu machen. Diese Diskussion stoße jedoch in Deutschland auf das Hindernis einer immer noch zu großen Anspruchshaltung der Bürger. Der Vertreter der LVA Thüringen warnt davor, die Sozialversicherungssysteme sozusagen auf dem Altar der Globalisierung zu op- [Seite der Druckausgabe: 41] fern. Der Vorwurf der angeblich zu großen Anspruchshaltung der Bürger sei zudem im Hinblick auf die Sozialversicherungssysteme verfehlt, da weder in der Rentenversicherung, noch in der Arbeitslosenversicherung, der Krankenversicherung oder der Pflegeversicherung Almosen verteilt würden. Vielmehr hätten die Menschen durch vorherige Einzahlungen einen Anspruch auf Leistungen aus dieser Sozialkasse erworben. Vorschläge, den Arbeitsmarkt durch die drastische Reduktion der Leistungen der Sozialversicherungen sanieren zu wollen, seien daher ausgesprochen problematisch. Bei den wohlklingenden Forderungen nach Senkung der Arbeitskosten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit müsse daher stets gefragt werden, wohin diese Entwicklung gehen soll und wo die Grenze des Leistungsabbaus liegen soll. Bezogen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit sei es zudem wenig relevant, ob der Beitragssatz zur Rentenversicherung 21 oder 19 Prozent betrage. Deutschland müsse sich damit abfinden, daß seine Wirtschaft in manchen Produktionsbereichen nicht mehr wettbewerbsfähig sein könne. Die Auswirkungen der Globalisierung ließen sich über eine reine Kostendebatte und einen entsprechenden Kostenwettlauf nicht in den Griff bekommen. Dagegen hält der Vertreter des Verbandes der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen für die entscheidende Aufgabe der nächsten Jahre. Nur dann könne die deutsche Wirtschaft die notwendigen Arbeitsplätze scharfen. Derzeit schaffe die in Deutschland oftmals sehr negativ beschriebene Globalisierung der Wirtschaft per saldo weltweit Arbeitsplätze. Das Problem sei jedoch, daß diese Arbeitsplätze nicht in Deutschland entstehen. Dies liege daran, daß selbst bei den deutschen Großunternehmen, die in den letzten Monaten Gewinne ausgewiesen hätten, diese Gewinne zumeist im Ausland und nicht in Deutschland erwirtschaftet wurden. In einer solchen Situation könne niemand erwarten, daß die Unternehmen in Deutschland neue Arbeitsplätze schaffen könnten. Das zentrale Problem hierbei seien die viel zu hohen Arbeitskosten, wegen derer meisten Unternehmen sehr intensiv über Kostenreduktionen oder gar Produktionsverlagerungen nachdächten. Wenn sich die Verantwortlichen in Deutschland nicht schleunigst um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bemühten, werde die deutsche [Seite der Druckausgabe: 42] Wirtschaft zunehmend hinter den internationalen Konkurrenten zurückfallen. Arbeitskosten sind ein sehr wichtiger, weil ausgesprochen transparenter und leicht vergleichbarer Standortfaktor. Der Vertreter der Daimler-Benz AG ist überzeugt, daß diese Transparenz mit der Einführung des Euro weiter zunehmen wird. Zugleich schaffe der Euro aber auch neue Wettbewerbschancen, weil es bestimmten Ländern dann nicht mehr möglich sei, sich durch die Abwertung ihrer Währung um die Lösung von Problemen herumzudrücken. Dennoch werde der Wettbewerbsdruck auf die deutsche Wirtschaft insgesamt weiter zunehmen. Ein zentraler Negativfaktor des Wirtschaftsstandortes Deutschland seien dabei in der Tat die sehr hohen Kosten aus den Sozialversicherungsbeiträgen. Hier sei inzwischen eine Belastungsgrenze erreicht worden, die nicht mehr überschritten werden dürfe. Derzeit bliebe den Unternehmen keine andere Möglichkeit, als die steigenden Lohnnebenkosten durch Entlassungen zu kompensieren. Im Extremfall führe die Kostenbelastung sogar dazu, daß Arbeit ins Ausland verlagert werde. Der Leiter des Fachbereichs International Department der Allianz Lebensversicherungs-AG unterstreicht, daß sich die Staaten heute auch im Hinblick auf ihre jeweiligen sozialen Sicherungssysteme in einem sich verschärfenden Systemwettbewerb befinden. Bei diesem Wettbewerb werde sich herausstellen, daß das deutsche System der sozialen Sicherung im Gegensatz etwa zu dem der Bundesbank kein Exportschlager sei. Es sei schlichtweg unvorstellbar, daß alle westeuropäischen Länder das deutsche Rentensystem übernehmen würden. Die entscheidende Meßlatte, an der die Politik heute gemessen werden müsse, sei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die derzeitige Situation mit über 5 Mio. Arbeitslosen in Deutschland und insgesamt rund 1 8 Mio. Arbeitslosen in der Europäischen Union sei eine faktische Bankrotterklärung der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Alle Diskussionen, die derzeit über die Sozialversicherungssysteme geführt würden, müßten deshalb funktional im Hinblick auf dieses grundlegende Problem geführt werden. Dabei könne kein Zweifel daran bestehen, daß das Beschäftigungsniveau einer Volkswirtschaft primär von deren Wettbewerbsfähigkeit abhänge. [Seite der Druckausgabe: 43] Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bietigheim-Bissingen bestätigt, daß die Belastung des Faktors Arbeit durch Steuern und Abgaben sehr hoch ist. Derzeit trage sie mit 62 Prozent zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben bei. Diese Situation sei für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen problematisch. Im Hinblick auf die Diskussion über die sozialen Sicherungssysteme stelle sich die Frage, ob die solidarischen Sozialsysteme so angelegt seien, daß sie den Strukturwandel zu mehr Beschäftigung förderten. Die heutigen Strukturen hätten zur Folge, daß sich Rationalisierungsanstrengungen von Unternehmen nahezu ausschließlich auf den Faktor Arbeit konzentrierten. Bei fast allen Unternehmen werde die Frage der Beschäftigung von Mitarbeitern inzwischen unter Renditegesichtspunkten bewertet. Insofern sei die zentrale Frage, wie die sozialen Sicherungssysteme umstrukturiert werden könnten, damit sie den Strukturwandel und die Schaffung neuer Arbeitsplätze förderten. Deutschland befinde sich derzeit am Beginn eines Umbruchs, der ebenso bedeutsam werden könne wie der beim Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft. Die zentrale Frage sei, ob es möglich sei, die sich daraus ergebenden Chancen zu nutzen, damit die Arbeitsplätze der Zukunft in Deutschland entstehen. 2.2.5 Defizite der gesetzlichen Rentenversicherung Die Sozialwissenschaftlerin erläutert, daß die gesetzliche Rentenversicherung aus frauenpolitischem Blickwinkel zwei Geburtsfehler hat, die sich erst heute als gravierend herausstellen. Das eine sei der reine Arbeitsmarktbezug, der in der Forschung als männliche Normalbiographie beschrieben werde. Diese Normalbiographie sei für Frauen niemals normal gewesen. Heute müsse man sich zusätzlich fragen, wie normal diese Biographie noch für Männer sein könne. Vor diesem Hintergrund stehe außer Zweifel, daß die alleine über das Erwerbsleben finanzierte Rente keine Zukunft mehr haben werde, weil die meisten Arbeitsverhältnisse keine Normalarbeitsverhältnisse mehr sind. Die daraus resultierenden Risiken, die bislang hauptsächlich Frauen erfuhren, würden zunehmend zu allgemeinen Risiken in der Arbeitsgesellschaft werden. Diese Entwicklung auf Arbeitsmarkt müsse in der Rentenversicherung berücksichtigt [Seite der Druckausgabe: 44] werden. Denn sonst würden sich die Risiken auf dem Arbeitsmarkt noch krasser in der sozialen Sicherung widerspiegeln als bisher, weil die Verlierer auf dem Arbeitsmarkt sonst noch stärker als bisher auch zu den Verlierern in der sozialen Sicherung würden. Das zweite Problem sei die Alterssicherung der Frauen über die Ehe, die in der gesetzlichen Rentenversicherung über die Hinterbliebenenrente verankert ist. Diese Hinterbliebenenrente sei derzeit sehr hoch, schließlich gehe jede dritte Mark in der Rentenversicherung in die Hinterbliebenenrente. Der Vertreter der AGS unterstreicht die Notwendigkeit, in der gesetzliche Rentenversicherung zu einer eigenständigen Alterssicherung der Frauen zu kommen. Die Altersarmut von Frauen in Deutschland sei ein Problem, das von Politik und Gesellschaft viel zu wenig ernst genommen werde. 2.3 Leben die Alten auf Kosten der Jungen? Das Vorstandsmitglied der BfA erläutert, daß jede Gesellschaft bezogen auf die soziale Absicherung der Bevölkerung drei Brote backen muß: Für die jungen Menschen, die noch nicht arbeiten, für die Erwerbstätigen und für die Menschen, die aufgrund von Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Rentenversicherungssysteme seien mehr oder weniger intelligente Systeme, die den gemeinsamen Teig für diese drei Brote zwischen den Generation vernünftig verteilten. Bezogen auf dieses Bild geht es in der derzeitigen Debatte über das Rentensystem darum, daß der Brotteig für diese Verteilung in den nächsten Jahren kontinuierlich abnehmen wird. Denn der elementare Unterschied zu früheren Diskussionen über die sozialen Sicherungssysteme liegt nach Einschätzung eines Professors der Freien Universität Berlin darin, daß die gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme bislang stets durch Wachstum moderiert wurden. Heute werde die Diskussion erstmals vor dem Hintergrund schrumpfender Verteilungsmassen geführt. Der Präsident der Universität Hamburg unterstreicht die Einschätzung, daß die heutige Verteilungsdiskussion unter vollkommen neuen Rahmenbedingungen geführt wird. Bei einem Vergleich des [Seite der Druckausgabe: 45] Anteils, den die jeweils erwerbstätige Generation für das Heranwachsen der nachkommenden Generation geleistet hat, zeige sich, daß diese Aufwendungen in den letzten Jahrzehnten immer tendenziell gestiegen waren. Dieser Anstieg sei nur möglich gewesen, weil sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem Zeitraum einen kontinuierlich wachsenden Anteil am erwirtschafteten Reichtum der Welt verschaffen konnte. Diese Entwicklung konnte jedoch seit dem Ende der 80er Jahre nicht mehr fortgeschrieben werden, so daß im Augenblick bestenfalls damit gerechnet werden könne, daß Deutschland seinen realen Wohlstand halten könne. Vor diesem Hintergrund müsse zwangsläufig darüber diskutiert werden, wie die Solidarität zwischen den Generationen, die bisher auf der Basis der Verteilung von Zuwächsen basierte, unter Bedingungen nicht mehr realer Zuwächse neu ausbalanciert werden könne. Der Leiter des Referats für Entwicklungsfragen der Sozialen Sicherheit der BfA verweist darauf, daß bei der Frage der intergenerationalen Gerechtigkeit im Rentensystem zunächst einmal geklärt werden müsse, wer eigentlich bei welchem Vorschlag die junge und wer die alte Generation ist. Diese Unklarheit in der Diskussion führe zu der unglücklichen Situation, daß sich eigentlich jeder betrogen fühle. Unstrittig sei durch die demographische Entwicklung in der Rentenversicherung ein Anstieg der Belastung zu erwarten. Insofern stelle sich zwangsläufig die Frage, wie diese zukünftige Belastung verteilt werden soll. Die Reformvorschläge der Bundesregierung führten dazu, daß die Jungen des Jahres 2030 entlastet würden, während die heute 20 bis 40jährigen zusätzlich belastet würden. Diese Verteilung der Belastung sei politisch gewollt, schließlich stehe die derzeitige Diskussion unter der Überschrift, die Belastung im Jahr 2030 nicht zu hoch werden zu lassen. Wenn dies nicht gewünscht werde, dann müsse die Reform grundsätzlich anders angelegt werden. Es sei jedoch nicht zutreffend, daß die heutigen Alten die Gewinner der Reform seien. Denn auch die derzeitigen Rentner hatten bereits durch die Reform von 1992 erhebliche Einbußen erlitten, da sie in deren Folge bereits auf 5 bis 6 Prozent Rentenerhöhung verzichten mußten. Rentenansprüche der älteren Generation sind ökonomisch nichts anderes als Forderungen gegenüber dem Staat, also Schulden, die [Seite der Druckausgabe: 46] der Staat macht und die in der Zukunft zurückgezahlt werden müssen. Zurückgezahlt werden sie von den Beitragszahlern mit allen Konsequenzen, die sich daraus für deren Beitragssatz ergeben. Aus Sicht des Wissenschaftlers des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg versteht es sich von selbst, daß dieses System von den nachgeborenen Generationen dann in Frage gestellt wird, wenn die intragenerationale Umverteilung primär zu ihren Lasten vollzogen wird. Das Institut für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg habe zum Nachweis der jeweiligen Belastung der einzelnen Generationen ein Modell für sogenannte "Generationenbilanzen" erarbeitet. Dabei werden für alle lebenden und zukünftigen Generationen sogenannte Generationenkonten geführt, auf denen festgestellt wird, wieviel jede Generationen beispielsweise im Rentenversicherungssystem im Laufe ihres Lebens an Nettozahlungen, d.h. Beitragszahlungen abzüglich der zukünftigen Rentenleistungen, einzahlten. Reformmaßnahmen könnten mittels dieser Methode danach beurteilt werden, inwieweit sie diese Nettozahlungen veränderten. So lasse sich belegen, daß bei den Plänen der Bundesregierung zur langfristigen Absenkung des Rentenniveaus auf 64 Prozent in erster Linie die heute jungen Generationen die Belastungen zu tragen hätten. Die zukünftigen Generationen würden wesentlich weniger entlastet, als versprochen werde, und die heutige Rentnergeneration leiste überhaupt keinen Beitrag zu dieser Reform. Der Vertreter der GRzG unterstreicht, daß im Hinblick auf die Frage nach der Generationengerechtigkeit in der Rentenversicherung die Rendite, die jede Generation aus diesem staatlichen System bekommt, von entscheidender Bedeutung ist. Unter Rendite seien alle Einzahlungen und Auszahlungen zu verstehen, die eine Generation auf einen Zeitpunkt auf- bzw. abgezinst erhalte. Berechungen vom VDR zufolge erhalte einer Person, die 1997 in Rente geht, aus dem staatlichen System eine Rendite von 6,5 Prozent - eine Rendite, die über der Kapitalmarktrendite liegt. Diese Rendite werde aufgrund der demographischen Entwicklung, der verlängerten Lebenserwartung und weiterer Faktoren in den nächsten Jahren kontinuierlich abnehmen. Ein heute Geborener, der im Jahre 2060 in Rente gehe. werde dagegen lediglich eine Rendite von 2,5 Prozent erhalten. Diese Entwicklung zu Lasten der heute geborenen Generation sei ungerecht und zudem ein Verstoß gegen die Generationengerech- [Seite der Druckausgabe: 47] tigkeit, derzufolge keine Generation besser gestellt werden sollte als die vorherige. Dieser Versuch, Generationengerechtigkeit anhand solcher Renditevergleiche zu bewerten, ist auf deutliche Kritik gestoßen. Mit Recht wird darauf verwiesen, daß ein solcher Vergleich als Indikator für die Bewertung der Lastenverteilung zwischen den Generationen ungeeignet ist. Nach Einschätzung des Vorstandsmitglieds der BfA sind derartige Generationenbilanzen unvollständig, weil in einem rein fiskalischen Vergleich das, was die Älteren bereits in die junge Generation eingebracht haben, nicht angemessen berücksichtigt werden kann. Bei einer umfassenden Generationenbilanz müßten Generationen von einem bestimmten Zeitpunkt an über ihr ganzes Leben verglichen werden. Und es müßte berücksichtigt werden, wieviele Transferleistungen diese Generation insgesamt aufgebracht und empfangen habe. Generationenbilanzen blieben Stückwerk, wenn sie ältere Generationen, die in einem solchen System nur noch empfangen könnten, mit jüngeren Generationen verglichen, die natürlich entsprechend mehr einzahlen müßten. Wenn man sich stattdessen die großen Verteilungsrelationen ansehe, dann ergebe sich, daß für die großen Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung in Deutschland einschließlich des Bundeszuschusses über Jahrzehnte gleichbleibend 10 bis 12 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) in Anspruch genommen wurden. Angesichts dieses gleichbleibenden Anteils am BIP sei die These zweifelhaft, daß sich eine Generation zu Lasten einer anderen Generation wesentlich komfortablere Lebensumstände verschafft habe. Das Vorstandsmitglied der IG Metall fordert eine politische Grundsatzentscheidung darüber, was die Gesellschaft bereit sei, für die soziale Sicherung auszugeben, und in welchem Umfang die Unternehmen an dieser gesellschaftlichen Aufgabe beteiligt werden sollen; Denn Grundlage für die Qualität des sozialen Sicherungssystem bleibe die jeweils aktuell erwirtschaftete Wertschöpfung und die Entscheidung der politisch Verantwortlichen darüber, welcher Anteil der Wertschöpfung für die soziale Sicherung ausgegeben werden soll. Die Höhe der Wertschöpfung hänge von zahlreichen Faktoren ab, insbesondere der Höhe des Erwerbspersonenpotentials und der Produktivitätsentwicklung. [Seite der Druckausgabe: 48] 2.4 Bewertung des Reformbedarfs in der gesetzlichen Rentenversicherung Niemand, der in der Sozialpolitik im engeren Sinne Verantwortung trägt, kann nach Einschätzung des Staatssekretärs im Thüringer Ministerium für Soziales und Gesundheit den bestehenden Reformbedarf leugnen. Über Umfang und Reichweite dieses Bedarfs besteht jedoch ein erheblicher Dissens. Der Vertreter der Frank Russell AG hält es als Grundlage der Reformdebatte für unumgänglich, sich zunächst über die an die Altersversorgungssysteme zu stellenden Änderungen einig zu werden. Aus Sicht der Sozialwissenschaftlerin bedarf es hierbei vor allem der Klärung, was mit der sozialen Sicherung eigentlich angestrebt werden soll. Gehe es um eine Altersicherung für die sozial Schwachen als obligatorisches System auf einem möglichst niedrigen Level oder um die Beibehaltung eines Sozialstaates, der möglichst viel für möglichst viele verschiedene Bevölkerungsgruppen umverteilt. Erst wenn diese grundlegende Frage geregelt sei, könne man die Frage der konkreten Ausgestaltung und Finanzierung angehen. Der Vertreter der LVA Thüringen sieht die Legitimation der Rentenversicherung gefährdet, wenn sie nicht weiterhin die Lebensstandardsicherung im Alter garantieren kann. Die derzeitige Politik führe den Grundsatz der Lebensstandardsicherung jedoch durch kontinuirliche Leistungssenkungen ad absurdum. Eigentlich sei in dieser Absicht bereits die Rentenreform 1992 an die Grenze des zu Rechtfertigenden gegangen, weshalb alle noch darüber hinaus gehenden Schritte zu einer massiven Gefährdung der Grundlage der Rentenversicherung führen würden. Der Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Soziales und Gesundheit unterstreicht, daß bei der Rentenversicherung an den beiden zentralen Elementen der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, dem Äquivalenzprinzip (Entsprechung von Beitrag und Leistung) und dem Solidarprinzip (interpersonelle Umverteilung innerhalb der Solidargemeinschaft), festgehalten werden sollte. Renten seien schließlich keine staatliche Aimosen. Vielmehr würden die Arbeitnehmer Beiträge einzahlen, aus denen ihnen ein Anspruch zuwächst, der durch den Staat zu sichern ist. Dieses Prinzip bedeutet freilich nicht, daß die sozialen Sicherungssysteme eine Art Sparklub seien, in die man bestimmte Be- [Seite der Druckausgabe: 49] träge einzahlt, und am Ende des Arbeitsleben die Summe der Einzahlungen zuzüglich der Erträge herausbekommt. Das Sozial- und Solidarprinzip bedeute vielmehr, daß die Jungen für die Alten zahlen die Gesunden für die Kranken und die, die Arbeit haben, für die Arbeitslosen. Wer dieses Prinzip aufgeben wolle, der müsse offen sagen, daß er eine andere Gesellschaft wolle, in der der Staat nicht mehr in der Lage sein soll, ein kollektives System der solidarischen Absicherung allgemeiner Lebensrisiken für alle zu gewährleisten. Eine Diskussion über Zukunftsperspektiven der sozialen Sicherungssystem im allgemeinen und der Rentenversicherung im speziellen dürfe sich nicht nur auf die Höhe der Beiträge beschränken, sondern müsse vor allem in Bezug auf die Leistungen geführt werden. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bietigheim-Bissingen hält eine Erneuerung der solidarischen Sicherungssysteme für notwendig. Zur Grundlage der sozialen Sicherung müsse anstelle der strukturkonservativen Besitzstandswahrung, die den notwendigen Wandel behindert und damit langfristig das bestehende Sicherungsziel gefährdet, ein dynamischer Sicherheitsbegriff gemacht werden. Hierzu gehöre die Einsicht, daß heute eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung und sozialer Sicherung möglich und notwendig sei. Es sei ein Verdienst sozialdemokratischer Politik, daß sich die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten an Einkommen, Vermögen und Bildungschancen deutlich verbessert habe. Vor diesem Hintergrund sei heute eine wachsende Zahl von Menschen in der Lage, über die existentielle Absicherung hinaus eigenverantwortlich zu entscheiden, in welchem Umfang und auf welche Weise sie Vorsorge für ihre Zukunft treffen möchten. Eine derart begründete neue Solidarität zwischen den Generationen sei die zentrale Voraussetzung für eine positive Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Wissenschaftler des Instituts der deutschen Wirtschaft erläutert, daß die derzeitigen Entwicklung in der Rentenversicherung mit einer Alterspyramide, bei der immer weniger Junge für immer mehr Alte sorgen sollen, dazu führt, daß die Finanzierung dieser Umverteilung für die Jungen teurer wird. Dies gilt zumindest für den Fall, daß das verschlechterte Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern nicht -wie in der Vergangenheit - durch entsprechende Produktivitätsfort- [Seite der Druckausgabe: 50] schritte kompensiert werden kann. In einer solchen Situation müsse dann ein gesellschaftlicher Konsens darüber gefunden werden, ob diese Teuerung gewünscht wird. Wenn dies nicht gewünscht werde, müßten Wege gefunden werden, um diese Verteuerung zu vermeiden. Hierfür gibt es nach Einschätzung des Vertreters der Frank Russell AG prinzipiell nur drei Möglichkeiten: Senkung der Rentenleistungen, Erhöhung der Rentenbeiträge oder Erhöhung des Rentenalters. Die politischen Maßnahmen der letzten Jahre zur Stabilisierung des Rentensystems entsprechen weitgehend der Kombination von Beitragserhöhungen, Leistungssenkungen und Maßnahmen zur Reduktion der Rentenbezugsdauer durch die Erhöhung des Rentenalters oder das Zusammenstreichen der beitragsfreien Rentenanwartschaften beispielsweise für Ausbildungsjahre. 2.5 Reformvorschläge für das deutschen Rentensystem 2.5.1 Die Vorschläge der Bundesregierung für eine Rentenreform 1999 Basierend auf den Vorschlägen ihrer Rentenreform-Kommission hat die Bundesregierung im Juni 1997 einen Gesetzentwurf für eine erneute Rentenreform vorgelegt, der vom Deutschen Bundestag am 10. Oktober 1997 mit den Stimmen der Regierungsfraktionen beschlossen wurde. Das Rentenreformgesetz soll zum 1.1.1999 in Kraft treten. Zur kurzfristigen Entlastung der Beitragszahler soll der Beitragssatz durch die Anhebung des Bundeszuschusses um einen Prozentpunkt gesenkt werden. Zur Gegenfinanzierung dieser Maßnahme soll die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt angehoben werden. Zur Entlastung der Rentenversicherung von den aufgrund der demographischen Entwicklung zu erwartenden langfristigen Finanzierungsproblemen wird zudem die Rentenanpassungsformel um einen demographischen Faktor erweitert, der die längere Lebenserwartung der Rentnergeneration ins Verhältnis zu den schwächer werdenden Nachfolgegenerationen setzen soll. Dadurch soll das Rentenniveau des sogenannten Eckrentners langfristig von derzeit 70 Prozent auf 64 Prozent des Durchschnittsentgelts abgesenkt werden. [Seite der Druckausgabe: 51] Diese Absenkung des Rentenniveaus führt nach Aussage des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung zu keinen Rentenkürzungen. Vielmehr werde lediglich der Anstieg der Rentenleistungen abgeschwächt. Wenn der Wert von 64 Prozent im Jahre 2030 erreicht wird, soll der demographische Faktor außer Vollzug gesetzt werden. Außerdem soll die Lebensarbeitszeit durch Verkürzung der anerkennbaren Ausbildungszeiten und die Anhebung der Regelaltersgrenze verlängert werden. Mit diesen Maßnahmen sollen nach offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung auch die derzeitigen Rentner an den aus der gestiegenen Lebenserwartung resultierenden Mehrbelastungen in angemessener Weise beteiligt werden. Da sich der künftige Anstieg der Renten verlangsame, käme es zu einer allmählichen Verminderung des Verhältniswerts zwischen den verfügbaren Renten und den verfügbaren Arbeitsverdiensten (Nettorentenniveau). Die Pläne der Bundesregierung sind auf breite Kritik gestoßen. Der Gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion bezeichnet die geplante Absenkung des Rentenniveaus als nicht akzeptabel. Die Bezugnahme auf das Rentenniveau des Eckrentners sei nicht mehr als eine Phantomdiskussion, weil die Anforderung zur Erlangung des Anspruchs auf diese Eckrente von 45 Beitragsjahren, von denen nur noch drei Schul- und Ausbildungsjahre sein dürfen, vom Durchschnittsrentner schon heute nicht mehr erreicht werde. Derzeit betrage der Durchschnitt der Versicherungsjahre westdeutscher Männer lediglich 39 Jahre. Entsprechend liege die Durchschnittsrente der Rentner heute oftmals unter dieser Eckrente. So belaufe sich die durchschnittliche Rente beispielsweise bei den Männern in der Arbeiterrentenversicherung heute nur auf 51,4 Prozent des Durchschnittsentgelts oder eine Summe von 1.552 DM. Bei den Frauen liege die Durchschnittsrente in der Arbeiterrentenversicherung sogar nur bei 21,6 Prozent oder 652 DM. Vor diesem Hintergrund sei die geplante Absenkung des Rentenniveaus um 9 Prozent völlig unverantwortlich, da für weitere Rentensenkungen angesichts der realen Rentenhöhe kein Spielraum bestehe. Eine Niveau-Absenkung durch eine faktorbedingte Schmälerung des jährlichen Anpassungssatzes greife zudem die laufenden Renten an. Und schließlich könne es durch die vorgesehene Reduktion der anerkennbaren Anrechnungszeiten für die Ausbildung und durch die im Fall vorzeiti- [Seite der Druckausgabe: 52] gen Rentenbezugs wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit bzw. wegen Arbeitslosigkeit eingeschränkten Rentenleistungen zu beträchtlichen Kumulationen der verschiedenen Einschnitte kommen. Der Vertreter der AGS erläutert, daß bereits beim heutigen Rentenniveau rund 26 Beitragsjahre notwendig sind, um bei den Renten den Sozialhilfesatz zu erreichen. Wenn die vorgesehenen Rentenkürzungen in Kraft träten, wären 32 Beitragsjahre notwendig. Bei einer solchen Regelung würden zwangsläufig viele Menschen in die Sozialhilfe abrutschen, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet hätten. Das Vorstandsmitglied der IG Metall kritisiert, daß die Absenkung des Rentenniveaus entgegen den Äußerungen der Bundesregierung einseitig zur Lasten der heute jungen Generation gehe. Denn schließlich soll die Rentenabsenkung erst im Jahre 2030 voll zum Tragen kommen, wenn die 1965 Geborenen in Rente gehen. Der Wissenschaftler des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Freiburg interpretiert die Vorschläge für eine Rentenreform 1999 in der Form, daß die heute Alten das Rentensystem offensichtlich auf Kosten der Jungen zu reformieren versuchten. Im Hinblick auf den Aspekt der Generationengerechtigkeit plädiert der Vertreter der GRzG deshalb für eine solidarische Aufteilung der zukünftigen Lasten zwischen alt und jung. Heute verfüge ein Ehepaar von über 65 Jahren über ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von 3.700 DM. Die in der öffentlichen Diskussion verbreitete Zahl der durchschnittlichen Rentenhöhe von lediglich 2.000 DM sei irreführend, da sie die bei vielen älteren Menschen anfallenden weiteren Einkünfte wie Zinserträge, Mieteinnahmen oder sonstige Transferleistungen unberücksichtig lasse. Bezogen auf die durchschnittlichen Gesamteinkünfte müsse festgehalten werden, daß es noch nie zuvor einer älteren Generation so gut ging wie der heutigen. Vor diesem Hintergrund sei es vertretbar, auch von der älteren Generation Solidarität und Opfer einzufordern. Ganz besonders gelte dies für ehemalige Beamte, deren durchschnittliche Pensionen pro Person heute bei stattlichen 3.800 DM netto lägen. Deshalb wäre es gerecht, auch die jetzigen Rentner an den Lasten zu beteiligen und bestehende Renten zu kürzen. Diese Teilung der Lasten auf jung und alt wäre Ausdruck von Solidarität, wobei der Beitrag der [Seite der Druckausgabe: 53] Rentner natürlich sozial abgefedert werden könnte, indem kleinere Renten gar nicht und höhere Renten stärker gekürzt werden. 2.5.2 Das Alternativmodell der SPD-Bundestagsfraktion Als Alternative zu den Vorschlägen der Bundesregierung hat die SPD-Bundestagsfraktion unter dem programmatischen Titel "Strukturreform statt Leistungskürzung" einen eigenen Vorschlag für eine Rentenreform 1999 vorgelegt. Ebenso wie die Bundesregierung will die SPD die derzeitigen Beitragszahler durch die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen entlasten, wobei die SPD die Beiträge zur Rentenversicherung sogar um 2 Prozentpunkte absenken will. Diese Entlastung soll durch eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt und eine Anhebung der Mineralölsteuer gegenfinanziert werden. Neben dieser Umfinanzierung will die SPD die Einnahmesituation der Rentenversicherung durch die generelle Einbeziehung der 610-DM-Arbeitsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht verbessern. Durch diese Maßnahmen und die parallel angestrebte Revitalisierung arbeitsmarktpolitischer Instrumente soll der Beitragssatz stabilisiert werden und gleichzeitig Spielraum für Reformen des Leistungsrechts gewonnen werden. Hierzu zählen insbesondere die Neugestaltung der Kindererziehungsjahre und die Schaffung einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen durch die Einführung eines Rentensplittings. Im Gegensatz zur Regierungskoalition sieht die SPD derzeit keine Notwendigkeit für Maßnahmen zur Stabilisierung der Rentenversicherung vor den langfristigen Risiken der demographischen Entwicklung. Hierfür seien die bereits im Rahmen der Rentenreform 1992 vollzogenen Regelungen ausreichend. Die abzusehende demographische Belastungsphase ab 2010 erfordere erst dann weitergehende Reformen, wenn sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht nachhaltig verbessern lasse. Direkte Leistungskürzungen oder die Absenkung des Rentenniveaus lehnt die SPD strikt ab, weil solche Maßnahmen das Vertrauen der gegenwärtigen Beitragszahlergeneration zerstörten und letztlich einem System-Achsel gleichkämen. [Seite der Druckausgabe: 54] Die Sozialwissenschaftlerin hält es nicht für sinnvoll, alle 610-DM-Arbeitsverhältnisse automatisch in die Sozialversicherungspflicht einzubeziehen. Bei der Frage der Einbeziehung in die Sozialversicherungspflicht müsse vielmehr darauf abgehoben werden, welchen Charakter dieses Arbeitsverhältnis für die Betroffenen habe. So sollten 610-DM-Arbeitsverhältnisse nicht in die Versicherungspflicht einbezogen werden, wenn sie ganz klar den Charakter eines "Jobs" hätten. Dagegen müßten Arbeitsverhältnisse, die die Funktion einer Erwerbsarbeit hätten, der Versicherungspflicht unterworfen werden. Die Frage der Einbeziehung müsse also entscheidend von den Personengruppen abhängig gemacht werden, die diese Arbeitsverhältnisse ausübten. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sieht im Boom der 610-DM-Arbeitsverhältnisse einen Beleg für die grundsätzlichen Schwierigkeiten der Politik. Das Ausufern dieser Arbeitsverhältnisse dokumentiere, wie prinzipiell vernünftige und einsichtige Gesetze in der Praxis unmöglich gemacht würden, weil sich immer mehr Arbeitgeber, für die diese Gesetze eigentlich nicht gedacht waren, ihrer Vorteile bemächtigten. Sozialversicherungsfreie 610-DM-Arbeitsverhältnisse seien eine vernünftige Sache, soweit sie wirklich nur auf die ursprünglich vorgesehenen Aushilfstätigkeiten angewendet würden. Dadurch, daß jetzt immer mehr Arbeitgeber insbesondere im Bereich des Handels dazu übergingen, originäre Vollzeitarbeitsverhältnisse in mehrere 610-DM-Jobs aufzusplitten, werde dieser Ansatz jedoch unterlaufen. In der politischen Diskussion über diese Entwicklung gebe es gute Argumente für die Beibehaltung solcher Arbeitsverhältnisse. Die CDU/CSU-Fraktion hatte hierzu als Kompromiß vorgeschlagen, geringfügige Nebenbeschäftigungsverhältnisse voll miteinzubeziehen. Dieser Vorschlag sei jedoch vom Koalitionspartner FDP abgelehnt worden. 2.5.3 Der Vorschlag der jungen SPD-Abgeordneten zur Ergänzung des Umlagesystems um einen Kapitalstock Die jungen SPD-Abgeordneten aus Bundes- und Länderparlamenten haben die Ergänzung des Umlageverfahrens durch einen Kapitalstock vorgeschlagen, der zur Beitragsstabilität in den Zeiten [Seite der Druckausgabe: 55] wachsender demographischer Belastung und zur späteren Beitragsentlastung beitragen soll. Um den notwendigen Spielraum zum Ansparen dieses Kapitalstocks zu gewinnen, soll die Rentenversicherung kurzfristig durch die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen entlastet werden, deren Gegenfinanzierung aus dem Einstieg in eine ökologische Steuerreform erfolgen soll. Die dadurch mögliche Beitragsentlastung soll nicht in voller Höhe an die Beitragszahler weitergegeben werden, stattdessen sollen 1 bis 2 Prozentpunkte des Beitragsaufkommens zum Aufbau des Kapitalstockes verwendet werden. Neben seiner Funktion als beitragsstabilisierendes Element soll der Kapitalstock teilweise auch zur Finanzierung von Innovationen und Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Nach dem Vorbild der angelsächsischen Pensionsfonds soll das im Kapitalstock angesammelte Kapital zu einem kleinen Teil als venture capital zur Finanzierung von Existenzgründern und jungen technologieorientierten Unternehmen ausgeliehen werden. Durch die Verknüpfung von Altersvorsorge und Investitionen könnte nach Einschätzung des SPD-Bundestagsabgeordneten aus Bietigheim-Bissingen eine Brücke zwischen Zukunft und Gegenwart geschlagen werden. Bekanntlich sei der Mangel an Risikokapital für Existenzgründer und junge technologieorientierte Unternehmen derzeit ein gravierender Wettbewerbsnachteil der deutschen Wirtschaft. Insbesondere im Hinblick auf den notwendigen Strukturwandel sei die Verfügbarkeit von ausreichenden Finanzierungsmöglichkeiten für junge High-Tech-Unternehmen von entscheidender Bedeutung. In den USA seien es bekanntlich vor allem die Pensionsfonds gewesen, die die rasante Entwicklung neuer Unternehmen beispielsweise im Informations- und Kommunikationssektor finanzierten und damit überhaupt erst ermöglicht hätten. Außerdem wollen die jungen SPD-Abgeordneten neue Erwerbsbiographien durch angemessene rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungs- und Bildungsphasen stärker in der Rentenversicherung berücksichtigen. Niedrige Rentenanwartschaften wegen Teilzeit sollen aufgestockt werden. Die damit entstehenden eigenständigen Anwartschaften erlauben eine Rückführung der Hinter- [Seite der Druckausgabe: 56] bliebenenversorgung durch die stärkere Anrechnung eigener Einkommen. Der Vorschlag zur Ergänzung des Umlageverfahrens durch einen Kapitalstock ist auf teilweise erhebliche Kritik gestoßen. Dabei wurde gelegentlich übersehen, daß der Vorschlag der jungen SPD-Abgeordneten lediglich die Ergänzung des Umlageverfahrens vorsieht und keineswegs dessen kompletten Ersatz durch ein reines Kapitaldeckungssystem. Neben grundsätzlichen Bedenken gegen die Eignung kapitalgedeckter Systeme für die gesetzliche Rentenversicherung werden als Argumente gegen die Schaffung eines Kapitalstockes insbesondere die Umstellungsproblematik, die Frage der Sicherheit der Kapitalanlagen und die Sicherung des Kapitalstocks vor dem Zugriff der Politik genannt. Das Vorstandsmitglied der IG Metall hat grundsätzliche Zweifel an der Eignung kapitalgedeckter Systeme für die gesetzliche Rentenversicherung. Schließlich berge der Kapitalmarkt erhebliche Risiken, wie die jüngsten Turbulenzen an den internationalen Börsen erneut belegten. Und bekanntlich habe es in diesem Jahrhundert bereits zweimal Situationen gegeben, in denen Kapitalstöcke zusammengebrochen seien. Zudem stelle sich die Frage, wie das immense Volumen dieses Kapitalstockes überhaupt auf dem Kapitalmarkt angelegt werden soll. Die Bedenken gegen kapitalgedeckte Systeme in der gesetzlichen Rentenversicherung werden von dem Vorstandsmitglied der BfA unterstützt. Kapitaldeckung sei nur in der zweiten und dritten Säule der Altersversorgung sinnvoll. Es sei ein Trugschluß zu glauben, man könne den Problemen der demographischen Entwicklung durch die Ergänzung um Kapitaldeckungsanteile entgehen. Denn im güterwirtschaftlichen Sinne könne es keine Kapitaldeckung geben. Die Vorstellung, man könne im Sinne der sprichwörtlichen "Aktion Eichhörnchen" eine echte Vorsorge für schlechte Zeiten betreiben, sei nichts weiter als ein verbreiteter Irrglaube. Die ökonomische Theorie habe eindeutig bewiesen, daß es realwirtschaftlich keine Vorsorge geben könne. Egal wie das System auch bezeichnet werde, müsse der gesamte Sozialaufwand real aus dem laufenden Sozialprodukt desselben Zeitraums bestritten werden. Insofern sei Kapitaldeckung in seiner reinen Form als auch [Seite der Druckausgabe: 57] in der Form einer Ergänzung des Umlageverfahrens nichts weiter als eine alternative Finanzierungsform. Als theoretische Grundlage diese Einschätzung gelten die bereits 1952 formulierten Thesen des Kieler Ökonomen Gerhard Mackenroth, wonach volkswirtschaftlich gesehen kein Unterschied zwischen Kapitaldeckungs- und Umlagesystemen bestehe. Mackenroth zufolge muß "aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden". Umverteilungen innerhalb einer Volkswirtschaft könnten demnach ausschließlich aus der Wertschöpfung derselben Periode finanziert werden. Somit gebe es auch "kein Sparen im volkswirtschaftlichen Sinne", sondern "nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand". Solle demnach in einer Volkswirtschaft Geld an einen inaktiven Personenkreis ausgeschüttet werden, so lasse sich dies nur aus der Masse der in derselben Zeitperiode erzielten Wertschöpfung extrahieren. Bezogen auf das Rentensystem heißt dies, daß die Existenzsicherung der älteren Generation ebenso wie diejenige der Kinder und Jugendlichen immer nur zu Lasten der Generationen organisiert werden könne, die im Erwerbsleben stehen und die Wertschöpfung erarbeiten. Mackenroths Thesen kommen heute wie damals als grundlegendes Argument gegen systemüberwindende Ansätze zum Einsatz. Dabei hat das Mackenrothsche Axiom angesichts einer globalisierten Wirtschaft und moderner Kommunikationsmittel, mittels derer Kapitalanleger in Sekundenschnelle weltweit renditeträchtige Anlageformen suchen und finden können, erheblich an Überzeugungskraft eingebüßt. Schließlich hat die geschlossene nationale Volkswirtschaft mit all ihren Vor- und Nachteilen längst keinen Bestand mehr, da sich die Wirtschaft längst von den Nationalstaaten abgekoppelt hat und sich nur noch global erfassen läßt. Zudem ist das Volkseinkommen kein statischer Begriff, sondern abhängig von der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, die wiederum entscheidend von der Summe der geleisteten Investitionen bestimmt wird. Ein Kapitalstock kann somit als Finanzierungsinstrument von Investitionen zur Erhöhung des Volkseinkommens beitragen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bietigheim-Bissingen erläutert, daß die demographische Entwicklung bei einem kapitalge- [Seite der Druckausgabe: 58] deckten System durchaus aufgefangen werden kann, da sich ein solches System bei seinen Erträgen an der wirtschaftlichen Entwicklung orientiere und nicht an der Kopfzahl der Beitragszahler. So könne in einer hochproduktiven, stark automatisierten Wirtschaft durchaus das erwirtschaftet werden, was für die Altersvorsorge der Rentner notwendig sei. Zudem bewege man sich bei einem Kapitalstock, der aus 1 bis 2 Beitragspunkten der Leistungen für die Rentenversicherung gespeist werde, in einem sehr überschaubaren Volumen, das problemlos am Kapitalmarkt plaziert werden könne. Schließlich gebe es in Deutschland derzeit ein erhebliches Defizit im Hinblick auf die Kapitalisierung. So erreiche die Börsenkapitalisierung in Deutschland in Relation zum Bruttosozialprodukt gerade mal 26 Prozent und liege damit ungefähr auf dem Niveau eines Schwellenlandes. In entwickelten Kapitalmärkten wie den USA, Großbritannien oder der Schweiz betrage die Börsenkapitalisierung dagegen weit über 100 Prozent des jeweiligen Bruttosozialproduktes. Zudem habe sich in der Vergangenheit mehrfach erwiesen, daß Anlagen in Produktivvermögen wesentlich krisenresistenter seien als andere Anlageformen. Der Vertreter der Frank Rüssel AG verweist auf die langjährigen Erfahrungen mit kapitalgedeckten Altersvorsorgesystemen in Ländern wie den USA oder den Niederlanden. Angesichts der dortigen Erfahrungen ließen sich die genannten Vorbehalte nicht aufrecht halten. Der große Vorfeil beim Kapitaldeckungsverfahren sei, daß die Kapitalerträge, die auf die nach dem Prinzip der Risikostreuung angelegten Beiträge anfallen, bereits nach 10 bis 20 Jahren wesentlich größer seien als die Summe der Beiträge selber. Bei einem durchschnittlichen Pensionsfonds stammten etwa 80 Prozent des Kapitals aus Kapitalerträgen und lediglich 20 Prozent aus Beiträgen. Das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentensystem in Deutschland solle nicht prinzipiell in Frage gestellt werden, aber das Kapitaldeckungsverfahren könne das Umlageverfahren wirkungsvoll ergänzen und dadurch dauerhaft finanzierbar machen. Der Geschäftsführer der Vereinigung der Unternehmerverbände in Berlin und Brandenburg sieht vor allem die Gefahr, daß sich die Politiker angesichts der üblichen Sachzwänge und der notorisch leeren öffentlichen Kassen an diesem Kapitalstock vergreifen werden. [Seite der Druckausgabe: 59] Schließlich würden im Zuge einer solchen Kapitalstockbildung auf Dauer riesige Summen in Höhe mehrerer Billionen DM zusammenkommen. Nach den Erfahrungen mit der Politik überwiege jedoch die Skepsis gegenüber den politisch Verantwortlichen. Dabei könnten sich die Arbeitgeber von der Theorie her grundsätzlich für das Modell eines Kapitalstockes begeistern. Der Vertreter der Daimler-Benz AG hält die Ergänzung des Rentensystems um Kapitaldeckungsanteile ungeachtet des Mißbrauchspotentials für eine große Chance. Die Sorge vor einem möglichen Mißbrauch des Kapitalstockes sei zwar berechtigt, dennoch sollte der Übergang zu neuen Systemen nicht wegen der Gefahr eines möglichen Mißbrauchs abgelehnt werden. Aufgrund des gescheiterten Versuchs von Bundesfinanzminister Waigel zur Neubewertung der Goldreserven der Bundesbank hält der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bietigheim-Bissingen die Frage, wie sich ein derartiger Zugriff der Regierung auf einen Kapitalstock in der Rentenversicherung verhindern ließe, für berechtigt. Das einfachste Modell hierfür wäre, nach einer bestimmten Beitragszeit individuelle Ansprüche zu garantieren, wodurch ein Eingriff des Staates einem enteignungsgleichen Tatbestand gleichkäme. Zudem sei die Gefahr des mißbräuchlichen Eingriffs der Politik auch beim jetzigen Umlageverfahren gegeben, wie die Erfahrungen der letzten Jahre lehrten. Der Vertreter der GRzG sieht darüber hinaus die Gefahr, daß die aktive Generation während der Ansparphase des Kapitalstocks doppelt belastet werde. Denn selbst bei der Variante, das Ansparen des Kapitalstockes durch die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen zu finanzieren, müßten die Beiträge in der Ansparzeit künstlich hochgehalten werden, statt sie schnell zu senken. Angesichts der derzeitigen Rekordbelastung der Arbeitnehmer in der Rentenversicherung sei es daher für den Einstieg in ein solches Modell eigentlich bereits zu spät. Umso dringlicher ist nach Einschätzung des SPD-Bundestagsabgeordneten aus Jena deshalb die schnelle Einführung einer kapitalgedeckten Ergänzung der Umlagefinanzierung. Man dürfe nicht so lange warfen, bis sich die Problematik der gesetzlichen Rentenversicherung derart verschärft habe, [Seite der Druckausgabe: 60] daß es wirklich keine Alternative mehr zur weiteren Erhöhung der Beiträge oder zur drastischen Absenkung der Leistungen gebe. Der Vertreter der baden-württembergischen Jusos sieht den entscheidenden Vorteil eines Kapitaldeckungsverfahrens darin, daß die Rentenversicherungsleistungen nicht nur aus den Beiträgen entnommen werden müßten, sondern aus der Summe der Beiträge zuzüglich der daraus erzielten Verzinsung. Die Zinsen übernähmen dabei die Funktion eines dritten Beitragszahlers. Die immer wieder aufkommenden Inflationsängste seien zudem übertrieben, da Inflation im Nachkriegseuropa überwiegend kein Problem mehr darstelle, weil die Politiker und Notenbanken verstanden hätten, wie wichtig eine effiziente Inflationsbekämpfung sei. Die Umstellung auf Kapitaldeckungsanteile sollte so früh als möglich begonnen werden. Denn nur wenn der Aufbau des Kapitalstockes deutlich vor dem Erreichen der demographischen Problemjahre im Jahr 2015 beginne, stehe dann das zur Abfederung der demographischen Belastungen notwendige Kapital zur Verfügung. Ein Teil der Rentenleistungen könnte dann aus der Umlagefinanzierung herausgenommen werden, wodurch der Anstieg der Beitragssätze trotz der demographischen Belastungen geringer ausfallen könnte. Der Vertreter der LVA Thüringen unterstreicht, daß im Hinblick auf die Rentenversicherung die zentralen Aufgaben lauten, einerseits Leistungsstabilität zu bewahren, um die Rentenversicherung als Lebensstandardsicherung zu garantieren, und auf der anderen Seite Beitragsstabilität zu schaffen. Wenn man vor diesem Hintergrund der Meinung sei, daß man im Jahre 2030 keinen Beitragssatz von 28 Prozent tragen könne, dann müsse in der Tat bereits heute darüber nachgedacht werden, wie man hierfür die richtigen Weichenstellungen schaffe. Und hierfür sei das Modell eines Vorsorgefonds durchaus ein Weg, der weitergedacht werden sollte. Dabei stehe außer Zweifel, daß dieser Weg sehr schnell eingeleitet werden müsse. [Seite der Druckausgabe: 61] 2.5.4 Vorschläge für einen Systemwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung Der Vertreter der baden-württembergischen Jusos hat aufbauend auf dem Vorschlag der jungen SPD-Abgeordneten einen weitergehenden Vorschlag zur Ergänzung der Umlageverfahrens durch ein Teilkapitaldeckungssystem vorgelegt, der mittelfristig den Übergang zu einem neuen Rentensystem vorsieht. Demnach soll die Bemessungsgrundlage für die Beiträge auf alle Erwerbseinkommen, also auch der Einkommen aus selbständiger Tätigkeit und geringfügiger Beschäftigung, von der ersten D-Mark bis zu einer Kappungsgrenze, die in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung (ca. 6.200 DM) liegen soll, ausgedehnt werden. Die versicherungsfremden Leistungen, die der Vertreter der baden-württembergischen Jusos auf fast 200 Mrd. DM beziffert, sollen auf ihre Erhaltensnotwendigkeit überprüft und schrittweise aus dem Aufkommen der Mehrwertsteuer sowie einer Energieverbrauchssteuer finanziert werden. Der durch die Entlastung von versicherungsfremden Leistungen entstehende Spielraum soll nicht vollständig zur Absenkung der Rentenbeiträge verwendet werden, sondern teilweise zum Aufbau eines Kapitalstocks, der Institutionen von dem Umlageverfahren getrennt wird. Zwei Prozentpunkte der Beiträge (rund 25 Mrd. DM) werden in diesem Kapitalfonds angesammelt, der nach einem gesetzlich festgelegten Verteilungsschlüssel angelegt werden soll: Maximal 40 Prozent des Fondsvolumens dürfen in staatliche Schuldverschreibungen angelegt werden, 10 Prozent werden als Risikokapital in Form zinsgünstige Existenzgründungsdarlehen vergeben und 5 Prozent werden entsprechend dem Beitragsaufkommen den einzelnen Branchen zur Bildung von privatwirtschaftlich organisierten Branchenfonds zur Verfügung gestellt, die von den jeweiligen Sozialpartnern paritätisch verwaltet werden. Diese Mittel dürfen nur zur Finanzierung von Investitionen ausgegeben werden, durch die neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die restlichen Mittel werden am Kapitalmarkt platziert. Die Versicherten, die entsprechend den Rentenanwartschaften 15 Jahre in diesen Fonds eingezahlt haben, erwerben damit das Eigentum an ihren eingezahlten Fondsanteilen. Wer weniger als 15 Jah- [Seite der Druckausgabe: 62] ren eingezahlt hat, erhält keinen Versorgungsanspruch aus diesem Fonds. Aufstockung der Einzahlungsjahre durch Einmalzahlungen sollen jedoch möglich sein. Das Aufkommen der Beiträge, denen aufgrund der zu geringen Einzahlungsjahre kein individueller Versorgungsanspruch gegenübersteht, soll zur Aufstockung der Renten derjenigen dienen, die keinen Anspruch aus dem Kapitalstock haben und aus dem Umlageverfahren nur noch eine Rente auf niedrigem Niveau zu erwarten haben. Neben diesem zweistufigen Rentensystem soll eine integrierte bedarfsorientierte Grundsicherung eingeführt werden. Diese Grund(sicherungs)rente soll oberhalb des Existenzminimums liegen und jährlich dynamisiert werden. Sie soll innerhalb des Alterssicherungssystems Rentenansprüche aufstocken, die unter dem Grundsicherungsniveau liegen. Die Grundrente soll keine originäre Leistung der Rentenversicherung sein, sondern als gesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert werden. Von einer derart gestalteten Grundrente versprechen sich die Befürworter einen sozialen Ausgleich im unteren Anspruchsbereich zur Behebung der Altersarmut insbesondere von Frauen. Diese Vorschläge zur Einführung eines neuen Rentensystems sind überwiegend auf deutliche Kritik gestoßen. Das Vorstandsmitglied der BfA und der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bezeichnen den vorgeschlagenen Modellentwurf als vollkommen unausgegoren. In der Tat bleiben die konkrete Funktion und die Verzahnung der verschiedenen Elemente des dreistufigen Rentensystems mit einer aus dem Steueraufkommen finanzierter Grundsicherung, dem reduzierten Umlageverfahren und dem ergänzenden Kapitalfonds vollkommen offen. Entsprechendes gilt für die Frage nach der Höhe der aus dem Umlageverfahren zu erwartenden Leistungen und der hierfür von den Erwerbstätigen zu erbringenden Beiträge sowie den Umfang der angesprochenen Transferleistungen zwischen Kapitalfonds und Umlageverfahren. Darüber hinaus bleiben auch die konkreten Auswirkungen auf die Rentner insbesondere in der Übergangsphase und die gesamtwirtschaftlichen Folgen eines solchen Systemwechsels unklar. [Seite der Druckausgabe: 63] Profiliertester Protagonist von Vorschlägen für den Systemwechsel in der Rentenversicherung ist der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Im Gegensatz zu den Vorschlägen der baden-württembergischen Jusos will Biedenkopf das an die Erwerbsarbeit anknüpfende Umlageverfahren jedoch vollkommen abschaffen und durch eine steuerfinanzierte Grundrente ersetzen. Diesem Modell zufolge soll jeder Bürger von seinem 65. Lebensjahr an eine Grundrente in Höhe von 1.500 DM erhalten, unabhängig davon, ob und wie lange er zuvor berufstätig war. Derartige Grundsicherungsmodelle laufen auf die Abschaffung der gesetzlichen Rentenversicherung hinaus. Der Staat soll nur noch ein Mindesteinkommen auf niedrigem Niveau sichern. Für alle darüber hinaus gehenden Absicherungen muß der Einzelne individuell versorgen. Die Grundsicherungsvorschläge werden von den meisten Rentenexperten abgelehnt. Für eine derart radikale Abkehr von den Grundsätzen deutscher Sozialpolitik bestehe keine Notwendigkeit. Zudem seien diese Vorschläge nicht sauber auf ihre Finanzierbarkeit durchgerechnet. Die vorgeschlagene Grundsicherung in Höhe von 1.500 DM für jeden lasse sich nur mit einem Mehrwertsteuersatz von 30 Prozent finanzieren. Dies könne jedoch in der heutigen Situation keine ernsthafte Perspektive sein. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hält die Aufgabe des Äquivalenzprinzips zudem für leistungsfeindlich. Der deutsche Sozialstaat habe die Funktion, daß existentielle Risiken vom Staat getragen werden. Deswegen habe der Staat auch das Recht, in der Zeit, in der die Menschen leistungsfähig seien und Geld verdienten, von ihnen auch Beiträge für diese Absicherung zu kassieren. Der Vertreter der LVA Thüringen räumt ein, daß Grundsicherungs-Modelle mit einer monatlichen Grundrente in Höhe von 1.500 DM auf den ersten Blick verlockend klingen. Es sei jedoch eine irrige Hoffnung zu glauben, daß die 1.500 DM angesichts des Zustandes der öffentlichen Haushalte jemals Realität werden würden. Jeder Finanzminister würde bei angespannten Situationen auf Kürzungen drängen, so daß die Grundsicherung in der Tendenz sehr schnell zur Sozialhilfehöhe abrutschen werde. Bundesarbeitsminister Nor- [Seite der Druckausgabe: 64] bert Blüm habe die Grundsicherungsvorschläge daher treffend als "Rente nach Kassenlage" bezeichnet. Der Gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gibt zudem zu bedenken, daß in der Rentenpolitik nicht im Jahre 1997 sozusagen auf der "Grünen Wiese" begonnen werden kann. Vielmehr gebe es in Deutschland ein gewachsenes System mit erworbenen Rechtsansprüchen. Eine radikale Umstellung des Systems könnte das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Rentenversicherung und der Staatsorgane erschüttern. 2.5.5 Vorschläge zur Individualisierung der Altersversorgung Für eine grundsätzliche Beibehaltung der Struktur der deutschen Altersversorgungssysteme bei einer deutlichen Verlagerung der Gewichtung zwischen deren drei Säulen plädiert der Vertreter der Allianz. Die gesetzliche Rentenversicherung stehe angesichts der demographischen Entwicklung vor derart großen Problemen, daß das Rentenniveau langfristig abgesenkt werden müsse. Die Erfahrung aus anderen Ländern, die statt des Umlageverfahrens Kapitaldeckungssysteme hätten, dokumentiere, daß auch diese Systeme mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. So belege eine kürzlich vorgelegte Studie des amerikanischen Finanzministeriums, daß die Amerikaner im Schnitt 38 Prozent zu wenig für ihre Altersvorsorge täten. Und etwa 80 Prozent aller Engländer würden aufgrund ihrer gegenwärtigen Rückstellungen in privaten Pensionsfonds nicht zu einer Versorgung kommen, die ihnen das Existenzminimum sichern werde. Vor diesem Hintergrund sei es keine vernünftige Forderung, das Umlageverfahren abzuschaffen und durch kapitalgedeckte Systeme zu ersetzen. Da die staatlichen Altersvorsorgesysteme offenkundig weltweit Probleme hätten, dauerhaft eine angemessene Lebensstandardsicherung der Menschen im Alter zu garantieren, bleibe nur die Möglichkeit, die private Altersvorsorge entsprechend zu stärken. Insofern seien die Politiker dringend aufgefordert, die Menschen ehrlich über diese Notwendigkeit aufzuklären. Flankierend hierzu müßten natür- [Seite der Druckausgabe: 65] lich auch die entsprechenden steuerlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Menschen für eine verstärkte Altersvorsorge zu motivieren. Denn diese Vorsorge müsse natürlich zu Lasten des augenblicklichen Konsums gehen. Auf dem deutschen Markt gebe es heute bereits kapitalgedeckte Systeme, die ausgezeichnet für die Anforderungen der Altersvorsorge geeignet seien. Aus Sicht des Vertreters der Allianz ist hierfür natürlich in besonderem ,Maße die Kapitallebensversicherung geeignet. Mit einem solchen Produkt lasse sich das zitierte "Prinzip Eichhörnchen" durchaus erfolgreich in die Praxis umzusetzen. Der Vertreter der AGS räumt ein, daß private Zusatzvorsorge für das Alter immer wichtiger wird. Es stelle sich jedoch die Frage, wie sich ein Familienvater mit 2 Kindern und einem Einkommen von 2.500 DM noch zusätzlich versichern solle. Das Vorstandsmitglied der BfA unterstreicht, daß die einseitige Fixierung auf die private Altersvorsorge zu erheblichen Ungerechtigkeiten führe. Die individuellen Risiken würden um ein Vielfaches höher zu Buche schlagen als bei den derzeitigen Sicherungssystemen. Wer den in Aussicht genommen Zeitpunkt nicht erreichen könne, weil er beispielsweise erwerbsunfähig werde, müsse bei einem solchen System natürlich wesentliche Sicherungsverluste hinnehmen. Der Vertreter der Frank Rüssel AG unterstreicht, daß es natürlich Menschen gibt, die allen Steuerbegünstigungen zum Trotz nicht in der Lage sind, privat Vorsorgen zu können. Für diese Menschen müsse vom Staat vorgesorgt werden, damit sie nicht durchs Netz fallen. Aber all diejenigen, die privat Vorsorgen könnten, sollten ermuntert werden, dies auch zu tun. Und gerade junge Menschen mit einem sehr langen Zeithorizont sollten ihr Geld am besten in Aktien anlegen, weil die Erträge bei der langfristigen Aktienanlage wesentlich höher seien als bei Anlageformen wie beispielsweise der Kapitallebensversicherung. Der deutsche Gesetzgeber gehe derzeit den falschen Weg, lediglich eine Sparform wie die Kapitallebensversicherung steuerlich zu begünstigen; stattdessen müßten alle Anlageformen, die der langfristigen Kapitalbildung dienten, gleichermaßen steuerlich begünstigt werden. [Seite der Druckausgabe: 66] Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bietigheim-Bissingen unterstreicht die Notwendigkeit zur steuerlichen Gleichbehandlung aller Anlageformen bei der Altersvorsorge. Die einseitige steuerliche Privilegierung der Kapitallebensversicherung habe in den letzten Jahren zu einer gigantischen Fehlallokation des Anlagekapitals in Deutschland geführt. Andere, mitunter deutlich interessantere Formen der betrieblichen und privaten Altersvorsorge seien derzeit steuerlich benachteiligt. Eine steuerliche Gleichstellung aller Formen der Altersvorsorge eröffne den Wettbewerb der Anlageformen und ermögliche die erforderliche Stärkung betrieblicher und privater Altersvorsorge als zweite und dritte Säule neben der gesetzlichen Rentenversicherung. 2.5.6 Reformvorschläge innerhalb des bestehenden Rentensystems Das Vorstandsmitglied der IG Metall sieht keine Notwendigkeit für einen Systemwechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung, jedoch für eine Konkretisierung und Weiterentwicklung des Sozialstaats, die den gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung trägt. Eckpunkte einer solchen Weiterentwicklung müßten die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die Bekämpfung der Armut etwa durch eine bedarfsorientierte Mindestsicherung in den vorgelagerten Sozialversicherungssystemen sowie eine präventive Ausrichtung der Sozialpolitik sein, die nicht erst dann eingreift, wenn das soziale Risiko entstanden ist. Flankierend hierzu sollten Maßnahmen für eine Umverteilung von oben nach unten eingeleitet werden, beispielsweise in Form einer stärkeren Besteuerung von Kapitalvermögen und Kapitalerträgen sowie dem Stopfen von Steuerschlupflöchern und der Durchsetzung des bestehenden Steuerrechts. Das Vorstandsmitglied der BfA unterstreicht die Notwendigkeit einer Reform im System. In deren Rahmen müsse insbesondere die eigenständige Alterssicherung der Frauen verbessert werden. Außerdem müsse die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses sowohl arbeitsrechtlich als auch sozialrechtlich verhindert werden. Und schließlich müsse der Versichertenkreis erweitert werden, um auf diesem Wege die Beitragsbasis zu erhöhen. [Seite der Druckausgabe: 67] Die Sozialwissenschaftlerin spricht sich ebenfalls gegen eine grundlegende Systemänderung aus. Gleichwohl müsse das bestehende System insbesondere dahingehend reformiert werden, daß Erwerbsarbeitsverhältnisse zukünftig anders berücksichtigt werden. Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt flexibel seien, dürften dadurch keine Nachteile in der Rentenversicherung erleiden. Insofern müßten Teilzeitverhältnisse und bisher nicht versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse anders bewertet werden als bisher. Weiterer Reformbedarf bestehe bei der Veränderung der Bemessungsgrundlage, damit künftig auch Personenkreise wie die Beamten in die soziale Sicherung einbezogen würden. Außerdem müßte die Anrechnung der Erziehungszeiten auf 100 Prozent des Durchschnittseinkommens angehoben werden, wie es auch die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Rentenreformmodell vorgeschlagen habe. Bislang werde das fiktive Gehalt, das den Erziehungszeiten unterstellt werde, lediglich in Höhe von 75 Prozent des Durchschnitts anerkannt, womit die Lohndiskriminierung von Erzieherinnen auf dem Arbeitsmarkt bei der Bemessung der späteren Rentenleistung fortgeschrieben werde. Eine andere Zukunftsinvestition, die bei der späteren Rentenhöhenbemessung viel stärker berücksichtigt werden müßte als bisher, sei die Ausbildung. Bis 1992 lag das Volumen der anrechenbaren Ausbildungszeiten bei 14 Jahren, im Rahmen der Rentenreform 1992 wurden die Ausbildungszeiten auf 7 Jahre gekürzt und jetzt plant die Bundesregierung die erneute Verkürzung auf 3 Jahre. Diese Kürzung sei vollkommen kontraproduktiv in einer Zeit, in der Ausbildung, Weiterbildung und Umschulung in den Erwerbsbiographien der Menschen immer wichtiger würden. Ein wirklicher Fortschritt wäre in dieser Frage das von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene Modell, wonach Ausbildungszeiten steuerfinanziert wesentlich besser bewertet werden sollten als bisher. Diesem Vorschlag zufolge sollen die ersten 3 Jahre mit 100 Prozent und weitere 5 Jahre mit 60 Prozent angerechnet werden. Als Folge eines solchen Ansatzes käme man zu einem zweigeteilten Rentensystem: Einem über die Erwerbsarbeit beitragsbezogenen System auf der Grundlage eines erweiterten Erwerbsarbeitsbegriffs sowie einem steuerfinanzierten Rentensystem für das, was heute unter dem Begriff versicherungsfremde Leistungen subsumiert werde. Diese zweite Säule sollte dabei mit einer [Seite der Druckausgabe: 68] starken Präferenz für die Erziehungszeiten als eigenständigem Bestandteil zur Absicherung der Frauen sowie die Ausbildungszeiten ausgestattet werden. Letzteres käme ebenfalls den Frauen zugute, weil sie in den letzten 30 Jahren im Bereich Aus- und Weiterbildung enorm aufgeholt hätten. Entsprechend träfen die jetzt vorgenommenen Kürzungen der Ausbildungszeiten die Altersrenten der Frauen stärker als die der Männer, weil bei den Frauen der Anteil der Ausbildungszeiten in der Relation zur Erwerbsarbeit größer ist. Zudem sollte die Rentenversicherung künftig nicht mehr einseitig ausgerichtet werden auf die Fiktion eines Normalarbeitsverhältnisses und einer Standardsicherung - Standardrentner mit 45 Jahren Versicherungsjahren Vollzeit -, sondern an realistischen Lebens- und Erwerbsverläufen von Männern und Frauen. Hierzu gehöre auch die Neuregelung der Hinterbliebenenrente, bei der zukünftig eigene Einkommen viel stärker angerechnet werden müßten. Diese Renten müßten grundsätzlich anders behandelt werden als die beitragsfinanzierte Rentenversicherung. Generell sei an dem bestehenden System zu bemängeln, daß die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre in die bisherige Rentendiskussion nicht eingegangen seien. Die vollkommen neuen Lebenszusammenhänge vor allem jüngerer Frauen, das sogenannte Patchwork-Leben zwischen Beruf und Familie, zwischen gesicherter und nichtgesicherter Erwerbsarbeit, komme in der gesamten Debatte kaum vor. Insofern sollte bei einer Diskussion über Reformen in der Rentenversicherung der gesellschaftliche Wandel und das veränderte Geschlechterverhältnis viel mehr einbezogen werden. Außerdem sollte das Rentensystem durch eine viel stärkere Erläuterung und Transparenz sozusagen demokratisch geöffnet werden. Denn erst, wenn die Menschen überhaupt in die Lage versetzt würden, sich ein Bild vom Rentensystem machen zu können, werde es möglich werden, daß die Politik die Diskussion aus den engen Kreisen der Fachexperten zurückhole. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001 |