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TEILDOKUMENT:
2. Praxisfälle Die Bilanz tarifpolitischer Entwicklungen ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion verbleibt auf der Oberfläche allgemeiner Trends; darunter verbergen sich eine Reihe von erheblichen Schwierigkeiten, Tarifpolitik in den neuen Ländern branchenspezifisch zuzuschneiden und in den Betrieben umzusetzen. Zwei Fallbeispiele lieferten unterschiedliches Anschauungsmaterial, wie sich divergierende programmatische Vorstellungen und Forderungen der Tarifparteien in der Praxis zu kompromißfähigen Formeln verdichten.
2.1 Der öffentliche Dienst: Stiefkind oder Vorreiter der Tarifpolitik?
Der Aufbau einer funktionierenden Verwaltung in den fünf neuen Ländern hängt nicht zuletzt von dem tarifpolitischen Flankenschutz ab, unter dem er betrieben wird. Der Anpassungsdruck im öffentlichen Dienst ist evident: Durch den Zuwachs an neuen Aufgaben sind die Beschäftigten einem verdichteten Leistungsdruck ausgesetzt, der in den Arbeitsentgelten keine Entsprechung findet. Besoldungsrechtliche Übergangsregelungen gemäß Einigungsvertrag sahen z.B. vor, daß Spitzenbeamte im Osten nur 35 % der entsprechenden Westvergütungen erhalten. Erst auf Vorschläge aus dem Bundesrat hin beschloß das Bundeskabinett, daß in begründeten Fällen statt 35 bis zu 49 % der Westbesoldung gezahlt werden können. Im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR insgesamt wurden im Vergleich zur Industrie nur unterdurchschnittliche Vergütungen gezahlt. Diese Strukturen werfen allerdings eine Reihe von Folgeproblemen auf:
[Seite der Druckausgabe: 19] Auf welchem Level sich die Einkommen der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auch immer einpendeln mögen: unbestritten ist der öffentliche Dienst ein gesellschaftlicher Produktionsfaktor, dessen Produktivität allerdings nicht analog zu derjenigen der gewerblichen Wirtschaft meßbar ist. Seine Bedeutung wird aber gleichwohl sichtbar, wenn sich eine nicht funktionierende Verwaltung als Investitionshemmnis erweist oder Leistungsminderungen bei den Bürgern Unmut über die gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugen. Der öffentliche Dienst muß mit den allgemeinen Entwicklungstrends der Tarifpolitik mithalten können. Im tariflichen Visier der Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) steht als Forderung für die nächste Lohnrunde im öffentlichen Dienst der neuen Länder 1991 ein Einkommensniveau von zwei Dritteln der entsprechenden Bezüge im Westen. Es bedarf eines differenzierten Katalogs von Maßnahmen, um den öffentlichen Dienst der Eigendynamik des gesellschaftlichen Wandels in den neuen Ländern anzupassen. Zu einigen Vorschlägen bezog ein Tarifsekretär der ÖTV Stellung. Mit ihnen wird versucht, einige Besonderheiten zu berücksichtigen, die auf den öffentlichen Dienst im Verlauf der deutschen Einigung zugekommen sind.
a) Staatsvertragliche Bestimmungen und Tarifautonomie
Die Neuorientierung des öffentlichen Dienstes wirft erhebliche Personalbestandsfragen auf. Dabei kursieren in den neuen Ländern Zahlen von Personalreduzierungen in der Dimension von 675.000 Beschäftigten, von denen ca. 100.000 Arbeitnehmer auf die öffentliche Bürokratie im engeren Sinne entfallen, die restlichen 575.000 Beschäftigten gehen auf das Konto des Bildungswesens, kultureller Einrichtungen und des Sozial- und Gesundheitswesens. Durchaus mitgetragen wird gewerkschaftlicherseits das Ziel einer Zerschlagung überflüssiger DDR-Bürokratien und die Umstrukturierung sowie technisch-organisatorische Modernisierung der Verwaltungen; Skepsis herrscht jedoch bei den Personalreduzierungen in den übrigen Bereichen des öffentlichen Dienstes vor, in denen verschiedene gesellschaftliche Bewertungsmuster die Diskussion über ihre Zukunft prägen. Im öffentlichen Sektor stoßen Rationalisierungschutzstrategien auf besondere Barrieren. Durch die staatsvertraglichen Regelungen wurde ein heikles Kapitel der Tarifpolitik aufgeschlagen, das im Bereich Rationalisierungschutz zu der Überlegung Anlaß gibt, inwieweit es sich dabei um einen staatlichen Eingriff in die Tarifautonomie kraft Gesetz handelt. Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst wurden im Prinzip für befristet erklärt (6-9 Monate), mit der Konsequenz, daß die Betroffenen ausscheiden, ohne daß es einer gesonderten Kündigung bedarf. Paradebeispiel ist die Befristung der Beschäftigungsverhältnisse bei der Akademie der Wissenschaften. Gewerkschaftsexperten und Träger politischer Verantwortung diskutierten die rechtlichen Bedenken, ob die Warteschleifenregelung des Einigungsvertrages verfassungskonform ist, da mit ihr ein Element des Sozialstaates - die Kündi- [Seite der Druckausgabe: 20] gungsschirtzbestimmungen - ausgehebelt werden. Den Arbeitnehmern wird auf diesem Wege die rechtliche Grundlage entzogen, gegen eine Kündigung vorzugehen und sie der richterlichen Überprüfung zuzuführen. Für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wäre es daher naheliegend, dennoch entgegen den Normen des Einigungsvertrages Rechtsmittel auszuschöpfen. Ein solches Rechtsszenario erweist sich in den neuen Ländern als kaum praktikabel und wenig aussichtsreich:
Erschwerend kommt hinzu, daß die Fristensetzungen auf der Basis des Einigungsvertrages (31.12.1990) nicht sachgerecht sind. Eine halbwegs rationale Entscheidung über Erhalt oder Wegfall von Teilen der Verwaltungsapparate erfordert Zeit und Erfahrung im Umgang mit den neuen öffentlichen Aufgaben. In der Konsequenz fallen nur selten, wie ursprünglich intendiert, komplette Verwaltungsabteilungen der Umorganisation zum Opfer, sondern in diesem Prozeß entfallen flächendeckend die Tätigkeiten einzelner Arbeitnehmer. Der Rationalisierungsschutz wird ein spannendes Feld bei der Regelung von Arbeitsverhältnissen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern bleiben. Noch zeichnen sich kaum Ansätze ab, mit denen die Unsicherheit der Beschäftigten gemildert werden könnte. Die finanz- und personalpolitischen Unberechenbarkeiten im Bereich des öffentlichen Dienstes werden sich in den kommenden Jahren verschärfen, wenn es Technikfolgen zu bewältigen gilt, die sich z.B. in der öffentlichen Verwaltung durch den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechniken ergeben werden. Die Aufgabe der Tarifpolitik besteht darin, Rationalisierungsschutzstrategien zu entwickeln, die die einigungsprozeßbezogenen Fehlentwicklungen abmildern. Die Tarifautonomie darf nicht auf dem Altar der deutschen Einigung geopfert werden.
b) Konturen einer Qualifizierungsoffensive
In einem Punkt sind sich die öffentlichen Arbeitgeber und Gewerkschafter zumindest einig: Der Start einer Qualifizierungsoffensive für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes darf nicht lange hinausgeschoben werden, um eine bedarfsgerechte [Seite der Druckausgabe: 21] Personalstruktur aufzubauen und gleichzeitig Umstrukturierungsvorhaben auch im Bereich des öffentlichen Dienstes in sozial akzeptable Bahnen zu lenken. Hochrechnungen gelangen zu dem Ergebnis, daß das personelle Qualifizierungsvolumen nicht weit von der Millionengrenze entfernt liegt. Diese Ziffer relativiert sich durch die unterschiedlichen Qualifizierungsformen und abgestufte Intensität der Maßnahmen. Die Prinzipien einer Qualifizierungsoffensive für den öffentlichen Dienst haben relativ klare Konturen. Gegensätzliche Auffassungen existieren zwischen den Tarifparteien weniger bei den inhaltlichen Zielrichtungen eines Bildungsprogramms, als vielmehr bei den spezifischen Organisations- und Finanzierungsmodalitäten, die Bund, Länder und Gemeinden zu tragen haben. Das Spektrum zur Vorbereitung auf die veränderte Arbeitswelt ist vielfältig und reicht von kurzen Crash-Kursen zur Einführung in das bundesdeutsche Recht oder Seminaren zu neuen Verfahrensabläufen in den Verwaltungen, über intensive beruflich-fachliche Weiterbildung für neue Arbeitsaufgaben bis hin zu Umschulungsmaßnahmen, die öffentlich Bedienstete befähigen, berufliche Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes annehmen zu können. Diese Bildungsliste ließe sich erweitern. Die Heterogenität der notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen schließt aus, sich auf betriebliche Lösungsansätze zu beschränken, denn der Versuch, eine Qualifizierungsoffensive betrieblich konzentrieren zu wollen, wäre von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Auf kommunaler Ebene etwa ist eine solche Aufgabe kaum zu bewältigen, da den Gemeindeetats aufgrund der Kommunalstruktur der neuen Länder, die sich durch sehr viele kleine Gemeinden auszeichnet, enge Grenzen gesetzt sind - sofern überhaupt noch Finanzmittel zur Verfügung stehen. Ein Qualifizierungstarifvertrag für den Bereich des öffentlichen Dienstes steht angesichts des Bildungsvolumens auf der zukünftigen tarifpolitischen Tagesordnung. In diesem sind u.a. Infrastruktur und Zuständigkeiten eines Qualifizierungsprogramms niederzulegen, das sich auf zwei mögliche Grundpfeiler abstützt:
[Seite der Druckausgabe: 22] Nach dem Entwurf der ÖTV sollten die Qualifizierungsgesellschaften durch ein paritätisch besetztes Gremium kontrolliert und gelenkt werden. Die weitgehenden Mitbestimmungsrechte stoßen nicht unbedingt auf Gegenliebe bei den öffentlichen Arbeitgebern, so daß die strukturellen Vorstellungen noch eines Schlagabtausches zwischen den Tarifkontrahenten bedürfen. Dieser wird sich auf Finanzierungsfragen ausdehnen. Die Gewerkschaft ÖTV denkt in erster Linie an eine Finanzierung durch sämtliche Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes, z.B. auf der Grundlage einer Umlagefinanzierung, bei der die Arbeitgeber einen festzulegenden Prozentsatzes pro Lohnsumme als Umlage aufzubringen hätten. Falls die Arbeitgeberseite die Finanzierung einer solchen Qualifizierungsoffensive scheut, kann durchaus aufgerechnet werden, daß auch die sogenannten "Warteschleifen" schlichtweg Geld kosten (siebzig Prozent des vorherigen Einkommens). Qualifizierungsmaßnahmen hätten den Warteschleifen vorgezogen werden sollen, da sie diese um den Weiterbildungszeitraum verkürzen und in den meisten Fällen gewährleisten, daß die Teilnehmer anschließend im Rahmen der vielfältigen Aufgaben des öffentlichen Dienstes eingesetzt werden können. Diese Perspektive haben "Warteschleifen ziehende" Beschäftigte häufig nicht. Eine analoge Wechselwirkung ergibt sich im übrigen für die Bezieher von Arbeitslosengeld; sie könnten aufgrund ihrer Weiterbildungsaktivitäten bevorzugt wiedereingestellt werden.
c) Flankierende Regelungen
Trotz, oder gerade wegen der niedrigen Entgelte sind für den öffentlichen Dienst weitere tarifpolitische Weichenstellungen vorzunehmen. Stichworte sind u.a. die Angleichung der Lohn- und Gehaltsgruppenstruktur, eine zusätzliche Altersversorgung, der Einbau von sozialen Komponenten im Einkommenssystem (familienbezogene Einkommensbestandteile) wie Arbeitszeitregelungen. Nahziel ist die Übernahme von Vergütungsstrukturen und manteltarifvertraglichen Regelungen der alten Bundesrepublik, wie sie z.B. im Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) festgeschrieben sind. Eine Reihe von Tarifvereinbarungen rücken die Angleichung und Vereinheitlichung der Ost-West-Tarifgebiete ein gutes Stück näher:
[Seite der Druckausgabe: 23]
Der Angleichungsprozeß ist von herausragender Bedeutung. In der Diskussion wurde transparent, wie es zunehmend gilt, Ost-West-Konflikte zu umgehen. Tarifpolitisch begründete Spannungen zwischen den Beschäftigten aus beiden Teilen Deutschlands werden besonders eklatant bei zeitlich eng zusammenliegenden Tarifrunden. Die Situation im Bereich des öffentlichen Dienstes um die Jahreswende 90/91 ist dafür nur ein Beispiel. Bei zeitgleichen Tarifverhandlungen werden Lohn- und Gehaltsforderungen der West-Arbeitnehmer von den Ost-Arbeitnehmern daran gemessen, inwieweit sie Einkommensabstände vergrößern könnten, die durch die wirtschaftliche Situation der neuen Länder nicht kompensierbar sind. Auch diesem übergreifenden Verteilungskonflikt muß sich die Tarifpolitik stellen, und er legt einmal mehr offen, daß der öffentliche Dienst in den neuen Ländern weder Vorreiter, aber auch nicht Schlußlicht der allgemeinen Entwicklung sein darf.
2.2 Betriebliche Umsetzungsprobleme am Beispiel eines Energieversorgungsunternehmens (EVU)
Tarifpolitik muß die Unternehmen passieren. Auf der betrieblichen Aktionsebene wird nicht selten Wasser in den edlen Wein der Tarifpolitik gegossen, denn hier entscheidet sich, ob ausgehandelte Kompromißformeln mit den differenzierten unternehmenspolitischen Realitäten kompatibel sind, oder ob sich Reibungsverluste bei der Umsetzung von tariflichen Normen ergeben. Das gilt umso mehr in ostdeutschen Betrieben, in denen sich Tarifregelungen nicht auf stabile Strukturen stützen. Ein typisches Beispiel für noch unkalkulierbare äußere und innere Sachzwänge gab ein Bericht über die Regelung von Löhnen und Arbeitsbedingungen im Unternehmen, die vom Arbeitsdirektor der Preußen Elektra AG vorgestellt wurden. Preußen-Elektra zählt mit den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken (RWE) und dem Bayernwerk zu den drei großen westdeutschen Energieversorgungsunternehmen, die nach dem deutsch-deutschen Stromvertrag vom Spätsommer 1990 die Geschäftsbesorgung bei den Stromverbundunternehmen der ehemaligen DDR, Vereinigte Kraftwerke AG Peitz (Braunkohle-Kraftwerke) und Verbundnetz AG (Hochspannungsübertragung) übernommen haben. Preußen Elektra trägt zudem maßgeblich die Geschäftsbesorgung in den regionalen Versorgungsgebieten Rostock, Neubrandenburg, Magdeburg, Potsdam und Frankfurt (Oder). Eine Skizze der wirtschaftlichen und personalpolitischen Konstellationen dieses Unternehmens erleichtert das Verständnis der tarifpolitischen Entwicklungen vor und nach der Währungsunion. [Seite der Druckausgabe: 24] Die ökonomischen und personellen Schwierigkeiten der EVUs liegen nicht weit entfernt von denjenigen der anderen Branchen, wenngleich die wirtschaftliche Lage durchaus in einem günstigen Lichte zu sehen ist. Die Stillegung kompletter Betriebe oder zumindest von Betriebsteilen ist aus technischen, wirtschaftlichen wie auch ökologischen Gründen unvermeidbar. Dennoch sprechen eine Reihe von Faktoren für eine vergleichsweise bessere Marktsituation des EVU, die die Aussichten der Beschäftigten auf Einkommenszuwachs und erhöhte Standards in den Arbeitsbedingungen verbessern:
Die Expansion nach Osten bedingt allerdings die Übernahme ganzer Betriebe mit dem kompletten Personalbestand. Hinzu addieren sich die herkömmlichen Randaktivitäten der Kombinate (Berufsschulen, Kindergärten usw.) und z.B. kleine Konsumgüterproduktionen, die nicht überlebensfähig sind. Ihre Schließung ist aus Gründen des Wettbewerbs mittelfristig nicht zu vermeiden. Die Produktionsbetriebe stecken in sehr differenzierten wirtschaftlichen Situationen, sowohl auf der überregionalen Stromerzeugungs- wie der regionalen Verteilungsebene. Ein krasses Beispiel ist das Kernkraftwerk in Greifswald, das wohl keine Zukunft mehr hat und das allein auf der Betreiberseite ca. 5.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Auch die regionalen Unternehmen, die von den westdeutschen EVUs übernommen wurden und etwa 2.000 bis 5.000 Mitarbeiter beschäftigen, stehen vor Personalbestandsproblemen. Dort bewegen sich die Personalanpassungsprozesse allerdings in einer Größenordnung, die durchaus mit den herkömmlichen West-Instrumentarien zu bewältigen sind und bei denen die im Zusammenhang mit den Stromverträgen zugesagte sozialverträgliche Bewältigung der Personalanpassung eingehalten werden kann. [Seite der Druckausgabe: 25] Die tarifpolitischen Trends in den neuen Ländern spiegeln sich in der Praxis des EVU wieder, wobei die Umsetzungsschwierigkeiten der jeweils ausgehandelten Regeln zutage treten. Zentrales tarifpolitisches Handlungsterrain war und ist die Lohn- und Gehaltsentwicklung. Sie wurde in Bewegung gebracht, indem die Löhne und Gehälter vor und nach der Währungsunion in mehreren Stufen angehoben wurden. Die Tarifrunde zur Erhöhung der Entgelte im Oktober 1990 hatte bereits den Charakter einer "echten" Tarifverhandlung zwischen den beiden zuständigen Gewerkschaften IG Bergbau und Energie wie ÖTV auf der einen Seite und einem inzwischen weitgehend funktionsfähig arbeitenden Arbeitgeberverband auf der anderen Seite. Danach erhalten die Beschäftigten ein Arbeitsentgelt auf einem Niveau von 42 Prozent der westlichen Löhne und Gehälter. Bei diesem Niveau ist zu berücksichtigen, daß die West-Arbeitsentgelte in der Einkommensskala der alten Bundesrepublik relativ weit vorne angesiedelt sind. Die Festlegung der Löhne und Gehälter bot daher weniger Konfliktstoff; Schwierigkeiten bereiteten dagegen Maßnahmen zum Rationalisierungsschutz und die Implementation neuer Vergütungsgruppen.
a) Sozialverträglichkeitsstrategien bei der Personalanpassung
Ein noch zu Zeiten der Regierung Modrow ausgehandeltes Rationalisierungsschutzabkommen erwies sich auch hier als kaum durchhaltbar und aufgrund der umfassenden Unkündbarkeitsregelungen - etwa angesichts der Lage des Kernkraftwerks in Greifswald - perspektivisch als unrealistisch. Der Rationalisierungsschutz mußte auf eine neue, tragfähigere Basis gestellt werden. Nach längeren Tarifverhandlungen konnten sich die Tarifparteien darauf verständigen, ältere Mitarbeiter weitgehend zu schonen und für unkündbar zu erklären. In anderen Fällen ist vor betriebsbedingten Kündigungen zu prüfen, inwieweit unter Ausnutzung der Palette von Qualifizierungsmaßnahmen, Umsetzungen und Versetzungen betroffene Mitarbeiter gehalten werden können. Die Umsetzung dieser Rationalisierungsschutzbemühungen wird durch die instabilen Rahmenbedingungen erschwert. Beispiel dafür ist das Gasgeschäft, das auf Druck des Bundeskartellamtes aus den Regionalunternehmen herausgenommen wird. Bei der Ausgliederung werden sich die Betriebsstrukturen verändern und damit auch die Möglichkeiten, Tarifverträge umzusetzen. Wenn durch ein Unternehmen gewissermaßen quer ein Strich gezogen wird, entstehen Abgrenzungs- und Überlappungsprobleme, so daß die Möglichkeiten von Um- und Versetzungen verschwimmen. Schwieriger als erwartet gestaltete sich die Umsetzung einer weiteren sozialen Abfederungsmaßnahme. Herausragendes Instrument eines Personalabbaus, der Sozialverträglichkeitskriterien verpflichtet ist, sind Vorruhestandsregelungen nach westlichem Modus. Die genannte wirtschaftliche Lage der regionalen Unternehmen bietet hinreichend Spielraum, dieses Instrument beim Personalanpassungsprozeß durchaus effektiv einzusetzen. Im Sommer '90 wurde dieses Tarifelement von den Vertragsparteien behandelt. Auf beiden Seiten bestand Einigkeit, daß das perso- [Seite der Druckausgabe: 26] nalpolitische Instrument der Vorruhestandsregelung zur Sanierung der Betriebe einzusetzen sei. Die Tarifparteien erkannten im Einigungsvertrag eine Rechtsgrundlage für eine Vorruhestandsregelung, die vorsieht, daß alle Beschäftigten die Möglichkeit haben, im Alter von 57 Jahren in den Ruhestand zu gehen und daß die Gelder, die von der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Fall gezahlt werden, über die tarifvertragliche Vereinbarung adäquat aufgestockt werden, um den Lebensstandard der ausgeschiedenen Mitarbeiter zu sichern. Durch die finanzielle Zusatzleistung sollte die Akzeptanz bei den infrage kommenden Beschäftigten erhöht werden. Die Tarifparteien gingen davon aus, daß das Altersübergangsgeld gesichert ist. Anschließend stellte sich jedoch heraus, daß Bundesanstalt für Arbeit und Arbeitsministerium die Regelungen des Einigungsvertrages im nachhinein dahingehend interpretierten, daß sowohl die Sperrfristen als auch die Ruhenszeiträume nach dem Arbeitsförderungsgesetz wieder eintreten sollten. Die Tarifvereinbarungen waren demgegenüber unter der Prämisse getroffen worden, daß Beschäftigte, die die Möglichkeit der Vorruhestandsregelung wahrnehmen, unmittelbar Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit beziehen können. Diese Auslegung wurde von den Tarifparteien nicht hingenommen und gemeinsame Interventionen von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband bei der Bundesanstalt für Arbeit und beim Bundesarbeitsministerium führten wenigstens zu einer Teilaufhebung der Restriktionen: die Sperrfristen entfallen, jedoch bleiben die Ruhenszeiträume bestehen. Nunmehr werden die Aufwendungen aus den Ruhenszeiträumen (im Mittel 6 Monate) vom Unternehmen getragen. Diese äußere Kontroverse, die die Umsetzung vereinbarter Regelungen verzögerte, hat nach innen Unsicherheiten bei den Beschäftigten hervorgerufen. Sie belasten konkrete Einzelgespräche und die Belegschaften sind durch die Diskussion sensibilisiert worden:
Der Beratungs- und Betreuungsbedarf durch Personalleitung und Betriebsräte ist daher enorm, obwohl für diese der Umgang mit dem neuen Instrument selber ungewohnt ist. Externe Zwänge destabilisierten auf diese Weise den Umsetzungsmodus von Vereinbarungen.
[Seite der Druckausgabe: 27]
b) Implementation neuer Vergütungsgruppen
In der Tarifrunde des Sommers '90 wurde ein weiteres Element behandelt: der Vergütungsgruppenkatalog nach dem Modell westdeutscher EVUs. In einer Phase, als der Einfluß aus dem Westen noch vergleichsweise gering war, wurde einer Behandlung dieses Themas zugestimmt und die Vereinbarung getroffen, bis zum 1.10.1990 einen entsprechenden Tarifvertrag nicht nur abzuschließen, sondern bereits flächendeckend umzusetzen. Der Vergütungsgruppenkatalog sollte die Breite des bisherigen Verzeichnisses spreizen und die mehrfach hintereinander vollzogenen prozentualen Erhöhungen der alten Einkommen durch qualifikations- und leistungsorientierten Entgeltformen ersetzen. Wie viele Arrangements aus dieser Zeit, erwies sich die Entgeltstrukturierung des Unternehmens im Osten nach den tariflichen Vergütungsgruppen des Westens in nur wenigen Monate als undurchführbar. Nach diesem Zeitplan hätten fast 100.000 Beschäftigte in etwa 25 Betrieben neu zugeordnet werden müssen. Der Tarifvertrag zur Entgeltdifferenzierung war von beiden Seiten unter zu hohem Erwartungs- und Handlungsdruck verabschiedet worden, der inhaltlich nicht einlösbar war. Die Neuordnung der Vergütungsgruppen in den verschiedenen Betrieben mit verfestigten Strukturen und eingeschliffenen Verfahrensweisen ist ein hochanspruchsvolles Programm, wenn gewährleistet werden soll, daß die Eingruppierungen relativ unangreifbar sind. Die Revision eines solchen Programms sorgt in den Betrieben für neuen Zündstoff; die Verschiebung der Entgeltdifferenzierung strapazierte die sich neu herausbildenden Arbeitsbeziehungen im EVU nicht unerheblich. Zum 1.10.1990 wurden daher die Arbeitsentgelte nochmals nach einem Pauschalverfahren auf der Basis der bisherigen Vergütung angehoben. Der neue Umsetzungskalender zur Entgeltdifferenzierung streckt das Eingruppierungsverfahren nunmehr bis zum 1.07.1991. Diese tarifvertraglichen Umsetzungsprobleme im EVU unterstrichen die gängigen Startschwierigkeiten im Osten, über die Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter berichteten. Der Vergütungsgruppenkatalog ist Ausdruck der voreiligen Anpassungsstrategien in einer Phase, in der die Tarifparteien ihre Rolle noch nicht gefunden hatten. Dieser Anpassungsdruck bleibt bestehen. Die Kontroverse über das Altersübergangsgeld spiegelt die sich kontinuierlich verändernden politischen Normen wieder, wodurch den Tarifvereinbarungen stabile Bezugspunkte fehlen. Unter diesen Bedingungen fällt es schwer, den Gestaltungsanspruch der Tarifpolitik zu bewahren. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000 |