FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
2. Kein Ersatz für PlanungDer Zusammenhang von Arbeitsförderung und Wirtschaftspolitik [Seite der Druckausg.: 3]
Non vitae sed scholae discimus für die Schule, nicht für das Leben lernen wir: Das ist die korrekte Version des alten Stoßseufzers, der seit Seneca von Pädagogen durch bloße Umstellung gern in einen moralischen Lehrsatz verwandelt wird. Tatsächlich dürfte den Betroffenen in den neuen Bundesländern die ursprüngliche Fassung näher sein, wie die zahlreichen Berichte aus der Praxis nahelegten, die beim "Wirtschaftspolitischen Diskurs" in Dresden in Fülle gegeben wurden. Die umfangreichen Qualifizierungsmaßnahmen nehmen ihren Sinn aus der Aussicht, die Arbeitnehmer für den Arbeitsmarkt zu rüsten einen Markt, der in der Gegenwart allerdings kaum existiert und über dessen zukünftige Verfassung nur sehr vage Vorstellungen existieren. Ein Bonner Politiker faßte es in Dresden in das prägnante Bild von der "Brücke ins offene Meer". Lernen für die Zukunft aber für welche?
1.1 Dimension der Arbeitsförderungsmaßnahmen
Den gigantischen Umfang der Bildungsmaßnahmen machen einige Zahlen deutlich: Im Jahr 1991 traten 900 000 Arbeitnehmer aus den neuen Bundesländern neu in Bildungsmaßnahmen ein, allein im Monat Februar des Jahres 1992 waren es wiederum 103 000, eine Steigerung zum Vormonat von 30 Prozent. Der Bestand derer, die sich augenblicklich in solchen Maßnahmen befinden, dürfte niedriger, bei etwa 490 000 liegen. Für 1992 wird insgesamt ein ähnliches Niveau wie im Vorjahr erwartet. Nach Aussage eines anwesenden Landesarbeitsamtspräsidenten können die Ämter schon von ihrer Anlage her mit solchen Zahlen nicht fertig werden. Unterstützend kam von anderer Seite ein weiterer Hinweis auf die Dimension des Problems: So sei 1990 im Sommer für den schlimmsten Fall ein "Eventualprogramm" aufgelegt worden, das davon ausgegangen sei, daß einmal mehr als 500 000 Arbeitnehmer aus den neuen Ländern über das Arbeitsförderungsgesetz gefördert werden müßten. Die tatsächliche Zahl liege anderthalb Jahre nach diesem Zukunftsszenario bei über zwei Millionen. [Seite der Druckausg.: 4]
1.2 Hilfen der Arbeitsmarktwissenschaft
1.2.1 Schwierigkeit von Prognosen
Nachdem in der Politik keine ausgesprochenen Leitlinien festgelegt werden, wie denn der Arbeitsmarkt in der Zukunft wohl aussehen werde, wird die naheliegende Frage, für welche Nachfrage das Angebot an Arbeitskräften nun zu schulen sei, an die Wissenschaft weitergereicht. Jede seriöse Prognose jedoch beruht auf einer Fortschreibung von Entwicklungen aus der Vergangenheit in die Zukunft. Erfahrungen mit einem Arbeitsmarkt aus der Zeit der DDR sind jedoch nicht mehr verwertbar oder fehlen; schließlich hat sich die künftige Wirtschaft am Markt statt an zentral definierten Versorgungsbedürfnissen zu orientieren. In dieser Verlegenheit liegt es nahe, einfach die Branchenstruktur Westdeutschlands auf den Osten zu übertragen und mangels anderer Anhaltspunkte anzunehmen, mit den Jahren werde sich im Osten wohl eine ähnliche Struktur herausbilden. Dabei handelt es sich jedoch um einen gefährlichen Trugschluß: Im System europäischer Arbeitsteilung ist es ganz sinnlos, vorhandene Strukturen einfach zu doppeln. Statt dessen, so ermutigte mit der Autorität des Fachwissenschaftlers ein Vertreter des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Verantwortlichen, gelte es im Gegenteil, regionales Selbstbewußtsein aufzubauen und eine Gewerbestruktur zu schaffen, die dem Landschaftscharakter, der Mentalität, den Traditionen entspreche auch wenn natürlich erhebliche Dominanzen wie die der Werftenindustrie in Mecklenburg-Vorpommern aufgehoben werden müßten. Fatal wäre jedoch der Entschluß, einer auch im Westteil des Landes schon kränkelnden Branche nun durch Aufbau neuer Überkapazitäten den Rest zu geben bloß weil es die eben im Westen auch gibt.
1.2.2 Vermittlungserfahrungen aus den Arbeitsämtern
Die Grundforderung der Orientierung von Qualifizierungsmaßnahmen am Arbeitsmarkt ist also schwer zu erfüllen, ihre Effizienz kaum zu messen, wenn das Hauptkriterium die gelungene Eingliederung in den Arbeitsmarkt sein soll. So sieht es nämlich das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in seinem Paragraphen 36 Abs. 3 ausdrücklich vor. Leitende Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung bestätigten diesen Schluß mit Erfahrungen und Zahlen aus der eigenen Arbeit. Zwar, so berichtete der Leiter des Ar- [Seite der Druckausg.: 5] beitsamts in Dresden, sei die Quote der Übergänge in reguläre Beschäftigungsverhältnisse etwa in Gesundheitsberufen, wo für Mitarbeit in Arztpraxen umgeschult werde, relativ hoch. Das gelte auch für das Hotel- und Gaststättengewerbe, für den Verkauf im Einzelhandel sowie für Sekretärinnen und qualifizierte Schreibkräfte. Gute Vermittlungserfolge gebe es auch da, wo kaufmännische Grundqualifikationen angeboten würden und nicht allein Elektronische Datenverarbeitung, und, wie allgemein bekannt, in den Bau- und den Baunebenberufen. In diesen Bereichen würden die Teilnehmer dem Arbeitsamt "regelrecht aus der Hand gerissen". Daneben gebe es, vor allem im mittleren Management und in anderen herausgehobenen Positionen auch immer wieder Gruppen, die sich selbst vermittelten, ohne daß sie dazu der Hilfe des Arbeitsamtes überhaupt bedürften. Das geschehe meistens nicht nach, sondern während einer Maßnahme. Der überwiegende Teil jedoch der Teilnehmer an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen bleibe trotz erfolgreichen Verlaufs arbeitslos. Am letzten Tag einer sechsmonatigen kaufmännischen Fortbildungsmaßnahme, so der Bericht des Arbeitsamtsdirektors von einem typischen Erlebnis, habe er von den achtzehn Teilnehmern, meist Frauen zwischen 30 und 50 Jahren, erfahren, daß niemand eine Arbeitsstelle in Aussicht habe. Trotzdem habe man die Fortbildung als interessant empfunden und hoffe, das Gelernte irgendwann verwenden zu können. Als Beispiele mögen weitere Zahlen aus Dresden dienen: Von 58 ausgebildeten Fachkräften für Steuerrecht seien 30 in Arbeit gekommen, von 125 Bankfachkräften 95, von 60 Steuerfachgehilfen 25, von 24 Vertriebsingenieuren sechzehn, von 29 Marketing-Fachkräften achtzehn, von 24 Energieberatern ebenfalls achtzehn. So gut diese Zahlen klingen, so bedürfen sie doch der Interpretation: Eine Reihe von Maßnahmen bediente zum richtigen, frühen Zeitpunkt sich entwickelnde Märkte, die inzwischen schon gesättigt seien: etwa den der Bankkaufleute. Von mehreren Seiten wurde bestätigt, daß es stets verhältnismäßig einfach sei, den Erstbedarf zu decken, daß der Erfolg einer ersten Maßnahme aber keine Prognose darüber zulasse, daß eine zweite ebenfalls zu so vielen Vermittlungen führt. Die erfreuliche Vermittlungszahl bei den Energieberatern erklärt sich daraus, daß fünfzehn der achtzehn Vermittelten jetzt in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen untergekommen sind. [Seite der Druckausg.: 6]
1.2.3 Hinweise aus der Berufsforschung
Völlig ratlos jedoch läßt die Arbeitsmarktforschung die Praktiker auch nicht: Vierzig Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, so war zu erfahren, seien in Westdeutschland im "bodenständigen Gewerbe" tätig, im Handwerk also und in an den Ort gebundenen Dienstleistungen, eine hohe Zahl, die nötig sei, um den Ansprüchen auf lokal erbrachte Leistungen zu genügen. Geht man von der Forderung nach gleichen Lebensverhältnissen in allen Teilen des Landes aus, so wird auch in den neuen Ländern eine entsprechende Quote zu erwarten sein. Mit Umschulung für derartige Branchen und Berufe könne man also, so der deutliche Hinweis eines Wissenschaftlers, "nichts falsch machen". Schwierigkeiten gibt es aber auch dabei eine Menge, wie Berichte aus der Praxis belegten. Tatsächlich raten auch viele Träger von Bildungseinrichtungen vor allem Beschäftigten aus der Metall- und Elektroindustrie wie generell aus dem produzierenden Gewerbe, sich auf verwandte handwerkliche Tätigkeiten umschulen zu lassen. Abgesehen von dem hohen finanziellen Aufwand für Fortbildung in diesem Bereich entsteht auch für erfolgreiche Absolventen das Problem, rasch und adäquat kaum vermittelbar zu sein. Offenbar haben sich auffangende Strukturen noch nicht im erforderlichen Maße herausgebildet. Ein einzelner, nicht näher ausgeführter Hinweis auf Handwerksbetriebe, die heute schon darüber klagten, wegen der vielen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht sofort auf ein angemessenes Arbeitskräftepotential zugreifen zu können, muß zwar nicht repräsentativ sein, nährt aber doch die Hoffnung, daß sich allmählich eine relevante Nachfrage nach solchen Arbeitskräften herausbildet. Generell jedoch sind Prognosen oder gar "Hitlisten" für Berufe der Zukunft nach Auffassung der Berufsforschung sinnlos. Nimmt man an, daß das tägliche Handeln der Betriebe schon in die Zukunft reicht, wie es im Westen geschieht, so ist eine Instanz für Weissagung oder gar für umfassende Planung der Zukunft eben nicht nötig. Die in die Zukunft gerichtete Qualifizierung der Arbeitnehmer steht zu diesem Umstand allerdings in einem Widerspruch wie überhaupt das Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern, sich einigermaßen verläßlich auf künftige Entwicklungen einstellen zu können. Weil der Widerspruch von allen erkannt wurde, richteten sich zahlreiche Hoffnungen auf die auch in einer marktwirtschaftlichen Ökonomie wichtigen und nötigen Funktionen der regionalen und kommunalen Strukturpolitik wobei sowohl die Hoffnung verbreitet war, regionale Strukturpolitik könne fehlende [Seite der Druckausg.: 7] gesamtwirtschaftliche Planung sozusagen ersetzen, als auch die realistischere Erwartung, durch Verkuppelung der Bildungsplanung mit regionalen und kommunalen Infrastrukturmaßnahmen ließen sich einfach gewisse Reibungsverluste vermeiden. Die Ratlosigkeit, welcher Art der Arbeitsmarkt der Zukunft in den neuen Bundesländern wohl sein werde, führt offenbar dazu, daß die Anforderung des AFG, Qualifizierungsmaßnahmen müßten in die Vermittlung auf reguläre Arbeitsplätze münden, anderen, sachfremden Kriterien Platz macht. So wurde berichtet, daß der zum Teil übertrieben hohe Anteil von kaufmännischen und EDV-Bildungsinhalten häufig einfach dem Umstand geschuldet sei, daß diese Art Fortbildung eben weniger koste als eine gewerbliche. In Dresden liegen 10 Prozent der angebotenen Qualifizierungsmaßnahmen in der Fertigung und 70 Prozent bei den Dienstleistungen. Diese Zahl entspricht, wie der zuständige Arbeitsamtsdirektor freimütig zugibt, weder der heutigen noch der künftigen Nachfragestruktur in der sächsischen Landeshauptstadt.
1.2.4 Arbeitsförderung als Lebenshilfe
Selbst wenn auch in dieser Frage die Erwartungen unterschiedlich blieben, so stellte sich doch bei hier und da vorsichtig geäußerter Skepsis allgemeine Übereinstimmung darüber her, daß unabhängig vom Wert aller Prognosen für den künftigen Arbeitsmarkt die Weiterbildungsmaßnahmen einfach als "Lebenshilfe" für die Bewältigung eines völlig umgekrempelten Alltags ihren Sinn hätten. Daß diese Lebenshilfe nötig sei, mochte niemand bestreiten; ob sie allerdings aus den Mitteln der Versicherten bei der Bundesanstalt für Arbeit zu bezahlen sei, darüber deuteten sich durchaus Meinungsverschiedenheiten an. (Siehe Kap. 5.4.)
2. Kein Ersatz für Planung
2.1 Hoffnungen für die Planung von Qualifizierungsmaßnahmen
Regionale oder gar kommunale Strukturpolitik helfen auch nicht heraus aus der Not, daß niemand die künftige Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer kennt. Zu den Mitteln, die Kommunen zur Einflußnahme auf die künftige Wirtschaftsstruktur zu Gebote stehen, gehört außer einer generellen Aufgeschlossenheit vor allem die [Seite der Druckausg.: 8] Möglichkeit, Gewerbegebiete auszuweisen und im günstigeren Fall zu erschließen, was auch munter geschieht, aber leider bei weitem keine Garantie bietet, daß erwünschte Investoren sich tatsächlich ansiedeln. Vollends illusionär ist die Annahme, man könne am Ende gar unter verschiedenen Investoren "auswählen", je nachdem, welche zur Qualifikationsstruktur der Arbeitnehmer am besten paßten. Dennoch bleiben eine Reihe von strukturpolitischen Instrumenten ungenutzt. Zu ihnen gehört wiederum auch die gezielte Aus- und Fortbildung von Arbeitskräften, so daß sich an dieser Stelle der Kreis schließt: Weil Qualifikation nicht als Mittel der Strukturpolitik begriffen wird, fehlt zugleich die Orientierung, an welchen vorhandenen Standortmerkmalen Wirtschaftsförderung sich ausrichten soll. Trotz zahlreicher Reserven in der Koordination zwischen Industrieansiedlung und Planung von Bildungsmaßnahmen läßt sich das allgemeine Verhältnis so beschreiben: Strukturpolitik taugt nur in kleinem Umfang als Leitlinie für Fortbildungsplanung, aber gute Fortbildung ist selber strukturbildend. Dieses Verhältnis legt eine bewußte Vernetzung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik nahe, wenn auch, wie beklagt wurde, die Chancen für eine solche Vernetzung in den Jahren 1990 und 1991 bedeutend größer gewesen seien als heute. Kritik wurde geübt am Programm "Arbeit und Qualifikation" des Landes Sachsen, das trotz der hohen Verbreitung entsprechender Einsichten keine strukturpolitische Orientierung habe.
2.2 Strukturen durch Arbeitsförderung
Zunächst bildet die Arbeitsmarktpolitik mit ihrem Instrument der Fortbildung unmittelbar Strukturen, wie ein einschlägig tätiger Berater ausführte: Zwischen den Teilnehmern von Umschulungen etwa und den Unternehmen, in denen sie ihre Praktika absolvieren, entstehen Kontakte, die möglicherweise zur Beschäftigung führen. Wie solche unmittelbare Strukturbildung aussehen kann, macht ein Weiterbildungsverbund Soziale Arbeit West-Sachsen vor, der in Zusammenarbeit mit den Trägern sozialer Arbeit, vor allem den Jugendämtern, Angebot und Nachfrage nach fortgebildeten Arbeitskräften koordiniert. Auf diese Weise wird Abwanderung vermieden, werden Kosten gespart und Fachkollegen in die Diskussion gebracht. Mittelbar wirken Umschulungen strukturbildend, indem sie qualifiziertes Personal für "bodenständige" Wirtschaftszweige ausbilden, das auf die wachsende Nachfrage reagieren kann. Wer es gelernt hat, kann selber an der Herstellung einer Struktur von Kleinbetrieben und Dienstleistungsunternehmen mitwirken. [Seite der Druckausg.: 9] Soll die strukturbildende Kraft von beruflicher Bildung ausgebaut und von einem weichen zu einem harten Standortfaktor werden, so ist allerdings ein Rahmen dafür nötig: eben doch eine volkswirtschaftlich gerechnete Vorstellung darüber, welcher Art ein Wirtschaftszweig sein könnte, der sich hier oder da ansiedeln sollte. Die Verantwortlichen im sächsischen Borna zum Beispiel mühten sich, den Umstand, daß eine Reihe von qualifizierten Lehrkräften an der aufgehobenen Fachschule für Gesundheitsberufe am Ort ist, mit einem Ausbau der Kapazität zu beantworten, um sich als künftiger Standort für einen passenden Nachfrager zu empfehlen. Freilich ist für die Struktureffekte beruflicher Bildung weniger prognostische Fähigkeit als Kraft zur politischen Umsetzung gefragt: Instrumente der Wirtschaftsförderung sollen mit den Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik so koordiniert werden, daß synergetische Effekte dabei auftreten. Ein Vorschlag lautete, in Sachsen eine "Konzertierte Aktion für Strukturentwicklung" auf regionaler Ebene ins Leben zu rufen, wo Träger von Bildungseinrichtungen, Akteure der Wirtschaftspolitik, der Wirtschaftsförderung, der Gewerkschaften und Vertreter der staatlichen Gebietskörperschaften über die Interessengrenzen der eigenen Institution hinaus zusammenarbeiteten. Die Aktion, so der Vorschlag, solle es zu einem Qualitätskriterium machen, möglichst viele Synergien zu organisieren. Wie alle Vorschläge, die auf "Konzertierte Aktionen" oder "strategische Allianzen" gingen, wurde auch dieser in seiner Allgemeinheit beifällig aufgenommen. Da er indes nicht zur weiteren Erörterung einlud, läßt sich nicht sagen, ob er auf realistische oder eher überzogene Erwartungen an Strukturpolitik baute.
2.3 Arbeitsmarktpolitik und wirtschaftliche Effekte
Immer wieder kam die Diskussion am Rande auf wirtschafts- und strukturpolitische Effekte der AFG-Maßnahmen. Als ein Beispiel für solche in diesem Fall definitiv ungewollte Effekte wies ein Praktiker aus der Arbeitsverwaltung darauf hin, daß viele Arbeitgeber inzwischen die Ausbildung von Schulabgängern vernachlässigen, weil sie lieber fertig umgeschulte und fortgebildete Kräfte einstellen. Es ist vor allem der hohe Bedarf an Praktikumsplätzen für Umschulungen, der Betriebe dazu veranlaßt, ihre Ausbildungskapazitäten zurückzuschrauben. Die unvorhergesehene Situation, daß ein für bestimmte Problemgruppen des Arbeitsmarktes geschaffenes Instrument zum Hauptwirtschaftsfaktor wird, scheint Struktur- und wirtschaftspolitisch weitgehend unbegriffen zu sein. Obwohl sich der [Seite der Druckausg.: 10] Charakter der Arbeitsförderung durch die hohe Bedeutung für die neuen Bundesländer dort entscheidend gewandelt hat, legen gerade die Verantwortlichen aus der Arbeitsverwaltung offenbar Wert darauf, auch weiter nach sozial- und nicht nach wirtschafts- und strukturpolitischen Kriterien zu handeln.
2.3.1 Einarbeitungszuschuß als Lohnsubvention
Eine vorsichtige Anregung von Seiten der Politik, den Einarbeitungszuschuß nach dem Arbeitsförderungsgesetz als Mittel der Lohnsubvention zu nutzen, wurde deutlich zurückgewiesen. Möglicherweise verbirgt sich hinter der Beschränkung auf sozialpolitische Impulse eine Ahnung davon, daß die Wirkungen des Handelns über Sozialpolitik weit hinausgehen auf ein Feld, das den Fachleuten der Arbeitsvermittlung vermint vorkommt. Einarbeitungszuschüsse, so die Anregung, könnten gezielt zur Subvention von Löhnen etwa im Handwerk und Kleingewerbe genutzt werden, für die Stützung privater Kleinbetriebe aus DDR-Zeiten oder für Existenzgründungen aus der Zeit des Umbruchs, alles Betriebe, die heute bereits in Schwierigkeiten sind. Während die Brückenfunktion von Arbeitsförderungsmaßnahmen immer fragwürdiger werde, weil niemand wisse, ob und wann die Qualifizierungsmaßnahmen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse mündeten, stehe gleichzeitig mit dem Einarbeitungszuschuß ein Instrument zur Verfügung, das eben nicht als Brücke gedacht sei, sondern schon zustandegekommene reguläre Beschäftigungsverhältnisse subventioniere. Es biete sich geradezu an, die Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik zu leisten. Gleich von zwei Seiten kam eine deutliche Belehrung, es handele sich beim Einarbeitungszuschuß um ein Qualifizierungs-, nicht um ein Vermittlungsinstrument. Eigentlich sollen solche Zuschüsse dann gewährt werden, wenn ein Arbeitgeber Arbeitslose trotz gewisser Qualifizierungsdefizite einstellt: Dem Arbeitgeber werden seine Nachteile aus einer solchen Anstellung erstattet. In den neuen Bundesländern stünde aber eine große Zahl von hinreichend qualifizierten Arbeitslosen zur Verfügung, weswegen es dieses Zuschusses eigentlich nicht bedürfe. Das Instrument des Einarbeitungszuschusses, so hieß es, sei "ausgereizt". Trotzdem wurde schon vom Anspruch von Arbeitgebern berichtet, jede Einstellung mit einem Zuschuß "vergoldet" zu bekommen. Es gelte, die Arbeitgeber zu "erziehen" mit einem Erziehungsmittel freilich in diesem Falle, das weniger den Zögling als einen Dritten straft: den Arbeitslosen. [Seite der Druckausg.: 11] Nicht nur gegen Lohnsubvention mit dem Mittel des Einarbeitungszuschusses, auch gegen Lohnsubventionen allgemein wurden Vorbehalte geäußert. Es führe zu einer Wettbewerbsverzerrung, nur neu geschlossene Arbeitsverträge zu subventionieren. Wenn Lohnsubvention gewährt werde, müßten alle sie bekommen. Statt der Subvention, so eine Anregung, solle der Gesetzgeber besser über Möglichkeiten nachsinnen, wie man mit den Mitteln des Arbeitsförderungsgesetzes die Weiterqualifikation von Beschäftigten unterstützen könne. Bei noch zu seltener Qualifizierung in den Betrieben sei Subvention sinnvoll; ihre Inanspruchnahme müsse freilich, etwa von den Kammern, kontrolliert werden. Daß die geforderte Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik sich anbiete, wurde freilich nicht bestritten; es müsse dann allerdings ein neues Instrument her. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, so der Präsident eines Landesarbeitsamtes, seien ja auch per Definition keine Projektförderung. Die Arbeitsämter würden eine Umorientierung gerne mitmachen, es sei aber Sache des Gesetzgebers, sie dazu in den Stand zu setzen. Für die Ämter sei es überdies wichtig, daß die vielbeschworenen "strukturbestimmenden Betriebe" einmal definiert würden, damit sie mit ihren Arbeitsförderungsmaßnahmen dort auch gezielt ansetzen könnten.
2.3.2. "Zweiter Arbeitsmarkt"
Ein weiterer Effekt der umfassenden Arbeitsförderung ist die Entstehung eines "zweiten Arbeitsmarkts", die je nach politischem Standort beklagt, begrüßt oder in Kauf genommen wird. Von mehreren Seiten wurde unwidersprochen behauptet, daß die neuen Bundesländer auf längere Zeit mit einer hohen Arbeitslosigkeit würden leben müssen und daß auch ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht hinreiche, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Es sei sicher nicht möglich, so der Präsident eines Landesarbeitsamtes, alle Gruppen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele könnten mit den klassischen Instrumenten nicht mehr erreicht werden. Es baue sich Langzeitarbeitslosigkeit auf; sie liege zum Teil bei einem Anteil von weit über 30 Prozent an den Arbeitslosen und betreffe noch einmal überproportional die Frauen. Dabei sind die Frauen sogar schon mit ihrem Anteil von 58,9 Prozent an den Arbeitsförderungsmaßnahmen unterrepräsentiert, wenn man ihren Anteil an den Arbeitslosen zur Grundlage nimmt. Für die "Problemgruppen" des Arbeitsmarktes müßten neue Instrumente geschaffen werden. Daß solche Instrumente, wenn nicht eine dirigistische Verteilung von Ar- [Seite der Druckausg.: 12] beitskräften, etwa eine Quotierung, geplant ist, auf irgendeine Weise in einen "zweiten Arbeitsmarkt" münden, liegt allerdings in der Natur der Sache. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2002 |