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1. Struktureller Umbruch in Ostdeutschland und seine Folgen für den Arbeitsmarkt

Um den Ausgangspunkt einer aktiven Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ins Blickfeld zu nehmen, müssen die vielfältigen strukturellen Gründe für die aktuell massive Arbeitslosigkeit skizziert werden. Wie der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Mecklenburg-Vorpommern hierzu ausführte, schlug die Öffnung der Wirtschaft durch die Einführung der DM gegenüber der internationalen Konkurrenz ohne große Zeitverzögerung schockartig auf den Arbeitsmarkt durch. Andererseits wurden hierdurch die Absatzmärkte in Osteuropa abgekappt.

Die Folge war eine umbruchartige Neuorientierung der Nachfrageströme vom Binnenmarkt der ehemaligen DDR in Richtung frühere Bundesrepublik. Nach Angaben des Ifo-Instituts entfielen von einem Konsumpotential für das zweite Halbjahr von rund 85 Mrd. DM etwa 25 Mrd. auf den Kauf westdeutscher Produkte, die für die neuen Bundesländer als Importe ohne entsprechende Exportleistungen wirken.

Bezüglich der Außenhandelsposition der neuen Bundesländer ruft der durch die Währungsumstellung erfolgte Aufwertungseffekt eine weitere Abnahme der Exporte hervor, insbesondere in die traditionellen Abnehmerländer des ehemaligen RGW, die nunmehr in harter DM für die Importe zahlen müssen. Zusätzlich wird der Wirtschafts- und Sozialraum in den östlichen Bundesländern besonders von den umwälzenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der ehemaligen Staatshandelsländer betroffen.

Als Folge von fehlendem Wettbewerb und Privateigentum an Produktionsmitteln entstanden in der ehemaligen DDR schwerfällige Industriekonglomerate, die im Vergleich zur Alt-Bundesrepublik größere Unternehmenseinheiten und einen höheren Konzentrationsgrad bei vergleichsweise kleineren Absatzmärkten aufwiesen. Der hohe Konzentrationsgrad der Industrie stellte sich als Ergebnis einer ausgeprägten horizontalen Konzentration dar, die zu einer Monopolstruktur von Kombinaten und zu heterogenen Unternehmensstrukturen führte. Weitere Ursache war die vertikale Konzentration, eine Zusammenfassung von Stufen- und Endproduzenten, die eine sowohl im Vergleich zum früheren Bundesgebiet als auch im internationalen Vergleich wesentlich höhere Fertigungstiefe kennzeichnete. Ein Beispiel aus der Autoindustrie zeigt den Unterschied in der Anzahl der durch die Unternehmen selbst hergestellten Teile: So standen 80% der selbst produzierten Teile des Ifa-Kombinats gerade 40% bei VW gegenüber.

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Ein weiteres Charakteristikum der Unternehmensstrukturen der früheren DDR war die Integration sozialer Einrichtungen (Erholungsheime, Kliniken, Kindergärten, Betriebsakademien, Berufsschulen, Gärtnereien) in den Geschäftsbetrieb, die aus Kostengründen externalisiert und im Leistungsangebot reduziert wurden.

Die durch den Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft erforderliche Umstrukturierung der Unternehmen wirkt sich nachhaltig auf den Bereich der betrieblichen Personalwirtschaft aus. Nicht mehr Planzahlen, sondern Kosten- und Ertragskriterien sind nunmehr Leitlinien. Die oft postulierte Vollbeschäftigung in der früheren DDR, die als "sozialistischer Etikettenschwindel" bezeichnet wurde, ist nach den Erhebungen des Ifo-Instituts München im Durchschnitt auf 15% verdeckte Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Scheinarbeit, überflüssige Planungs- und Kontrollaufgaben sowie die Inkaufnahme von Leerlauf- bzw. Stillstandszeiten bauten eine Beschäftigungsillusion auf, die gegenwärtig im Prozeß des Übergangs in die Marktwirtschaft als offene Arbeitslosigkeit zutage tritt. Beschäftigungs- und Personalabbau durch eine betriebswirtschaftliche Herangehensweise wird noch verstärkt durch die Strukturveränderungen, die aufgrund der in der Regel veralteten Produktionsanlagen mit niedriger Produktivität notwendig werden. Die Modernisierung der Produktion durch neue Technologien und arbeitsorganisatorischen Wandel führt zu erheblichen Rationalisierungseffekten, in deren Folge es an vielen Arbeitsplätzen durch Veränderungen in den Arbeitsanforderungen und -bedingungen zu Frei- und Umsetzungen kommt. Gegenwärtig stößt die Modernisierung von Arbeitsplätzen wegen des hohen Investitionsbedarfs allerdings noch auf kostenbedingte Hemmnisse, so daß diese Effekte noch nicht voll zum Tragen kommen.

Das durch den Strukturwandel in den neuen Bundesländern reduzierte Arbeitsvolumen wirkt sich verschärft auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen aus. Trotz einer allgemein weiterhin bestehenden Alleinzuständigkeit für Haushalt und Familie lag 1988 die Erwerbsquote von Frauen (einschließlich der Auszubildenden) bei 83,2 %. Bei einem Frauenanteil an den Erwerbstätigen von 49% beträgt die derzeitige Frauenarbeitslosigkeit etwa 55%, mit steigender Tendenz. Dies ist ein Indiz für die Abdrängung der Frauen aus dem Erwerbsleben. Ein weiterer überdurchschnittlich hoher Arbeitsplatzabbau in Wirtschaftszweigen mit einem hohen Frauenanteil (z.B. Textilindustrie) droht die Situation noch zu verschärfen. Der Wunsch nach Erwerbsarbeit ist jedoch weiterhin zu erwarten, da Berufstätigkeit fest im Selbstverständnis von Frauen in der ehemaligen DDR verankert war. Die Berufsorientierung ist auch Ausdruck eines hohen Ausbildungsniveaus von Frauen. So hatten 88% der Frauen einen Ausbildungsabschluß erworben. Nicht zuletzt erfordern materielle Gründe eine Erwerbsbeteiligung aufgrund der Situation als Alleinerziehende (18% der erwerbstätigen Frauen) oder bei den der-

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zeitigen Einkommensverhältnissen zur Existenzsicherung und zur Deckung des Nachhohlbedarfs an Konsumgütern durch einen zusätzlichen Verdienst.

Die Dringlichkeit des Einsatzes aller verfügbaren Mittel in der gegenwärtigen Phase unterstreicht ein Szenario, nach dem die zu erwartenden Freisetzungen sich zukünftig zu einem sozialpolitischen Problem der Langzeitarbeitslosigkeit mit einem beträchtlichen Potential an sozialen Spannungen verdichten könnten.

Insgesamt ist zu erwarten, so der Minister, daß es im Zuge der Produktivitätsangleichung mit den alten Bundesländern noch stärker zu personellen Freisetzungen, Umsetzungen und Verschiebungen kommen wird, deren zeitliche und quantitative Dimensionen selbst für Experten noch nicht übersehbar sind. Absehbar ist der weitere Abbau von Arbeitsplätzen in den Industriezweigen Werften, Textil und Stahl sowie in der Landwirtschaft. Allein für die Landwirtschaft kann von einer Zahl von mindestens 200 000 abzubauenden Arbeitsplätzen ausgegangen werden.

Die Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland steht somit vor gewaltigen Herausforderungen. Allerdings dürfen die Arbeitsmarktstrukturen in Westdeutschland nicht aus dem Blickwinkel verloren gehen, wie ein ehemaliger Bundesminister für Arbeit betonte. Denn auch in den westlichen Bundesländern herrscht seit Mitte der 70er Jahre keineswegs Vollbeschäftigung und es gibt dort trotz der günstigen Konjunktur Regionen, die Arbeitslosenquoten von 15 % aufweisen. Von daher ist natürlich auch der finanzielle Spielraum der Bundesanstalt für Arbeit in den neuen Bundesländern begrenzt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2000

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