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3. Tarifpolitik Im Zielkonflikt

Die Bilanz der Tarifabschlüsse und die diskutierten Berichte aus der Praxis zeigten, daß der Verteilungskonflikt durch eine außen- und eine binnenzentrierte Problemdimension gekennzeichnet ist. Innerhalb der neuen Länder nimmt er die Gestalt eines Zielkonflikts zwischen den Tarifparteien an, wobei die Organisationen in Abhängigkeit von ihrem Interessenvertretungsauftrag unterschiedliche konzeptionelle Linien verfolgen, die im Meinungsaustausch zwischen den Vertretern beider Seiten erkennbar wurden.

In der ehemaligen DDR ist eine starke Überlappung von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gestaltungsvorstellungen in den Grundzügen der Tarifpolitik zu beobachten, so daß die Tarifparteien einen konfliktträchtigen Austauschprozeß bewältigen müssen, um eine ökonomisch und gesellschaftlich akzeptable Schnittmenge in den Tarifverhandlungen zu finden. Die offenkundigen Sachzwänge wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, des Arbeitsmarktes und der Soziallage der Bevölkerung verdichten sich zu einem Dickicht von Faktoren, das tarifpolitisch zu entzerren und zielgerichtet zu beeinflussen ist. In Presse und Öffentlichkeit schält sich inzwischen das Bild heraus, daß die Ungewisse sozio-ökonomische Entwicklung viele Regelungen, die von den Tarifparteien getroffen werden, zu einem tarifpolitischen Blindflug macht. Betriebliche Umsetzungsprobleme, exemplarisch aufgezeigt im EVU, unterstreichen diese Etikettierung.

Dennoch kommt die Tarifpolitik in den neuen Ländern nicht daran vorbei, in mehrfacher Hinsicht Signale zu setzen:

  • Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Betriebe bleiben nicht unberührt von den einzukalkulierenden Arbeitskosten, deren Höhe durch die erzielten Tarifabschlüsse fixiert wird.

  • Die Sanierungs- und Modernisierungsstufen innerhalb der Branchen wie zwischen ihnen weisen hohe Divergenzen auf, die zu einer unterschiedlichen Produktivitätsentwicklung und zu einer Differenzierung der Einkommens- und Lebenslage der Beschäftigten führen.

  • Diese Differenzierung erzeugt unterschiedliche Betroffenheitsgrade bei den Beschäftigten und soziale Folgeerscheinungen. Herausragendes Problem ist der beständige Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Prognosen zufolge im Jahr 1991 Millionenhöhe erreichen wird. Hinzu kommt ein Kurzarbeiterheer von 1,5 Millionen Menschen. Angesichts dieser Daten besteht die arbeits-marktpolitische Gefahr, daß besonders die leistungsfähige Generation in den

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    Westen abwandert und Regionen in ihrem Arbeitskräftepotential ausbluten. Allein für das Land Sachsen kursieren Zahlen von 10.000 Abwanderungen pro Monat.

Die Tarifpolitik kann diesen Berg von Problemen nicht allein abtragen, besonders dann nicht, wenn ihre Ziele mit den übrigen Rahmenbedingungen nicht in Einklang zu bringen sind. Das mag ein Beispiel verdeutlichen.

Zunehmend gehen den ehemaligen DDR-Betrieben die osteuropäischen Märkte verloren, so daß zu der Anpassung an westliche Technologiestandards, Produktionsmethoden und marktwirtschaftliche Absatzzwänge der Bruch mit wichtigen Handelspartnern hinzukommt, denn die DDR wickelte bekanntlich den größten Teil ihres Außenhandels im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ab. Viele Verträge liefen zum 1.01.1991 aus und der RGW stellte seinen Handel auf Weltmarktpreise um. Wenn, wie gewerkschaftliche Experten mit Nachdruck betonen, die aktuelle Regierungspolitik allerdings darauf hinausläuft, die Stützung des Ost-Europa-Export aus den neuen Ländern auf ein Maß zurückzufahren, auf dem er vollends zusammenzubrechen droht, besteht das Risiko einer strukturpolitischen Entscheidung zuungunsten des Industriestandorts Ostdeutschland, der allmählich seine Absatzmärkte verliert.

Nicht zuletzt Absatzschwierigkeiten dieser Art leiten zum Problem der Produktivität von Betrieben über und zu der umstrittenen Beurteilung, inwieweit die Produktivitätsentwicklung der Unternehmen und Branchen Maßstab für die Tarifpolitik sein kann oder muß. Der Dialog zwischen den Tarifparteien ist problemgeladen. Unbeantwortet und strittig ist die Frage, welche Verteilungsmöglichkeiten angesichts der Wirtschaftslage existieren und in welchem Zeitraum unter den schwer prognostizierbaren konjunkturellen Bedingungen die Lohn- und Gehaltsangleichung zwischen Ost und West vollzogen werden kann.

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3.1 Die Intention der Arbeitgeber

Arbeitgebervertreter gestehen nicht viel anders als Gewerkschafter, daß sich die tarifpolitische Trendsetzung im Osten Deutschlands auf einem schmalen Pfad zwischen wirtschaftlicher Rationalität, politischer Vernunft und gesellschaftlicher Akzeptanz bewegt. Die Arbeitgeberseite zieht sich in diesem Kontext auf ein produktivitätsorientiertes Vorgehen zurück, insbesondere bei der Lohn- und Gehaltspolitik. Zu dieser Produktivitätsorientierung werden mittelfristig wenig Alternativen gesehen. In den fünf neuen Ländern sollte als Grundprinzip für die Tarifpolitik gelten, daß sich die Entwicklung der Löhne und Gehälter, aber auch der allgemeinen Arbeitsbedingungen nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Betriebe und Wirtschaftsbereiche zu richten hat.

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Die Produktivität wird zur Meßlatte der Tarifnormen. Produktivitätskriterien sind Orientierungshilfen und zeichnen die Marschroute der Tarifpolitik vor, die nach der Positionsbestimmung von Arbeitgebervertretern einzuschlagen ist. Die Stoßrichtung des Ansatzes läuft für die neuen Länder darauf hinaus, daß einerseits die Einkommen der Marktentwicklung und der Entwicklung des Sozialprodukts nicht vorauseilen dürfen, und andererseits aber die allgemeine, d.h. gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung nur bedingt als Bezugsgröße der Tarifpolitik gewählt werden kann, an der sich die Zuwachsraten in Löhnen und Gehältern und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen orientieren. Würde die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zum allgemeinen Maßstab genommen, müßte z.B. der florierende Dienstleistungsbereich mit eingeschlossen werden, wodurch für andere Branchen unverhältnismäßig hohe Tarifschwellen entstehen.

Wie kann im Rahmen der Tarifpolitik die betriebliche Leistungsfähigkeit in den Vordergrund gestellt worden? Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände empfiehlt ihrer Klientel eine behutsame Gangart, mit der die schwierige Gratwanderung in den neuen Ländern beschritten werden kann. Im Zentrum der Strategie steht die übertarifliche Differenzierung. Die Vermeidung einer betriebsnahen Tarifpolitik und mithin die instrumentelle Akzentuierung des Flächentarifvertrages darf in der Praxis nicht bedeuten, daß den Betrieben Flexibilität in der Gestaltung von Arbeitskosten genommen wird. Im Gegenteil: In Flächentarifverträgen sind nach der Intention privater Arbeitgeber wie in der westlichen Praxis tarifliche Mindestbedingungen aufzustellen, die in Abhängigkeit von der Ertragslage bzw. einzelbetrieblichen Produktivität diversifiziert (nach oben) verändert werden können. Nach diesem Muster baut sich auf den flächendeckenden Tarifverträgen ein differenziertes, übertarifliches Lohn- und Gehaltsniveau auf, was voraussetzt, daß die zu verabschiedenden Flächentarifverträge in den neuen Ländern auf möglichst niedrigem Ausgangslevel gehalten werden und die Arbeitgeber nicht über bestimmte Verhandlungsmargen hinausgehen.

Die Arbeitgeberseite erkennt durchaus an, daß durch die Schaffung der Differenzierungsgrundlagen und den schrittweisen Anstieg des Allgemeinlohnniveaus nach der betrieblichen Leistungsfähigkeit zwar ein Stück weit vom westdeutschen System abgewichen wird; mögliche Einwände der Gewerkschaften könnten aber mit dem Hinweis entkräftet werden, daß dieser Differenzierungsansatz nur für eine begrenzte Übergangszeit gültig ist.

Bei dem Konzept scheinen organisationspolitische Handlungszwänge durch, denen die Arbeitgeberverbände, wie auch die Gewerkschaften in den neuen Ländern ausgesetzt sind. In einigen Fällen zeichnet sich bereits ab, daß eine Reihe von ostdeutschen Unternehmen nicht oder nur zögerlich Mitglied in einem Arbeitgeberverband werden, da sie vor tarifvertraglich festgelegten Arbeitsbedingungen zurückschrecken. Sie wollen sie umgehen. Besonders Klein- und Mittelbetriebe artikulieren arbeitskostenbezogene Ängste. Dieser Trend ist, wenn er anhält und sich zuspitzt, auch für

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die Gewerkschaften mittelfristig kontraproduktiv, da die Beschäftigten in nicht-tarifgebundenen Betrieben Rechtsansprüche auf die tarifvertraglich garantierten Mindestarbeitsbedingungen verlieren. Zudem wird in diesen Betrieben in der Regel die gewerkschaftliche Interessenvertretungsarbeit (Vertrauensleute) stark behindert - dieser Umstand ist vom Westen her bekannt - die in den neuen Ländern ohnehin noch kaum funktionsfähig ist.

Die Produktivitätsorientierung als Kalkulationsgrundlage für die Betriebe bedingt -die Konsensfähigkeit des Konzepts einmal unterstellt - ebenfalls Konsequenzen für die Laufzeiten von Tarifverträgen. Für den sozialpolitischen Spitzenverband der Arbeitgeber sind Tarifverträge mit sehr kurzen Laufzeiten, die das Tarifgeschehen des Jahres '90 prägten, kein Modell für die Zukunft. Sie bieten den Betrieben keine Kostensicherheit dort, wo eigentlich die Herstellung transparenter und überschaubarer Lohn- und Gehaltsstrukturen sowie sonstiger Arbeitsbedingungen dringend erforderlich wäre. Die Laufzeiten von Tarifverträgen wirklichkeitsgetreu abzuschätzen ist in den neuen Ländern angesichts der raschen Umwälzungen kein leichtes Unterfangen, da in Betracht zu ziehen ist, daß Tarifverträge durch zu lange oder zu kurze Laufzeiten Makulatur werden. Arbeitgebervertreter empfehlen aus diesem Grund Laufzeiten bis zu zwei Jahren, die sowohl zur Standardisierung der Tariflandschaft und zur generellen Ordnungsfunktion der Tarifpolitik beitragen, als auch die erforderliche Flexibilität bei der Gestaltung von Löhnen und Gehältern hinreichend gewährleisten. Die zeitlich begrenzte Strategie der übertariflichen Differenzierung verbietet dann allerdings Öffnungsklauseln in Tarifverträgen einzusetzen, mit denen es möglich wird, bereits kurz nach Inkrafttreten von Tarifverträgen wieder Lohn- und Gehaltsverhandlungen zu führen.

Unterm Strich ist die Argumentation der Arbeitgeberseite durch den Versuch gekennzeichnet, in den neuen Ländern ein günstiges Investitionsklima zu schaffen. Die konzeptionellen Überlegungen berücksichtigen die Erwartungshaltung potentieller West-Investoren, denen im Osten Deutschlands ein attraktiver Markt mit Kostenvorteilen auch von der Lohn- und Gehaltsseite her offeriert werden soll. Die übertarifliche Differenzierung, genauso wie die erhoffte Zurückhaltung bei den Zusatz- bzw. Lohnnebenkosten sollen dazu beitragen und gleichzeitig einer übereilten Tarifpolitik entgegenwirken, die die Entwicklung der Arbeitseinkommen und Arbeitsbedingungen unter politisch-gesellschaftlichem Handlungsdruck Richtung West-Niveau treibt. Heraufbeschworen wird ansonsten die Gefahr eines Wegtarifierens von Arbeitsplätzen. Entgegen der weitverbreiteten Auffassung ist aus dieser Perspektive eine politisch begründete Angleichungskomponente in den Zuwachsraten nicht in jedem Fall ein fundiertes Argument für hohe Tarifabschlüsse, etwa um die Abwanderungsquote von Ost nach West zu senken. Eher wird auf die Marktfähigkeit der Produkte gesetzt, die durch die Preise der Produktionsfaktoren mit bestimmt wird. Zu diesen gehören die Arbeitskosten. In der Folge sind Arbeitgeberorganisationen durchaus geneigt, die Tarifabschlüsse des Sommers '90 bereits als Vorleistung auf die Produktivitätsentwicklung und als politisch konditionierte

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Tarifabschlüsse auszuweisen, die nunmehr einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik weichen müssen.

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3.2 Die gewerkschaftliche Diskussion

Das produktivitätsorientierte, übertarifliche Differenzierungskonzept der Arbeitgeber stößt bei den Gewerkschaften auf ein geteiltes Echo. Gewerkschafter gelangen zu einer davon abweichenden Beantwortung der Grundsatzfrage, welches Tarifprinzip die Ausgangsbasis für Tarifverhandlungen angesichts der Instabilität der neuen Länder abgeben kann. Die Ertragslage der Betriebe und Branchen sollte Richtschnur für die Tarifpolitik in den neuen Ländern sein. Das wird von den Gewerkschaften nicht angezweifelt und sie können darauf verweisen, daß schon die ersten Lohn- und Gehaltsrunden gezeigt haben, wie die jeweilige wirtschaftliche Situation in Rechnung gestellt wird, denn für die einzelnen Branchen wurden differenzierte Abschlüsse vereinbart. Aus gewerkschaftlicher Sicht sollte jedoch überprüft werden, ob die Orientierung an der Produktivitätsentwicklung in den neuen Ländern in jedem Fall begrifflich wie inhaltlich stichhaltig genug ist, um als tarifpolitisches Barometer zu dienen.

Eine Reihe von gewichtigen Argumenten sind gegen die Produktivitätsdiskussion ins Feld zu führen, die den Stellenwert der Debatte relativieren und aufzuzeigen versuchen, daß eine ökonomisch begründete Strategie allein genommen zu kurz greift. Das Beispiel des öffentlichen Dienstes zeigt, daß der Produktivitätsbegriff als solcher häufig nicht tragfähig ist, da es methodische Schwierigkeiten bereitet, Produktivitätssteigerungen korrekt zu bestimmen. Darüber hinaus liefert der tertiäre Sektor in den neuen Ländern Anschauungsmaterial für einen gegenläufigen Trend. Auf diesen wies ein Sprecher des WSI hin. In der Versicherungsbranche etwa wurden schon sehr früh Löhne und Gehälter gezahlt, die sich auf das West-Niveau zu bewegen, um hier und heute Marktanteile auf dem Versicherungsmarkt zu erobern, obwohl die - zwar sehr günstige - wirtschaftliche Entwicklung mehr Zurückhaltung bei den Lohn- und Gehaltsabschlüssen gebieten könnte. Mit anderen Worten: Plausibilitätsgründe sprechen ebenso dafür, daß zunächst überhöht anmutende Lohn- und Gehaltszahlungen, die nicht unbedingt dem Produktivitätsniveau der Branchen entsprechen, Investitionen in die Zukunft sind.

Das gilt zur Vorbeugung gegen weitere Ost-West-Abwanderungen in besonderer Weise für die neuen Länder. Eine produktivitätsorientierte Standortbestimmung der Tarifpolitik läßt die gesellschaftlichen Folgekosten außer acht, die entstehen, falls die Abwanderungswelle nicht in absehbarer Zeit verebbt. Gewerkschafter bleiben nach wie vor skeptisch, ob mit dem gelichteten Arbeitskräftepotential die Sanierung der Betriebe effizient durchgeführt werden kann. Im Aufbau der Industrien kommt erschwerend hinzu, daß Betriebe mit langsamem Modernisierungstempo Sogeffekten innerhalb der neuen Länder nicht Paroli bieten können. Eine solche Entwicklung wird einsetzen, wenn etwa die neuen Automobilwerke, die sehr schnell westliches Pro-

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duktivitätsniveau erreichen werden, Arbeitskräfte aus allen Berufen und Branchen anziehen. Ähnliche Erfahrungen konnten in den frühen Jahren der alten Bundesrepublik gemacht werden. Diese Umschichtung geht zu Lasten wirtschaftlich schwächerer Betriebe und kann nicht über die Preise der Produktionsfaktoren aufgefangen werden.

Wenn die ökonomischen Waagschalen hier zu ungleich ausschlagen, raten gewerkschaftliche Experten, auch kreislauftheoretische Überlegungen in die Diskussion zu bringen. Künftige Lohn- und Gehaltsabschlüsse, deren Steigerungsraten nicht immer der betrieblichen Ertragslage entsprechen müssen, könnten aber den positiven Effekt haben, einem Nachfrageverfall gegenzusteuern. Der tarifpolitisch unterstützte Versuch, die Nachfrage aufrechtzuerhalten, scheint durchaus nicht zu gewagt, denn wenn steigende Lebenshaltungskosten durch die Tarifabschlüsse wenigstens partiell abgefangen werden, könnte die Lücke etwa bis zum Greifen von Beschäftigungs- und Investitionsförderungsprogrammen überbrückt werden.

Mannigfaltig sind die vorgetragenen Gründe, aus denen heraus die Gewerkschaften nicht unbedingt das tarifpolitische Verständnis der Arbeitgeberorganisationen teilen, die für die neuen Länder ein zu betriebswirtschaftlich bestimmtes Szenario mittelfristiger Tarifpolitik entwerfen. Die Zielkonflikte wurden in der Diskussion transparent. Besonders mit Blick auf die Perspektive einer Tarifunion wird unterstrichen, weshalb sich Gewerkschaftsvertreter nicht uneingeschränkt auf eine produktivitätsbestimmte Tarifpolitik einlassen wollen: als zusätzliches Argument für politisch begründete Tarifabschlüsse kann geltend gemacht werden, daß sie nicht die soziale Spaltung der beiden Teile Deutschlands zementieren dürfen, oder im ungünstigsten Fall, wie bei einer ausschließlich produktivitätsorientierten Tarifpolitik, deren weitere Vertiefung bewirken.

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3.3 Der Zwang zum Kompromiß

Bei den vorgetragenen Positionen und Argumentationen von Spitzenvertretern der Tarifparteien bleibt zu hinterfragen, ob hier nicht Scheingefechte ausgetragen werden, die in der Praxis von Tarifverhandlungen im Osten nur bedingt zum Tragen kommen.

Die Diskussion um produktivitäts- oder nicht produktivitätsorientierte Tarifpolitik ist eine interessenorientierte Extremwertbetrachtung, deren Einfluß auf die tarifpolitischen Entwicklungstrends in den neuen Ländern nicht überschätzt werden sollte. Die bisherigen Tarifabschlüsse belegen vielmehr, wie sich Tarifpolitik in den neuen Ländern auf eine Mixtur aus produktivitätsgestützten, bedarfsorientierten und sozialpolitisch begründeten Lohn- und Gehaltssteigerungen wie Vereinbarungen über sonstige Arbeitsbedingungen zubewegt. Bei den Tarifverhandlungen Ost stehen auch gesellschaftliche Zielvorgaben Pate, denn eine Streckung des Angleichungsprozesses über Jahre hinweg wird politisch nicht durchzuhalten sein.

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Die Tarifparteien folgen trotz konträrer Standpunkte implizit der Prämisse, die Bedingungen für den Abbau sozio-ökonomischer Disparitäten zwischen den alten und neuen Ländern zu verändern. In Tarifverhandlungen besteht die Schwierigkeit, zu prognostizieren, inwieweit der Verteilungsspielraum eine Abkoppelung von der Produktivitätsentwicklung zuläßt. Träger von tarifpolitischer Verantwortung aus den neuen Ländern schlagen daher vor, daß auch künftige tarifliche Regelungen zeitliche Abstufungen und Verteilungen vorsehen müssen, mit denen sowohl auf die Ertragsfähigkeit der Betriebe als auch auf die steigenden Lebenshaltungskosten und ar-beitsmarktpolitischen Konstellationen reagiert werden kann. Die Tarifparteien müssen sich der Aufgabe stellen, die verzweigten Verteilungskonflikte in kompromißfähige Tarifnormen umzusetzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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