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TEILDOKUMENT:
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l. Der Wirtschaftsstandort Deutschland vor neuen Herausforderungen und Möglichkeiten Die politischen und ökonomischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa (MOE) haben deutlich erkennbar auch den Wirtschaftsstandort Deutschland verändert. Deutschland ist aus dem Dualismus der Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen in die Mitte Europas zurückgekehrt. Die wichtigste und einschneidendste Veränderung war die deutsche Vereinigung selbst. Die marktwirtschaftliche Reorganisation und Integration der ostdeutschen Wirtschaft hat - bei allen damit einhergehenden Problemen- zu einem breiten Strom privater und öffentlicher Investitionen aus Westdeutschland geführt. Die Transformation der ostdeutschen und osteuropäischen Wirtschaft führte zur Aufhebung des bisherigen arbeitsteiligen Netzes an Handels- und Güterströmen im Rahmen des RGW. Der Verlust der Märkte in Mittel- und Osteuropa hatte nicht zuletzt einen massiven Verlust an Arbeitsplätzen in der ostdeutschen Wirtschaft zum Ergebnis. Die Erschließung neuer Märkte konnte nicht im Ansatz hierfür einen Ausgleich schaffen. Nach einer Phase des marktwirtschaftlichen Umbaus stabilisieren und konsolidieren sich Wirtschaft und Gesellschaft der Länder Mittel- und Osteuropas, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Seit der politischen Wende liegt mit Mittel- und Osteuropa ein Niedriglohngebiet unmittelbar "vor der Haustür". Nunmehr bedroht Konkurrenz aus diesen Ländern Arbeitsplätze in Deutschland und anderen Staaten, vorerst vor allem in Branchen mit niedrigen Löhnen und einfachen Technologien. Ein verstärkter Trend deutscher Unternehmer zur Produktionsverlagerung nach Osten ist nicht zu übersehen, auch wenn der befürchtete gewaltige Sog bislang ausblieb. Aber der "Treck deutscher Investitionen nach Osten" wird zunehmen und auf andere Sektoren übergreifen: "Produktionsverlagerung von West - nach Mittel- und Osteuropa wird weitere Sektoren erfassen (Software, high-tech), umfangmäßig zunehmen (mit wachsender Produkt- Qualität in MOE) und sich in den Staaten Mittel- und Osteuropas geographisch ausdehnen (über Ausbau der Infrastruktur)", davon zeigte sich ein SPD-Europaabgeordneter wie viele andere Experten überzeugt. Denn globaler Wettbewerb vollziehe sich am Ende des 20. Jahrhunderts wesentlich über Produktionsverlagerung und Standortwechsel. Produktionsverlagerung von Westeuropa nach den Staaten Mittel- und Osteuropas sieht er als eine Folge fortschreitender Entgrenzung von Kapital- und Warenflüssen und einer daraus entspringenden Umverteilung von Wachstumspotentialen an. Der [Seite der Druckausgabe: 2] Begriff der Produktionsverlagerung wird hierbei sehr weit gefaßt und bezieht Direktinvestitionen, Lizenzvergabe, passive Lohnveredelung, subcontracting etc. ein, also alle Alternativen im Ausland zu einer bisherigen oder zukünftigen Produktion im Inland. Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer sind kein neues Phänomen. Neu ist die geographische Nähe und die Schnelligkeit mit der Mittel- und Osteuropa als Markt in Erscheinung getreten ist. Außerdem weisen die MOE-Länder gegenüber den "klassischen" Billiglohnländern der "Dritten Welt" einige Spezifika auf: Sie haben eine industrielle Tradition, eine gut qualifizierte Facharbeiterschaft und ein gutes ingenieur-technisches Potential. Zu diesen neuen Herausforderungen kommt hinzu, daß die BRD nach verbreiterter Einschätzung erheblich an ökonomischen und technologischen Vorsprüngen verloren hat. Die westdeutsche Wirtschaft hat im Zuge der deutschen Vereinigung durch ihr Engagement in Ostdeutschland teilweise ihr investives Engagement im Ausland reduziert. Zudem hat die deutsche Vereinigung strukturelle Schwächen der westdeutschen Wirtschaft verdeckt bzw. in den Hintergrund gedrängt. Der internationale Wettbewerb hat aber seit Beginn der 90er Jahre weltweit keineswegs an Dynamik verloren. Die Europäische Union und damit auch Deutschland stehen in einem harten internationalen Wettbewerb, vor allem innerhalb der Triade Nordamerika - Japan - Westeuropa. Deutschland hat momentan keine gute wirtschaftliche Position - so die Einschätzung eines SPD-Bundespolitikers. Es drohe, zwischen den Avantgardeländern der Hochtechnologie (Japan, USA) und den Niedriglohnländern zerrieben zu werden. Europa habe eine neue Architektur nach 1989 erhalten, wirtschaftspolitisch sei diese Tatsache aber noch nicht verarbeitet worden. Aber mit der Öffnung der Staaten Mittel- und Osteuropas ist nicht nur ein Europa der härteren Konkurrenz, sondern aufgrund des enormen Marktpotentials und der räumlichen Nähe auch ein Europa der größeren Chancen entstanden. In Mittel- und Osteuropa existiert ein hoher Nachholbedarf an Konsumgütern, ein hoher Modernisierungs- und Erneuerungsbedarf an Maschinen und Anlagen, an privater und öffentlicher Infrastruktur und damit an Investitionsgütern. Zweifelsohne setzt wirtschaftliche Verflechtung allerdings handlungs- und zahlungsfähige Partner voraus. Handel und Arbeitsteilung können auf unterschiedlichem Niveau und in verschiedenen Formen verlaufen. Sollen Wohlstandsunterschiede nicht langfristig verfestigt, sondern schrittweise abgebaut werden, müssen auch in Mittel- und Osteuropa Zentren des innovativen Wandels der Wirtschaft erhalten, stabilisiert und erweitert werden. Neben der Erschließung innerer Wachstumsquellen ist der Zustrom ausländischen Kapitals [Seite der Druckausgabe: 3] für die Modernisierung der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften unerläßlich. Sind aber auch für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft Direktinvestitionen in Mittel- und Osteuropa unerläßlich? Wird nicht der west- und ostdeutsche Bürger nach vier Jahren deutscher Einheit besorgt nach dem Erhalt/Verlust der Arbeitsplätze in seiner Region fragen? Wird nicht gerade der ostdeutsche Bürger einen Abbruch des wirtschaftlichen Aufholprozesses vermuten müssen und ein entscheidendes Ziel der deutschen Einheit in eine unendliche Ferne gerückt sehen? Deutschland ist unbestritten durch seine Ex-/lmporte weltwirtschaftlich stark verflochten und damit auch konjunktursensibel gegenüber ausländischen Märkten. Welche Chancen bieten aber Produktionsverlagerungen ins Ausland, hier insbesondere in die Länder Mittel- und Osteuropas? Für einen SPD-Europapolitiker lautet die zentrale Frage: 'Führt Produktionsverlagerung unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen west- osteuropäischer Kooperation zu einer Wachstumspartnerschaft? Oder wird Mittel - und Osteuropa zur verlängerten Werkbank und zum Absatzmarkt westeuropäischer Waren instrumentalisiert?" Über die Bedingungen, unter denen die Chancen für den Standort Bundesrepublik wie auch für die MOE-Staaten überwiegen, bestand unter den Konferenzteilnehmern weitgehend Einigkeit: Nur wenn es gelingt, zu einer echten Wachstumspartnerschaft, zu einer arbeitsteiligen Kooperation zu kommen und die MOE-Länder zu einer wettbewerbsfähigen Wohlfahrtszone werden, besteht Aussicht, daß die Vorteile der neuen Arbeitsteilung in Europa deren Risiken - auf beiden Seiten der Partnerschaft - überwiegen. Welches dieser Szenarien eintreten wird, darüber gehen die Meinungen auseinander: Bei aller Bedeutung der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen sowohl in den Herkunfts- als auch Zielländern sind es vor allem die Unternehmen, von deren konkreter Entscheidung das Investitionsengagement abhängt. Die Motive wie auch die Ergebnisse der Auslandsdirektinvestitionen können dabei sehr verschieden sein. Das betrifft sowohl den Standort Deutschland als auch die Staaten Mittel- und Osteuropas. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000 |