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TEILDOKUMENT:
1. Tarifpolitik im Zuge der deutschen Einigung Die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR führte auch zur Ablösung der realsozialistischen Arbeitsbeziehungen. In den fünf neuen Ländern und Ost-Berlin kristallisieren sich nach dem Muster der historischen Entwicklung von Tarifbeziehungen in der alten Bundesrepublik allmählich die Grundlinien einer neuen Tarifpolitik heraus. Noch vermischen sich Relikte bzw. Altlasten der sozialistischen Sozialverfassung mit den neuen industriellen Beziehungen, die in einem sehr kurzen Zeitraum auf das Gebiet der fünf neuen Länder und Ost-Berlins transferiert worden sind. Leitbild dieses Transferprozesses sind die Stabilität und der weitgehende soziale Konsens, die sich in der alten Bundesrepublik zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen etabliert haben. Die Dynamik des Umbruchs erzeugt in den neuen Ländern einen erheblichen tarifpolitischen Handlungsbedarf, mit dem die sehr komplexen, durch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturwandel entstandenen Probleme einer tarifpolitischen (Teil-) Lösung zugeführt werden müssen. Bei der Angleichung der disparaten wirtschaftlichen Lage und der Lebensverhältnisse in den in dieser Hinsicht immer noch beiden Teilen Deutschlands steht die Tarifpolitik vor einem differenzierten Bündel von Anforderungen, wobei sie auf einigen Feldern des Angleichungsprozesses einen Beitrag zu leisten vermag, jedoch kein Allheilmittel zum ökonomischen und gesellschaftlichen Wiederaufbau bzw. zur Sanierung der neuen Länder sein kann. Sie unterliegt Gestaltungszwängen und stößt an Gestaltungsgrenzen, die ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationsfunktion einschränken. In diesem Kontext kommt dem Selbstverständnis von Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und staatlichen Akteuren eine besondere Bedeutung zu, da durch deren interessenorientierte Zielvorgaben und Handlungsstrategien die tarifpolitischen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Sie konstituieren das tarifpolitische Klima in den neuen Tarifgebieten und beeinflussen die Fähigkeit der Tarifpolitik, den speziellen Anforderungen des Strukturwandels und der Modernisierung der Wirtschaft Rechnung zu tragen, die Chancen des Umbruchs wahrzunehmen und gleichzeitig dessen Risikopotential sozialverträglich zu bewältigen.
1.1 Die Ausgangssituation nach Öffnung der Grenzen
Wie die deutsche Einigung selbst, hat auch die Entstehung einer gesamtdeutsch orientierten Tarifpolitik Prozeßcharakter und durchläuft unterschiedliche Phasen, die [Seite der Druckausgabe: 4] auf die Entwicklungsstufen der Wiedervereinigung aufbauen. Ökonomische Sachzwänge, Interaktionsstrukturen zwischen den Tarifparteien, soziale Ansprüche der Arbeitenden wie politische Kontextvariablen markieren die zeitlichen und inhaltlichen Konstellationen, unter denen sich die Tarifpolitik auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entfaltet hat. Experten aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen skizzierten die ersten Entwicklungstrends und gaben Auskunft über die jeweiligen Stolpersteine auf diesem Weg. Das tarifpolitische Geschäft von Gewerkschaftern und Arbeitgebern bleibt nicht unbeeinflußt von dem Erbgut, das die DDR in ihrem vierzigjährigen Bestehen hinterlassen hat. Dies muß zum Verständnis der Entwicklungslinien nach dem Umbruch in Erinnerung gerufen werden. Trotz der formal durchaus vergleichbaren Strukturen des DDR-Tarifvertragssystems mit demjenigen der alten Bundesrepublik, haben diese Strukturen in den beiden Gesellschaftssystemen völlig andere Qualitäten entwickelt. Dem weitgehenden Autonomiegrad der organisierten Arbeitsbeziehungen in der alten Bundesrepublik, der sich auf das tarifpolitische Fundament von Tarifautonomie, Vertragsfreiheit, Arbeitskampfrecht usw. stützt, stand im früheren Staat DDR das Grundprinzip des demokratischen Zentralismus gegenüber. Der FDGB war diesem Prinzip verpflichtet, identifizierte sich nahezu vollständig mit der führenden Partei und dem Staat und galt als einer der Transmissionsriemen der SED. Die Grundlagen der Strukturen des Tarifvertragssystems waren im Arbeitsgesetzbuch (AGB) der DDR festgeschrieben. Tarifvereinbarungen basierten auf den sogenannten Rahmenkollektiwerträgen (RKV), die zwischen den zentralen Organen des Staates (Industrie-Ministerien) und den Zentralvorständen der einzelnen Gewerkschaften abgeschlossen wurden. Die RKVs hatten z.T. jahrzehntelang Bestand bzw. wurden durch Nachträge nur unwesentlich verändert. Sie blieben über diese Zeiträume hinweg in ihrer Quintessenz gültig und erfaßten ca. 95% der Beschäftigten (Werktätigen). Der Verhandlungsspielraum bei den Tarifabschlüssen war durch Zentralvorgaben im Rahmen der erstellten Volkswirtschaftspläne eng begrenzt. Entsprechendes galt für die Betriebskollektivverträge, die zum Zwecke der Konkretisierung von Rahmenkollektiwerträgen zwischen Betriebsgewerkschaftsleitung und Betriebsleitung abgeschlossen wurden. Das Recht und die Optionen der Betriebsgewerkschaftsleitung zur Umsetzung, Differenzierung und Ausgestaltung erlangten nur beschränkte Bedeutung bei der Festlegung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsbedingungen. Mit dem Stichtag 9. November 1989 änderte sich an der tarifpolitischen Praxis zunächst wenig. FDGB und Staatsapparat gingen von nach wie vor konstanten Rahmenbedingungen aus und die verantwortlichen Akteure handelten in dem trügerischen Bewußtsein, ihr tarifpolitisches Geschäft in der vierzigjährigen Tradition weiterführen zu können. Um die Jahreswende 89/90 wurde die Instabilität der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR spürbarer. Die Anzeichen für einen Wandel bzw. für den völligen Untergang der sozialistischen Gesellschafts- [Seite der Druckausgabe: 5] und Wirtschaftsordnung häuften sich. Diese Entwicklung ging nunmehr auch an der Tarifpolitik nicht mehr spurlos vorüber und markierte nach Beobachtungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) des DGB die zeitliche Grenze einer eigenständigen Tarifpolitik der alten DDR-Gewerkschaften. Diese stand unter den Vorzeichen der Umwälzung und war gekennzeichnet durch den Versuch, die absehbaren Begleiterscheinungen des bevorstehenden Umbruchs im Vorfeld durch sehr umfassende tarifvertragliche Regelungen, die mit den Zentralorganen des DDR-Staates verrechtlicht wurden, zu kompensieren. Diese tarifpolitische Prophylaxe verblieb allerdings in den Kategorien sozialistischer Denkweisen verhaftet, so daß die mit ihr intendierte Bestandssicherung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zum Scheitern verurteilt war. Beispiel für diese unhaltbare Strategie sind die zu Zeiten der Regierung Modrow vor den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 abgeschlossenen Rationalisierungsschutzabkommen in fast allen Wirtschaftsbereichen. Den Vereinbarungen lag die Zielvorstellung zugrunde, ein dichtes Auffangnetz zur Absicherung vor den (Freisetzungs-) Folgen der technisch-organisatorischen Rationalisierungen zu spinnen. Zu diesem Zeitpunkt belegten bereits Produktivitätsvergleiche zwischen Unternehmen der DDR und der Bundesrepublik, daß der Übergang zur Marktwirtschaft mit Rationalisierung und Arbeitslosigkeit, d.h. mit sozio-ökonomischen Folgen verkoppelt sein würden, die breite Bevölkerungsschichten erfassen. Die Tarifvereinbarungen zum Rationalisierungschutz mögen aus abstrakt-arbeitsorientierter Perspektive zwar durchaus progressiv klingen, sind jedoch unter Wettbewerbsbedingungen auf Absatz- wie Arbeitsmärkten durch Realitätsferne gekennzeichnet. Die betreffenden Tarifverträge waren etwa mit Regelungen ausgestattet, die in Extremfällen vorsahen, daß Beschäftigte, die 15 Jahre und länger im Unternehmen tätig waren, unkündbar sind. Derartige Kündigungsbestimmungen sind in ostdeutschen Unternehmen nicht durchzuhalten. An dieser Stelle scheint zudem die im Prinzip "beamtenrechtliche" Stellung der ehemaligen Werktätigen der DDR durch. Ökonomisch untragbar waren auch andere Vereinbarungen, die z.B. festlegten, daß im Falle von Entlassungen Abfindungen in der Größenordnung von bis zu drei Jahresgehältern an die Betroffenen zu zahlen sind. Diese Tarifabschlüsse wurden von dem Untergang der DDR überholt und damit ging die kurze Epoche eigenständiger, unabhängiger Tarifpolitik ihrem Ende entgegen. Mit dem 1. Staatsvertrag vom 18. Mai wurden die Grundsätze der Arbeitsrechtsordnung der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR übertragen. Nach Artikel 17 des Staatsvertrages galten damit in der DDR Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz - zumindest theoretisch - entsprechend dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Am 1. Juli wurde die Währungsunion durchgeführt und im Einigungsvertrag wurde anschließend bestimmt, daß alle Abkommen, die vor Inkrafttreten der Währungsunion abgeschlossen und noch nicht ersetzt worden sind, zum Jahresende 1990 ohne Nachwirkungen auslaufen. [Seite der Druckausgabe: 6] Im gesamten ersten Halbjahr und noch im Spätsommer wurde offensichtlich, daß sich Tarifbeziehungen mit dem zentralen Anspruch der Tarifautonomie nicht politisch dekretieren und den nachschwingenden DDR-Tarifverhandlungsstrukturen überstülpen lassen. Die tarifpolitischen Aushandlungsprozesse besaßen in keiner Weise formale und inhaltliche Stabilität. Wesentliche Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit des bundesdeutschen Systems der Tarifbeziehungen sind die Einheit und Stärke der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsorganisationen. Der Dialog zwischen den Organisationen und die Ergebnisse, die er zeitigt, werden durch die Symmetrie oder Asymmetrie der Machtverhältnisse bestimmt, d.h. durch das Gewicht, das die Organisationen bei tarifpolitisch kontrovers beurteilten Sachverhalten in die Waagschalen werfen können. Dem ersten Anschein zufolge sind die entsprechenden Strukturen in den neuen Tarifgebieten relativ rasch entstanden. Ein Blick hinter die Kulissen verrät jedoch, in welchem Ausmaß die ersten Tarifrunden noch von Unsicherheiten der Tarifparteien geprägt waren, die nicht allein aus der unübersichtlichen Wirtschaftslage resultierten. Für die Gewerkschafts- wie für die Arbeitgeberseite schälten sich unterschiedliche Schwierigkeiten heraus: Während die Gewerkschaften unter der totalen Diskreditierung des FDGB und seiner Einzelgewerkschaften litten, machte sich auf Arbeitgeberseite das Fehlen von privaten Arbeitgebern und deren Organisationen deutlich bemerkbar. Nach der Währungsunion tat sich die Arbeitgeberseite schwer damit, ihre Tarifträgerstruktur bzw. ihre Verbände aufzubauen. Bei den nicht-privaten Arbeitgebern bestand großes Mißtrauen gegenüber den sich neu bildenden Organisationen. Praktizierbar ist die Tarifautonomie jedoch nur, wenn auf beiden Seiten Organisationen vorhanden sind, die sich als Tarifpartei profiliert haben. Evaluiert z.B. die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) heute die ersten Tarifverhandlungen in den neuen Tarifgebieten, so muß konstatiert werden, daß sie im Vergleich zu den Verhandlungsprozessen im Westen chaotische Züge trugen. Diese Ansicht wird von Gewerkschaftsvertretern geteilt, da die Arbeitgeber häufig das Bild einer sehr diffusen Vertragspartei in den Tarifverhandlungen abgaben. In den Tarifgesprächen des Sommers '90 saßen im Grunde auf beiden Seiten Arbeitnehmer. Die Vertragspartei der Arbeitgeber befand sich häufig noch in Gründung; die Arbeitgeberverbandsmitglieder und Verhandlungsführer waren meist die bisherigen Betriebsleiter und Kombinatsdirektoren, die in die Rolle des Arbeitgebers bzw. des Interessenvertreters der neuen Vertragspartei schlüpften. Für westliche Arbeitgebervertreter entstand nicht selten der Eindruck, daß die Berücksichtigung der Ertragsfähigkeit der Betriebe nicht in allen Fällen das dominierende Moment im Vorstellungshorizont und in der Verhandlungsführung der sogenannten Arbeitgeberseite war. Wirtschaftlichkeitserwägungen wurden häufig als Aufgabenfeld der Treuhandanstalt angesehen. [Seite der Druckausgabe: 7] Darüber hinaus wirkte die alte Verhandlungskultur nach. Nicht selten nahmen die neuen Ost-Arbeitgeber noch die Haltung ehemaliger Parteifunktionäre gegenüber den Arbeitnehmerorganisationen ein, als befänden sie sich in der alten Machtkonfiguration, in der sie dem Betriebsgewerkschaftsleiter den tarifpolitischen Lösungsweg vorschreiben können. Diese Gesamtsituation führte zu strikten, direktiven Interventionen der westlichen Arbeitgebervertreter, um zu vermeiden, daß Machtungleichgewichte und falsche Verhandlungstaktiken der neuen Ost-Arbeitgeber den mittelfristigen Interessen der Unternehmen zuwiderlaufen. Westliche Absatz- und Arbeitsmarktgesetze mußten zunächst im tarifpolitischen Horizont der östlichen Arbeitgebervertreter verankert werden. Gleichsam galt für die gewerkschaftlichen Akteure, einen raschen Umdenkungs- und Lernprozeß zu durchlaufen, um nach dem Aufbrechen des Zwangskorsetts des volkswirtschaftlichen Rahmenplans und der starren Strukturen der Rahmenkollektiwerträge das neue tarifpolitische Terrain sicheren Fußes zu betreten. Die Interventionen der West-Gewerkschaften konnten etwas "weicher" eingeleitet werden, als sich im Frühjahr 1990 ein enormer Beratungsbedarf aufgestaut hatte. Etwa seit März traten Experten der DGB-Gewerkschaften aktiv als Berater im tarifpolitischen Tagesgeschäft auf, um den Aufbau einer unabhängigen Tarifpolitik zu unterstützen. Seitdem gab es keine wesentlichen Tarifverhandlungen im Osten Deutschlands mehr, in denen nicht Vertreter der DGB-Gewerkschaften mitwirkten. Die Strukturen des bundesdeutschen Tarifsystems sind auf diese Weise in einem zwar für die jeweilige Tarifpartei zunächst komplizierten, jedoch raschen Transferprozeß auf die neuen Länder übertragen worden. Altbundesdeutsche Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften forcierten diese Übertragung des Tarifwesens, indem sie sich auf keine Kompromisse und Experimente einließen. Das zeigt sich u.a. an dem Festhalten an Flächentarifverträgen für ganze Wirtschaftszweige und Regionen. Die Arbeitgeberseite nahm davon Abstand, Ansätze einer feineren Differenzierung und Deregulierung zu verfolgen, die mit dem Instrument von Firmen- bzw. Haustarifverträgen möglich gewesen wären. Die West-Gewerkschaften steckten in gleicher Weise zurück, da sie nicht versuchten, einen jahrzehntelangen Reformstau nun in den neuen Tarifgebieten abzubauen, z.B. bei den Rahmentarifverträgen zur Lohn- und Gehaltsstruktur. Unzweifelhaft hätte ein Grundsatzstreit Unsicherheiten bei den Beschäftigten verschärft und zu unkalkulierbaren Reaktionen geführt. Kontroversen über Systeminnovationen und Strukturwandel der Tarifpolitik unterblieben. Der breite Konsens ist somit eine wesentliche Starthilfe für Tarifauseinandersetzungen und - vereinbarungen in den fünf neuen Ländern. Tarifbeziehungen und konkrete Tarifverträge, die wenig Rücksicht auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen nahmen, wurden relativ zügig modifiziert und als Altlasten zum großen Teil beseitigt.
[Seite der Druckausgabe: 8]
1.2 Die Tariflandschaft in den neuen Ländern: Bilanz und Eckdaten der Entwicklung
In den neuen Ländern lasten auf der Tarifpolitik enorme Handlungszwänge, die in den alten Bundesländern in dieser Form noch nicht zu verantworten und zu handhaben waren. Darüber besteht kein Zweifel bei den verantwortlichen Akteuren. Der Druck zur Lohn- und Gehaltsangleichung zwischen Ost und West, um qualifizierte Arbeitskräfte zum Bleiben zu animieren, die prognostizierte drastische Erhöhung des Arbeitslosenanteils und die Gefahr einer starken Polarisierung der Lebensverhältnisse zwischen den beiden Teilen Deutschlands sind tarifpolitisch zu verarbeiten. Vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB wurde inzwischen eine erste Bilanz auf den wichtigsten tarifpolitischen Handlungsfeldern gezogen. Die vorgestellten Entwicklungsdaten wurden von anderen (Tarif-) Experten unterfüttert.
1.2.1 Entgeltpolitik
Aspekte der Entgeltpolitik nahmen breiten Raum im Tagungsdiskurs ein. Der Einkommensrückstand der Ost-Arbeitnehmer und die prekäre Lage vieler Wirtschaftszweige im Osten Deutschlands bilden die Antipoden, zwischen denen sich die Tarifparteien auf diesem schwierigen Gelände bewegen. Bei der Gestaltung der Lohn- und Gehaltsentwicklung muß sowohl die Bedarfslage der Menschen als auch die Leistungsfähigkeit der Betriebe und Branchen in Rechnung gestellt werden, wodurch sich je nach individuellem Standort unterschiedliche Einschätzungen über das richtige tarifliche Augenmaß ergeben. Zum Verständnis der ersten Tarifabschlüsse sind einige wichtige Kennziffern des Jahres 1990 in Erinnerung zu rufen:
[Seite der Druckausgabe: 9]
Die ersten Tarifrunden sind vor diesem Hintergrund als Sofort- und Übergangsmaßnahmen zu klassifizieren, die noch lange nach der Währungsumstellung die Tarifpolitik bis heute prägen. Keine Tarifpartei konnte eine ausdifferenzierte Konzeption verfolgen, die Zielvorgaben waren pragmatisch und erste strukturelle Übergangsschritte. Die materiellen Regelungen waren mit tarifpolitischen Unbekannten belastet. Ihrem Übergangscharakter trugen schon die ersten Tarifrunden dadurch Rechnung, indem die Bruttoeinkommen um einen festen monatlichen Pauschalbetrag angehoben wurden. Die Produktivität der Branchen schlägt sich in den Tarifabschlüssen nieder, wenngleich in einigen Abschlüssen die Höhe der materiellen Regelungen durch die sozialpolitischen Folgen des Umbruchs mit bestimmt wird. Eine ausschließlich produktivitätsorientierte Lohn- und Gehaltspolitik hätte die sozialen Spannungen bei den Beschäftigten verschärft. Die Datenmaterialien des WSI zeigen die unterschiedlichen Ausgangslagen der Branchen und veranschaulichen die Spanne zwischen den ersten Tarifabschlüssen:
Da Tarifpolitik ohne Produktivitätsorientierung, wie sie von den Unternehmen vertreten wird, sicher nur schwer auskommt, liegt eine weitere Spreizung des Tarifniveaus für die unterschiedlichen Wirtschafts- bzw. Tarifbereiche auf der Hand. Insbesondere bei Neugründungen von Unternehmen liegt die Produktivität vergleichsweise [Seite der Druckausgabe: 10] hoch, so daß dort produktivitätsgestützte Entgelte - in Form von übertariflichen Einkommen - mittelfristig das Lohn- und Gehaltsniveau der Beschäftigten prägen werden. Nicht zuletzt auf Drängen der Gewerkschaften wurden in den ersten Tarifrunden angesichts der ökonomischen Instabilität kurze Laufzeiten der Verträge vereinbart (zwischen drei und sechs Monaten). Die Entgeltpolitik sollte flexibel bleiben und auf die ökonomische Entwicklung angemessen reagieren können. Die anschließenden Tarifrunden standen in den neuen Ländern ganz im Zeichen der Gegenüberstellung und ersten Angleichung des Tarifniveaus zwischen Ost und West. Die Erwerbseinkommen in den östlichen Bundesländern lagen Ende 1990 im Schnitt bei 40 - 55 % des Westniveaus. Das Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut des DGB erwartet, daß sich dieser Satz bis Ende 1991 auf 60 - 65 % erhöhen wird. Bereits in elf Tarifbereichen konnte zur Jahreswende 1990/91 ein Tarifniveau erreicht werden, das mindestens 60 v.H. der vergleichbaren Westlöhne und -gehälter entspricht - eine Entwicklung, die sich weiter fortsetzen wird. Ein Niveau von 60 - 65 v.H. wurde u.a. in den Branchen Bauhauptgewerbe, Heizung-Klima-Sanitärtechnik (Berlin-Brandenburg), Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, Konsumgenossenschaften und Zigarettenindustrie erreicht; bis zu 70 v.H. in den Bereichen Staatsgüter, Gebäudereinigerhandwerk Berlin, HO (Handelsorganisation) Eisenach und ein Niveau von 90 v.H. erreichen gar die Facharbeiter im Fliesenleger- und Ofenbauerhandwerk Sachsen. Auch existieren bereits Stufenregelungen, bei denen z.B. im Dachdeckerhandwerk eine schrittweise Anhebung des Tarifniveaus bis zum 1.4.1993 auf 100 v.H. des West-Niveaus vereinbart wurde. Neben dem Niveau der Löhne und Gehälter gewinnt die Assimilierung bzw. Übernahme der westlichen Lohn- und Gehaltsstrukturen in den Tarifverhandlungen an Bedeutung. Auch auf diesem Gebiet scheinen sich die Tarifparteien nicht auf Experimente einlassen zu wollen. Die bundesdeutschen Tarifstrukturen werden weitgehend in den ostdeutschen Tarifgebieten übernommen. Die Tarifverhandlungen erstrecken sich auf die Übertragung der Entgeltstrukturen, d.h. Zahl und Differenzierung der Lohn- und Gehaltsgruppen, der Verfahren der Arbeits- und Leistungsbewertung sowie ferner auf die Struktur der zusätzlichen Einkommensbestandteile. Mit der Übertragung der Lohn- und Gehaltsstrukturen soll die große Nivellierung der Löhne und Gehälter in der ehemaligen DDR durch eine leistungs- und qualifikationsorientierte Differenzierung abgelöst werden. Gebrochen wird dann mit der von der realsozialistischen Ideologie konditionierten Eingruppierungsstruktur. Nach Berechnung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bestand in der früheren DDR zwischen der untersten und obersten Tarifgruppe (Arbeiter und Angestellte zusammengenommen) ein Abstand von etwa 20 v.H., während in der alten Bundesrepublik die weitaus stärkere Spreizung der Entgeltgruppen zu einem Abstand zwischen der untersten und höchsten Tarifgruppe von teilweise 150 v.H. führt. [Seite der Druckausgabe: 11] Diese egalitäre Lohn- und Gehaltsstruktur steht unter Druck. Die Übernahme des West-Modells war überwiegend im Herbst 1990 Gegenstand der Tarifverhandlungen. Der Prozeß der vertraglichen Übernahme der neuen Lohn- und Gehaltsstrukturen dürfte etwa bis Mitte 1991 abgeschlossen sein. Die formell-vertragliche Regelung bedeutet allerdings nicht, daß die Übertragung in einem kurzen Zeitraum in den Betrieben umgesetzt werden kann, denn bei diesem betrieblichen Geschäft geht es um die Angleichung von zwei sehr unterschiedlichen Tarifsystemen. Die Tarifverträge können im Normalfall aufgrund der nur schwer vergleichbaren Lohn- und Gehaltsstrukturen keine mechanischen Umsetzungsregeln vorgeben, sondern nur betriebliche Verfahrensgrundsätze aufstellen, z.B. daß eine Neueinstufung und Neueingruppierung jedes einzelnen Beschäftigten bzw. jeder einzelnen Tätigkeit zu erfolgen hat. In der Praxis werden daher - immer noch kurze - Phasen von drei bis fünf Monaten in den Tarifverträgen vorgesehen, in denen die Beschäftigten neu einzustufen sind, bevor die veränderten Lohn- und Gehaltsstrukturen gelten, die anschließend die Basis für die Einkommensangleichung nach dem West-Niveau abgeben. Um zu leistungsorientierten Eingruppierungsstrukturen zu gelangen, wird von den Tarifparteien bereits ein Teil des zur Verfügung stehenden Verteilungsspielraums investiert, denn die Tarifierung der alt-bundesdeutschen Verteilungsstrukturen ist im Osten nicht zum Null-Tarif zu haben: sie kostet die Unternehmen Geld.
1.2.2 Rationalisierungsschutzpolitik: Schwerpunkt Qualifizierung
Die ersten Rationalisierungsschutzabkommen standen wie aufgezeigt in ihrem Kerngedanken diametral entgegengesetzt zu der absehbaren wirtschaftlichen Entwicklung der Branchen im Zeichen der Marktwirtschaft. Darüber bestand bei den Tarifträgern und politisch Verantwortlichen Konsens. Richtschnur der anschließend neu ausgehandelten Rationalisierungsschutzabkommen ist die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der Betriebe, da unvermeidliche Schrumpfungsprozesse nicht behindert, sondern mit den getroffenen Schutzabkommen sozialverträglich abgefedert werden sollen. Im wesentlichen werden auch im Bereich Rationalisierungsschutz die westlichen Tarifbestimmungen übernommen. Ausdrücklich beharren die Gewerkschaften allerdings auf einem Grundsatz: Qualifizieren statt entlassen. Im Vordergrund notwendiger betrieblicher Veränderungen hat nach diesem Leitmotto die Arbeitsplatzsicherung zu stehen, die durch Umsetzungen und gegebenenfalls durch Umschulung zu erreichen ist. Erst wenn diese personalpolitischen Maßnahmen nicht mehr greifen oder angesichts des Freisetzungsvolumens nicht durchführbar sind, sollte der Personalabbau in einer Form betrieben werden, die mindestens eine finanzielle Absicherung gegen die unmittelbaren sozialen und materiellen Folgen des Arbeitsplatzverlustes vorsieht. Ein "Erste-Hilfe-Programm" bieten die Regelungen des modifizierten Arbeitsför-derungsgesetzes (AFG) für das Gebiet der ehemaligen DDR, die eine Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung erlauben. Nach Paragraph 63 Abs. 5 AFG (Ost) [Seite der Druckausgabe: 12] kann bis zum 30. Juni 1991 Kurzarbeitergeld auch dann gewährt werden, wenn ein Arbeitsausfall im Zusammenhang mit der Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion entsteht. In diesem Fall wird von der ansonsten geltenden Bestimmung abgesehen, daß Kurzarbeitergeld nur dann gezahlt wird, wenn zu erwarten ist, daß dadurch den Arbeitnehmern die Arbeitsplätze und den Betrieben die eingearbeiteten Arbeitnehmer erhalten bleiben. Die Rationalisierungs- und Freisetzungsproblematik zwingt auch die Tarifparteien dazu, auf diesem Gebiet aktiv zu werden. Einzelne Tarifverträge nehmen auf die besondere Situation in den neuen Ländern spezielle Rücksicht und gelten für gewerkschaftliche Funktionsträger als beispielhaft, während die Arbeitgeber in ihrer Beurteilung zurückhaltender sind. Zu diesen, mit tarifpolitischem Konfliktstoff geladenen Verträgen muß der Tarifvertrag vom 13. Juli zwischen IG Metall und Arbeitgeberverband gerechnet werden, der in regionalen Tarifverhandlungen für Berlin/Brandenburg aufgestellt und anschließend auch für andere Länder übernommen wurde. Vertreter des WSI und der IG Metall skizzierten die wesentlichen Bestandteile dieses Tarifvertrags über Kündigungsschutz und Qualifizierung bei Umstrukturieerungsmaßnahmen. Folgende Regelungen wurden darin getroffen:
[Seite der Druckausgabe: 13]
Der Tarifvertrag endet ohne Nachwirkung am 30.6.1991. Diese Bestimmungen werden von Spitzenvertretern der Arbeitgeber nicht vorbehaltlos als Präzedenzfall und Muster für andere Branchen akzeptiert. Im Sinne einer Vorreiterrolle hebt sich der ausgebaute Kündigungsschutz von den Rationalisierungsabkommen anderer Branchen ab, die dieser Besitzstandswahrungsstrategie nicht folgen könnten, da der personalpolitische Handlungsspielraum zu weit eingeschränkt werde. Der Metalltarifvertrag ist sicher kein Langfristrezept. Für die IG Metall ist daher der Stichtag 30.06.1991, an dem die vereinbarten Kündigungsschutz - und - wenn diese nicht verlängert werden - auch die modifizierten Kurzarbeiterregelungen auslaufen, genauso wichtig wie die lohnpolitische Frühjahrsrunde 1991. Neu auszuhandeln sind dann zwischen den Tarifparteien Schutzmaßnahmen für arbeitsmarktpolitisch besonders schwache Gruppen. Auch in anderen Branchen ist zu überprüfen, inwieweit etwa Vorruhestandsmodelle Abhilfe schaffen können, die sozialen Risiken von Personalreduzierungen zu mildem und besonders ältere Arbeitnehmer zu schützen. Die Diskussion über rationalisierungsbedingte Arbeitslosigkeit zeigt, daß, wenn in Rationalisierungsschutzbestrebungen Versetzungen, Umschulungen und Weiterbildungen Priorität vor betriebsbedingten Entlassungen eingeräumt wird, der Bildungsarbeit in den neuen Ländern eine besondere Bedeutung bei der beabsichtigten sozialverträglichen Sanierung der Wirtschaft zukommt. Inwieweit kann die Tarifpolitik dazu einen Beitrag leisten? Unbestritten ist, daß in der ehemaligen DDR eine Qualifizierungsoffensive zu starten ist, die Betriebe und Tarifparteien genauso herausfordert wie staatliche Institutionen. Der o.g. Tarifvertrag für die Metallindustrie beinhaltet dazu ein wichtiges Instrument: die Einrichtung von Weiterbildungs- und Qualifizierungsausschüssen auf Betriebs- und Branchenebene. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen setzen den bildungspolitischen Aktivitäten der Unternehmen jedoch Grenzen, so daß die betrieblich initiierte Qualifizierung sicher nicht der Schwerpunkt einer Qualifizierungsoffensive bilden kann. Die Hauptlasten sind von der Bundesanstalt für Arbeit zu tragen, damit die Bewältigung der bildungspolitischen Herausforderungen nicht von vorneherein an der ökonomischen Instabilität der Unternehmen scheitert oder daran, daß Sozialeinrichtungen und Ausbildungsstätten die von den früheren Kombinaten betrieben wurden geschlossen oder in ihrem Tätigkeitsspektrum stark eingeschränkt sind. Ob die Bundesanstalt für Arbeit Hauptträger der Qualifizierungsoffensive insgesamt sein kann und muß, diese Frage wird sicher noch Diskussionsbedarf erzeugen, denn dann wären akzeptable [Seite der Druckausgabe: 14] Konzepte zu entwickeln, wie die Bundesanstalt in die Lage versetzt werden kann, die Finanzmittel für das anstehende Aus- und Weiterbildungsvolumen aufzubringen. Ein bildungspolitischer Konsens zeichnet sich hier noch nicht ab. Selbst wenn die betrieblich organisierte Qualifizierung nicht im Vordergrund steht, können sich die Unternehmen der Aufgabe nicht entziehen, zur Deckung des Qualifikationsbedarfs beizutragen. Weniger Kontroversen löst die Zielvorgabe aus, daß mittelfristig eine Entwicklung wie in den westdeutschen Betrieben einsetzen sollte, die nicht unerhebliche Mittel für die Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten als Investitionen in die Zukunft aufbringen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist die Lösung konzeptionell-qualifikationspolitischer Fragestellungen im Rahmen von Qualifizierungsausschüssen und Qualifizierungsgesellschaften. In der Gründungsphase kommt den Tarifparteien die Aufgabe zu, für eine strafte Organisation der Aktivitäten Sorge zu tragen. So baut inzwischen die IG Metall eine eigenständige Infrastruktur auf. Bereits Anfang 1991 werden in den neuen Ländern flächendeckend 15 Qualifizierungssachverständige eingesetzt, die der Gründung von Qualifizierungsgesellschaften beratend zur Seite stehen. Im Anschluß daran wird die Problemstellung in den Vordergrund rücken, welche Zielgruppen angesprochen werden müssen, um Chancen auf inner- und außerbetrieblichen Arbeitsmärkten zu verbessern. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hofft, daß in den neuen Ländern eine Qualifizierung nach dem Gießkannenprinzip vermieden werden kann, die etwa durch Regelungen über den allgemeinen Anspruch auf Bildungsurlaub in den alten Ländern eingesetzt habe. Den Qualifizierungsmaßnahmen soll ein Trichter vorgeschaltet werden, mit dem die individuelle Bildungswilligkeit und
Die Tarifparteien sind in der Diskussion über qualifikationspolitische Optionen offenkundig noch nicht aus der Phase heraus, in der zwar vermeintliche Fehlentwicklungen in den alten Ländern je nach Standpunkt aufgearbeitet worden sind, jedoch eine schlüssige Bildungsarbeit für die neuen Länder noch in den Kinderschuhen steckt. Gerade diese wird aber von Ost-Arbeitnehmern eingeklagt, für die die aktuelle Qualifizierung in Modeberufen der Boombranchen nur eine zeitlich und personell begrenzte Abhilfe schafft. Dieser Aktivismus ohne wirkliche Strategie kann mittelfristig durchaus zu Rückschlägen und zu neuen arbeitsmarktpolitischen Problemlagen führen. Auch solche Entwicklungen sind von den alten Ländern her bekannt. Ganz offensichtlich herrscht zur Zeit nur über die Grundrichtung Klarheit, die verfolgt werden soll: Umschulungen für branchentypische Berufe aus Schrumpfungsbranchen, Fortbildung für Arbeitskräfte aus zukunftsträchtigen Branchen, wobei diese Umschulungs- und Fortbildungsaktivitäten häufig inhaltlich deckungsgleich sind. Sichtbar wird allenfalls noch die berufspädagogische Folie, daß Qualifizierung auf der Ausbildung der Ost-Arbeitnehmer aufbauen sollte, indem Berufsbilder und Qualifikationsinhalte aktualisiert und den neuen technologischen, betriebs- und marktwirtschaftlichen Anforderungen angepaßt werden. [Seite der Druckausgabe: 15] Eine rasche Entwicklung eines Katalogs von Qualifizierungszielen und Maßnahmen würde sicher auch dazu beitragen, mentale Barrieren bei den Ost-Arbeitnehmern abzubauen, die sich sowohl aus eingeschliffenen Verhaltensmustern als auch aus aktuellen Ängsten um die persönlichen Arbeitskarriere aufgebaut haben. Dabei wäre z.B. an folgende kognitive Schwierigkeiten zu denken, die bei den Qualifizierungsanstrengungen nicht ausgeklammert werden dürfen:
Unterm Strich legte der Tagungsdiskurs offen, daß die tarifvertragliche Fixierung der Qualifizierungsinstrumente eine wesentliche Gestaltungsaufgabe ist, an die wohl überlegt herangegangen werden muß, denn die Anforderungen, die an sie gestellt werden, sind äußerst vielschichtig.
1.2.3 Andere Handlungsfelder
Die oberen Ränge der tarifpolitischen Prioritätsskala werden von Entgelt- und Rationalisierungsschutzvereinbarungen besetzt. Wenngleich sie die aktuelle Diskussion dominieren, richtet sich das Augenmerk der Tarifparteien dennoch auf weitere Regelungsnotwendigkeiten. Der Disput galt zwei Themen: Arbeitszeitregelungen und Aspekten qualitativer Tarifpolitik. Der Weg zur Arbeitszeitverkürzung ist bereits beschritten worden. Die normale Wochenarbeitszeit betrug in der DDR 43 2/3 Std. Diese Arbeitszeitvorschrift war für ca. 75 v.H. der Beschäftigten wirksam. Davon abweichende Regelungen galten für spezielle Personengruppen wie Jugendliche, Beschäftigte im Schichtbetrieb und für Frauen aus kinderreichen Familien. Diese Beschäftigtensegmente konnten schon in der DDR in den Genuß von kürzeren Arbeitszeiten bis hinunter zur 40 Std. Marke gelangen. Eine Bilanz der bislang tarifierten Verkürzungen der Wochenarbeitszeiten in den neuen Ländern zeigt, daß die Vereinbarungen in der Mehrzahl tarifliche Wochenarbeitszeiten zwischen 40 und 42 Stunden vorsehen. Diese Arbeitszeitverkürzungen waren Ende 1990 z.T. schon wirksam, oder treten stufenweise bis Ende 1991 in Kraft. Darüber hinaus liegt der Grundurlaub für die Mehrheit der Beschäftig [Seite der Druckausgabe: 16] ten zwischen 20 und 28 Tagen pro Jahr, für einen kleinen Teil der Arbeitnehmer wurde ein Urlaubsanspruch von 30 Tagen gemäß der gängigen Regelung in der alten Bundesrepublik vereinbart. Im Grundsatz sind sich die Tarifparteien einig, daß Arbeitszeiten nicht in einem großen Wurf auf West-Niveau herabgesetzt werden können, um den gesunden, wettbewerbsfähigen Betrieben und Branchen Gestaltungsspielräume zu belassen. Verschieden sind - wie im Westen seit Jahren bekannt - die inhaltlichen Argumentationsmuster in der Frage, in welchem Tempo die Arbeitszeiten in den neuen Ländern zu verkürzen sind. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat dazu eine klare Position erarbeitet: Demnach ist mittelfristig als untere Grenze die 40 Std.-Woche anzusehen; auf diese Marge könnten sich Tarifvereinbarungen in kleinen Schritten zubewegen. Diese eingegrenzte und abgestufte Arbeitszeitverkürzung erhalte ein adäquates Arbeitszeitvolumen, das vor allem der Produktivität der Betriebe zu Gute komme, sich aber gleichzeitig auch im Einkommen der Beschäftigten niederschlage. Ein solches Konzept ruft bei den Gewerkschaften Widerspruch hervor. Der Einkommensanhebung bei den Besitzern eines - vollwertigen - Arbeitsplatzes stehen Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit der Rationalisierungsverlierer gegenüber, so daß Vertreter der Gewerkschaften nicht nur aus Gründen der Lebensqualität, sondern insbesondere mit Blick auf beschäftigungspolitische Ziele zügigere Arbeitszeitverkürzungen als die Arbeitgeber anstreben. Arbeitszeitverkürzungen werden mit der Erwartung verknüpft, die Arbeitsplatzsicherung für eine breitere Schicht von Arbeitnehmern zu fördern und gleichzeitig zukunftsträchtige Arbeitsplätze neu zu schaffen. Die Gewerkschaften erheben mit dem Mittel der Arbeitszeitverkürzung den Anspruch, durch Tarifpolitik beschäftigungspolitische Sicherungen in die ökonomische Sanierung des Osten Deutschlands einzubauen. Zukunftsmusik ist in den neuen Ländern noch die tarifpolitische Behandlung der Arbeitsvollzüge durch Arbeitsorganisations- und Gestaltungsvorschriften, die die Logik der Rationalisierungsprozesse selbst beeinflussen. Diese Ummünzung der Tarifpolitik ist selbst in den alten Bundesländern allenfalls in Ansätzen gelungen; ihr Charakter ist im allgemeinen eher defensiv, indem auf die Bewältigung der Risiken und negativen Folgeerscheinungen der technisch-organisatorischen Rationalisierung abgestellt wird, weniger jedoch auf die offensive, tarifpolitische Mitgestaltung der Bedingungen, unter denen die Beschäftigten zu arbeiten haben. Dennoch: Wie ein Vertreter der IG Metall betont, sollten trotz der entgeltpolitischen Anstrengungen derartige Aspekte nicht gänzlich ins Hintertreffen geraten. Im Zuge der Umstrukturierung ehemaliger DDR-Betriebe rücken Veränderungen der Arbeitsorganisation immer mehr ins Zentrum der Unternehmenspolitik. Diese technisch-organisatorische Modernisierung tarifpolitisch zu flankieren würde bedeuten, [Seite der Druckausgabe: 17] Tarifvereinbarungen über die arbeitsorganisatorischen Grundsätze betrieblicher Modernisierungspolitik zu treffen und Organisationsprinzipien außerbetrieblich vorzustrukturieren, mithin Maßstäbe für arbeitsorganisatorische und technologische Innovationen festzulegen. Den Hintergrund für die einsetzende Diskussion über Organisationsmethoden und aufzustellende Richtlinien geben nicht zuletzt industriesoziologische Studien ab, die Indizien für ein durchaus problematisches Szenario gefunden haben, in dem sich die Entwicklung in Ostdeutschland von den industriellen Reorganisationsprozessen im Westen abkoppelt. Dies erfolgt in denjenigen Fällen, in denen eine rigide Arbeitsteilung und Arbeitszergliederung in ostdeutschen Betrieben einsetzt, während sich im Westen auf der Basis moderner Produktionskonzepte die Aussichten verbessern, daß den Beschäftigten mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Freiräume im Arbeitsvollzug zugestanden werden. Davon aufgeschreckt, werden erste Überlegungen zu gewerkschaftlichen Forderungen angestellt, um diesen Organisationsprozeß aufzuhalten. Sollte sich die Diskussion in der Tat intensivieren, müßte etwa der Entwurf eines qualitativen Tarifvertrag über Führungsgrundsätze das perspektivische Ziel sein. Offen bleibt in diesem Zusammenhang, ob ein solches Vorgehen als tarifpolitischer Brennpunkt in den Belegschaften anerkannt wird und ausreichend Unterstützung findet. Die Zukunft muß erst beweisen, ob es sich dabei um einen Nebenkriegsschauplatz handelt. Die Arbeitgeberseite ist jedenfalls der Ansicht, diese arbeitspolitischen Befürchtungen entkräften zu können. Unternehmenspolitisch bestehe kein Anlaß zu der Vermutung, daß die ehemaligen DDR-Betriebe den gesamten industriellen Modernisierungsprozeß des Westen durchlaufen. Sie werden zu Modernisierungssprüngen nicht nur fähig sein, sondern sind aus Gründen des Wettbewerbs geradezu gezwungen, moderne Produktionsmethoden nach westlichem Vorbild zu etablieren, die nicht auf einer strikten Arbeitszergliederung bzw. -teilung mit ihren negativen Begleiterscheinungen beruhen. Diese Modernisierungsfolgenabschätzung beläßt allerdings im unklaren, ob zeitgemäße Produktionskonzepte möglicherweise nur neu gegründete Unternehmen mit hohem technologischen Innovationsniveau durchdringen, während sie bei der Sanierung alter Betriebe allenfalls partiell greifen, die den Modernisierungsprozeß aufgrund der hohen Investitionskosten in kleinen Abstufungen vollziehen. Dann könnten qualitative Gestaltungsansätze ihre Berechtigung finden, auch wenn sie am Ende der tarifpolitischen Agenda stehen.
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