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1902

Die Wirtschaftskrise dauert an. Nach der Elektrizitäts- und der Holzindustrie sowie dem Baugewerbe ist nun auch der Bergbau und die Maschinenindustrie betroffen. Die Frage einer gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenversicherung rückt neben der Zollfrage in den Mittelpunkt der sozialpolitischen Diskussion.

In seinem Buch "Die Arbeiterfrage" stellt Heinrich Herkner fest, daß die Mechanisierung und Technisierung der Produktion den Industriearbeiter degradiere zum "Diener der Maschine", die ihm "jede Möglichkeit individueller Gestaltung" raubt; dem Maschinenarbeiter bleibe oft die Bedeutung seiner Einzelverrichtung im Porduktionsprozeß unbekannt, die ständig monotone Wiederholung ein und desselben Handgriffs stumpft ihn ab, macht ihn "willenlos, gedankenlos, kraftlos".
Andererseits beschleunigen Mechanisierung und arbeitsteilige Spezialisierung den Abbau von Berufsstolz, von Herkunfts- und Standesunterschieden. Der maschinelle Produktionsprozeß erzeugt im einzelnen Arbeiter ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit seinem Arbeitskollegen, der den gleichen Zwängen ausgesetzt ist. Der Fabrikbetrieb wird für die Industriearbeiter zu einer "Musterschule der Solidarität".

Die Statistiken der Generalkommission werden durch Vergleiche zwischen gewerkschaftlichen und amtlichen Streikstatistiken ergänzt.

Ein Jahr nach den großen Streikbewegungen im Jahre 1901 verlangen die Berliner Schuhfabrikanten, die gleichzeitig den Arbeitsnachweis in ihren Händen haben, von den Arbeitern eine schriftliche Erklärung, keine Zahlung mehr an ihren gewerkschaftlichen Verband zu leisten. Gegen tausend Betroffene weigern sich, eine derartige Unterschrift zu leisten. Daraufhin sperren die Unternehmer die Arbeiter aus. Nach fünfwöchigem Kampf sehen sich die Fabrikanten genötigt, den Revers zurückzuziehen.

Das Reichstagsgericht erkennt die Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes als rechtmäßig an.

Von 222 befragten Städten in Preußen haben 144 paritätisch besetzte Arbeitsnachweisbüros eingerichtet.
1906 spricht sich der Städtetag in Hannover für die allgemeine Einführung der paritätischen Arbeitsnachweise aus.

Der christliche Gewerkverein der Heimarbeiterinnen beschließt auf seinem ersten Verbandstag folgende Forderungen: Ausdehnung der Invaliden- und Krankenversicherung; Hinterbliebenenversicherung; Einführung von Lohnbüchern, behördliche Listenführung, Wohnungsinspektion, Ausdehnung der Gewerbeinspektion mit weiblicher Aufsicht, Verbot der Mitgabe von Hausarbeit an Werkstattarbeiterinnen und Förderung von Tarifverträgen.

Für die polnischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet wird eine "Polnische Berufsvereinigung" gegründet, die katholisch und nationalpolnisch orientiert ist und innerhalb von 10 Jahren 51.000 Mitglieder gewinnt.

Eine Verordnung des Bundesrates löst den Arbeiterschutz in Gast- und Schankwirtschaften nur unzulänglich.

Der Anteil der ungelernten und angelernten (Bohrer, Fräser, Hobler, Stanzer u.a.) Mitglieder an der Gesamtmitgliederzahl im Metallarbeiterverband beträgt 10,9%. Er steigt 1906 auf 16,2% und erreicht 1913 18,6%.

Januar 1902

In einem Aufsatz in den "Sozialistischen Monatsheften" über "Tarifgemeinschaften" begründet C. Legien die Notwendigkeit von Tarifabschlüssen ausdrücklich mit den Erfahrungen im Buchdruckergewerbe und verweist auf die positive organisatorische Entwicklung des Buchdruckerverbandes und auf das gut ausgebaute tarifliche Einigungswesen seit dem Tarifabschluß 1896. C. Legien weist darauf hin, daß Tarifverträge "eine ständig fortschreitende Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen" erwarten lassen, daß während der Laufzeit der Verträge die Kräfte der Gewerkschaften geschont werden und daß durch Tarifverträge generell eine "Anerkennung des Mitspracherechtes der Arbeiter bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen" gegeben ist.

1. Januar 1902

Ein neuer Tarifvertrag der Buchdrucker tritt in Kraft. Neben einigen Lohnverbesserungen - der bisher einheitliche Mindestlohn wird nach Altersklassen unterteilt - werden Kreisämter eingerichtet, die vor allem die nach den Lebenshaltungskosten zu berechnenden Lokalzuschläge festzusetzen haben. Diesen Kreisämtern werden die paritätischen Arbeitsnachweise unterstellt. Kein Unternehmer ist berechtigt, von den Gehilfen Hausarbeit zu verlangen. Die Beschäftigung an Schnellpressen und Rotationsmaschinen als Maschinenmeister oder Drucker soll nur gelernten Buchdruckern zustehen.
Für die Arbeit an den Setzmaschinen werden tarifliche Normen eingeführt.

26./30. Januar 1902

Die Generalversammlung des Verbandes der Hafenarbeiter in Hamburg beauftragt den Vorstand, "gelegenthlich mit den Zentralvorständen anderer am Waarentransport betheiligten Verbände eine engere Verbindung und ein gemeinsames Arbeiten in organisatorischen und agitatorischen Fragen, unter Berücksichtigung vollster Bewegungsfreiheit der in Betracht kommenden Organisationen anzubahnen".
Für eine bessere Agitation sollen Bezirke gebildet werden, deren Leiter erforderlichenfalls zu besolden sind.
Streiks müssen vom Vorstand genehmigt werden. Die Generalversammlung bejaht die Frage, daß die Hafenarbeiter zu den gewerblichen Arbeitern zu zählen sind.
Die Reichsregierung soll eine gesetzliche Minimalruhezeit für die im Hafenbetrieb beschäftigten Arbeiter einführen. In allen Hafenstädten sollen Hafeninspektoren angestellt werden.

2. Februar 1902

Die Generalversammlung des christlichen Bergarbeiterverbandes in Eickel verlangt eine durchgreifende Berggesetzreform.

10. Februar / 7. März 1902

In Greiz streiken rund 3.000 Textilarbeiter für Lohnerhöhung. Nachdem die Arbeiter einer Fabrik wegen Nichtbewilligung von 10 Prozent Lohnerhöhung in den Ausstand getreten sind und trotz Drohungen der Unternehmer weiter streiken, sperren die Unternehmer am 13. Februar die Textilarbeiter von 17 Fabriken aus. Die Arbeit wird erst wieder aufgenommen, als ein neuer Tarif mit Lohnerhöhungen bewilligt wird.

16./19. Februar 1902

Der Verbandstag des Verbandes der Steinsetzer (Pflasterer) und Berufsgenossen in Mainz macht es den Mitgliedern der einzelnen Orte zur Pflicht, den Abschluß von Tarifverträgen anzustreben, wenn den Arbeitern das Mitbestimmungsrecht zugestanden wird.
Streikunterstützung wird bei Angriffsstreiks vom vierten Tag, bei Abwehrstreiks vom ersten Tag des Streiks an bezahlt.

3. März 1902

Die vom Verband der Gewerkvereine ausgeschlossenen Mitglieder gründen den rheinisch-westfälischen Ausbreitungsverband der deutschen Gewerkvereine. Er zählt Ende 1902 73 Ortsvereine.

16./17. März 1902

Auf der Generalversammlung des Verbandes der Lagerhalter und Lagerhalterinnen in Berlin wird festgestellt, daß die Stimmung innerhalb der Konsumgenossenschaften gegen die Organisation besser geworden sei. Man habe sich überzeugt, daß die Lagerhalter ebenfalls gute Genossenschafter seien. Seit 1901 gibt der Verband eine eigene Zeitung "Monatsblätter" heraus.

18./21. März 1902

Der Verbandstag des Verbandes der Gastwirtsgehilfen in Mainz verlangt, daß auch das Gastwirtsgewerbe in die Unfallversicherung der gewerblichen Arbeiter einbezogen wird. Der bisherige Arbeiterschutz im Gastwirtsgewerbe ist ungenügend, er muß wesentlich verbessert werden, vor allem ist die Ruhezeit auf neun Stunden auszudehnen. Von den Verwaltungen der Gewerkschaftshäuser wird verlangt, die von den Gastwirtsgehilfen aufgestellten Forderungen zu erfüllen, wie u.a. einen alle acht Tage wiederkehrenden Ruhetag von 36 Stunden, den "möglichsten Fortfall des Trinkgeldbettels und Ersatz desselben durch Festsetzung fester Gehälter".

20. März 1902

Der Bundesrat erläßt Arbeitsschutzbestimmungen für die in Steinbrüchen und Steinmetzbetrieben Beschäftigten. Danach dürfen jugendliche Arbeiter und erwachsene Arbeiterinnen bei der Steingewinnung und Rohaufarbeitung sowie beim Verladen und Transport von Steinen nicht beschäftigt werde.
Erwachsene männliche Arbeiter dürfen nicht länger als neun Stunden beschäftigt werden.
Die Bestimmungen gelten nur für Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten.
Die Verordnung verzichtet weitgehend auf einen Gesundheits- und Unfallschutz.

28./31. März 1902

Die Generalversammlung des Verbandes der in Buchdruckereien beschäftigten Hülfsarbeiter und Arbeiterinnen in Berlin beschließt, künftig auch die in Steindruckereien beschäftigten Hilfsarbeiter aufzunehmen und den Verbandsnamen entsprechend zu ändern.
Ein Antrag, die Aufnahme von Mitgliedern zu verweigern, wenn diese nicht einen bestimmten Lohn erhalten, wird mit Mehrheit zurückgewiesen. In den meisten Zweigvereinen wird der Verband von Buch- oder Steindruckern geführt, weil sich unter den Hilfsarbeitern keine geeigneten Kräfte finden.

29./30. März 1902

Die Generalversammlung des Verbandes aller in der Textilindustrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen in Kassel beschließt, die Krankenzuschußunterstützung wird auch Wöchnerinnen für vier Wochen nach Bestätigung der Geburt ausbezahlt. Die Genehmigung für einen Angriffsstreik ist davon abhängig, ob von den Beteiligten 50% organisiert sind, In den ersten acht Tagen wird keine Unterstützung gezahlt.

30. März 1902

Auf dem ersten Kongreß der Fleischergesellen in Berlin wird festgestellt, daß die Fleischergesellen zu den abhängigsten industriellen Arbeitern gehören. Der Kongreß fordert deshalb eine gesetzlich vorgeschriebene zwölfstündige Arbeitszeit, eine schärfere Kontrolle der Sonntagsarbeit sowie des Herbergs- und Schlafstellenwesens und die Abschaffung der privaten Stellenvermittler. Anstelle der monatlichen muß die achttägige Lohnzahlung treten.
Die am 31. März durchgeführte erste Generalversammlung des Zentralverbandes beschließt den Anschluß an die Generalkommission.

30./31. März 1902

Die Generalversammlung des Verbandes der Maschinisten, Heizer und Berufsgenossen in Magdeburg ändert den Verbandsnamen in "Zentralverband der Maschinisten, Heizer und Berufsgenossen Deutschlands".
Als Aufgaben werden nun auch die Arbeitslosenunterstützung und die Arbeitsvermittlung bestimmt. Arbeitslosenunterstützung wird nach zweijähriger Verbandszugehörigkeit und 14tägiger Arbeitslosigkeit gezahlt.

31. März / 1. April 1902

Der Textilarbeiter- und -Arbeiterinnen-Kongreß in Kassel fordert erneut den Zehnstundentag. Der Kongreß fordert vom Reich "die Errichtung von Arbeiterkammern, die auf Anrufen der in Frage kommenden Arbeiter kleinindustrieller oder solcher Betriebe, die nachweislich weder eine fremdörtliche noch fremdländische Konkurrenz infolge erhöhter Arbeitslöhne und Waarenpreise zu befürchten haben, berechtigt sind, den ihnen gewährten Stück- oder Zeitlohn soweit zu erhöhen, daß der Arbeiter bei der in den Großbetrieben des in Frage kommenden Gewerbes üblichen mittleren Arbeitszeit zu demselben Tages- oder Wochenverdienst gelangt, den die Arbeiter dieser Großbetriebe erreichen".

Die Generalversammlung des Verbandes der Konditoren in Berlin lehnt eine Verschmelzung der Verbände in der Nahrungsmittelindustrie ab, weil die Arbeitsmethoden und die Organisationsverhältnisse der in Frage kommenden Berufe zu verschieden sind.
Vom 1. August 1902 an wird ein monatlich zweimal erscheinendes Blatt "Die Biene" herausgegeben.

31. März / 4. April 1902

Die Generalversammlung des Verbandes der Lederarbeiter in Magdeburg beschließt die Einführung der Arbeitslosenunterstützung. Sie erblickt im Abschluß "tariflicher Vereinbarungen mit Vertretungen oder Organisationen der Unternehmer in prinzipieller Hinsicht eine Anerkennung der Gewerkschaft als berechtigte Vertretung der Arbeiter und ihrer Gleichberechtigung mit der Organisation der Unternehmer bei der Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, die auch materiell den Abschluß der einzelnen Arbeitsverträge günstig beeinflussen kann, insoweit der Tarifvertrag bindende Verpflichtungen der Unternehmer enthält. Es muß die wichtigste Aufgabe der Vertreter der Arbeiter bei Lohnbewegungen sein, diese Arbeitsbedingungen für die Arbeiter so günstig wie irgend möglich zu gestalten und bei der Dauer der Vereinbarungen zu berücksichtigen, daß die Tariferneuerung nicht in eine Zeit des wirthschaftlichen Niederganges und der geschwächten Aktionsfähigkeit der Gewerkschaft fällt. Wie es aber schon zur Herbeiführung eines für die Arbeiter günstigen Tarifvertrages einer starken Organisation der Arbeiter bedarf, so hängt auch die Durchführung der Aufrechterhaltung des Vereinbarten in erster Linie von der Schutzwehr einer jederzeit schlagfertigen Gewerkschaft ab. Außerdem bedarf die Durchführung tariflicher Arbeitsbedingungen der unverbrüchlichen Vertragstreue beider Tarifparteien, für welche die beiderseitigen Organisationen volle Gewähr bieten müssen."
Der Vorsitzende hält die Einführung eines einheitlichen Tarifs für die Weißgerber für möglich, empfiehlt aber die größte Vorsicht hinsichtlich der Kündigungsfrist.
Auch der Lederabeiterverband führt eine Hinterbliebenenunterstützung ein. Bei der nächsten Verbandsstatistik sollen auch die Anzahl der Blut- und Milzbrandvergiftungen unter den Lederarbeitern festgestellt und dieses Material dem Reichstag übermittelt werden.
Einige Delegierte klagen über die Agitationsweise des Fabrik-, Land- und Hülfsarbeiterverbandes und hoffen auf eine Klärung auf dem kommenden Gewerkschaftskongreß.
Zum Vorsitzenden wird Heinrich Mahler gewählt.

1. April 1902

Der Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften zählt in 24 Verbänden 84.700 Mitglieder.
Die stärksten Verbände sind die der Bergarbeiter mit 40.200 und der Textilarbeiter mit 16.600 Mitgliedern.
Die kleinsten Verbände sind die der Maler und Anstreicher in Köln und die des Arbeiterschutzes in Freiburg mit je 80 und die der Bäcker und Konditoren in Düsseldorf mit 105 Mitgliedern.
Rechtsschutz gewähren fast alle angeschlossenen Organisationen, Reisegeld neun, Sterbegeld zwölf, Krankenunterstützung zwei - vier sind an selbständigen Krankenkassen beteiligt - und Arbeitslosenunterstützung sieben Gewerkschaften.

Das "Reichsamt für Arbeiterstatistik" wird errichtet. Es ist Teil des Statistischen Amtes des Reichsamtes des Innern und soll die bisherige Reichskommission für Arbeiterstatistik ersetzen.

1./5. April 1902

Die Generalversammlung des Vereins Deutscher Schuhmacher in München lehnt die obligatorische Einführung der Kranken- und der Arbeitslosenunterstützung ab.
Den "besoldeten Beamten" des Vereins wird jährlich ein 14tägiger Urlaub bewilligt.

26. April 1902

Der Reichstag verabschiedet eine neue Seemannsordnung, die für die Seeleute nur wenige Verbesserungen bringt.

26./27. April 1902

Auf einem Kongreß der Gewerkschaftskartelle der regionalen Organisationen in Elsaß-Lothringen in Colmar wird beklagt, daß das größte Hindernis für die organisatorische Entwicklung, die aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammende und noch gültige französische Gesetzgebung ist.
Die Generalkommission soll ein in deutsch und französisch geschriebenes Monatsblatt herausgeben, "um die gewerkschaftliche Bewegung in den Landestheilen Deutschlands, in denen französisch gesprochen wird, mehr in Fluß zu bringen".

27. April 1902

In Colmar findet ein Kongreß der Gewerkschaften in Elsaß-Lothringen statt.

4./8. Mai 1902

Der Verbandstag des Zentralverbandes der Brauer und Berufsgenossen in Hamburg ist fast einstimmig der Auffassung, daß "die Zusammenlegung aller in der Nahrungsmittelbranche befindlichen Organisationen zu einem Ganzen zur Zeit noch undurchführbar ist".
Der Verband ändert seinen Namen in: "Zentralverband deutscher Brauereiarbeiter".
Zum Streikreglement wird beschlossen, daß ohne Wissen und Genehmigung des Verbandsvorstandes keine Forderungen eingereicht werden dürfen.
Durch eine Petition und eine Denkschrift soll beim Bundesrat erreicht werden, die Nacht- und Sonntagsarbeit in den Brauereien zu beseitigen bzw. zumindest einzuschränken.
Die meisten Delegierten sprechen sich energisch gegen das Freibierunwesen in den Brauereien aus.

4./10. Mai 1902

Der Verbandstag des Holzarbeiterverbandes in Mainz beschließt nach einer Urabstimmung die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung zum 1. April 1903
In einer Urabstimmung, an der sich 70% der Mitglieder beteiligten, hatte sich eine sehr knappe Mehrheit für die Einführung ausgesprochen. Den Gewerkschaftsangestellten - den "Beamten" - wird nun statt bisher eine Woche ein Urlaub von zwei Wochen gewährt.

17./19. Mai 1902

Die Generalversammlung des Bergarbeiterverbandes in Essen "vernimmt mit Entrüstung, wie unwürdig noch immer die Arbeiter in den deutschen Bergrevieren behandelt werden. Sie protestiert entschieden gegen diese Brutalitäten, ebenso gegen die rigorosen Lohnabzüge und Bestrafungen. Die Delegierten sind der Ansicht, daß diese Aufreizungen der Belegschaften nur zu dem Zwecke geschehen, um die Arbeiterschaft in einen Streik zu treiben. Dagegen fordert die Generalversammlung alle Berufsgenossen auf, sich nicht zu einem Ausstande provozieren zu lassen, da derselbe augenblicklich nur den Unternehmern zum Nutzen gereichen würde. Ruhe ist gerade jetzt unsere beste Vertheidigung und Werbung für die Organisation, unsere erste Pflicht, damit, wenn die Zeit für uns günstiger ist und die Unternehmer den Frieden nicht wollen, wir den gerechten Kampf für unsere Rechte aufnehmen können. Die Generalversammlung erwartet von den Regierungen, daß sie den Übelständen im Bergbaubetrieb in gründlicher Weise durch gesetzliches Eingreifen zu Gunsten der mißhandelten Arbeiter ein Ende macht."
Zur Frage der Knappschaftsversicherung soll der Vorstand den gesetzgebenden Körperschaften Forderungen unterbreiten, so z.B.: Die Regelung des Knappschaftswesens durch Reichsgesetz; darin muß die Berufsinvalidität aufrecht erhalten bleiben; einheitliche Beiträge und Renten; Wegfall der Klasseneintheilung bei der Pensionskasse; Beseitigung jeder Aufrechnung anderer Renten auf die Berginvalidenpension; Sicherung der erworbenen Mitgliederrechte, im Falle freiwilliger und unfreiwilliger Abkehr von einem Vereinswerk.
Ein Referat über die Verstaatlichung der Bergwerke wird von den Delegierten positiv aufgenommen, ohne daß zu dieser neuen Haltung des Bergarbeiterverbandes ein Beschluß gefaßt wird.
Zum Vorsitzenden wird Sachse gewählt.

18./19. Mai 1902

Auf der Generalversammlung des Centralverbandes der Handlungsgehülfen und Gehülfinnen in Halle/Saale wird von den Delegierten folgende Resolution angenommen: "Die soziale Lage der Gehülfenschaft des deutschen Handelsgewerbes macht reichsgesetzliche Maßnahmen zum Schutze von Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Gehülfen und Gehülfinnen zu einer unerläßlichen Nothwendigkeit ... Als nächste und dringendste Ziele der Gesetzgebung sind zu erstreben: Ausdehnung der Gewerbegerichtsbarkeit auf die Handlungsgehülfen, Schaffung einer Handels-Inspektion nach Art der Gewerbe-Inspektion und unter Mitwirkung der Gehülfenschaft, Abschaffung der Konkurrenzklausel, reichsgesetzliche Einführung des Achtuhr-Ladenschlusses und Erstrebung des gesetzlichen Achtuhr-Geschäftsschlusses für alle Handelsbetriebe bis zur Herbeiführung des Achtstundentages, obligatorischer Fortbildungsschulunterricht für alle unter 18 Jahre alten kaufmännischen Angestellten an täglich zwei Vormittagsstunden der Wochentage, Herbeiführung einer 36stündigen Sonntagsruhe, zweckentsprechende Ausdehnung der Versicherungsgesetze auf die Gehülfenschaft im Handelsgewerbe."
Erneut werden kaufmännische Gewerbegerichte gefordert.
Zu den Konsumgenossenschaften wird ausgeführt "daß die Konsumvereine , wenn sie als ein Mittel zur wirthschaftlichen Kräftigung der Arbeiterklasse gelten sollen, verpflichtet, auch ihre Angestellten besser zu behandeln und zu stellen, als der kapitalistische Ausbeuter". Für die kaufmännischen Angestellten der Konsumgenossenschaften ist deshalb zu verlangen: "Für die Ladenangestellten: Achtuhr-Ladenschluß; ein freier, halber Tag in jeder Woche; jährlich eine Woche Ferien unter Fortbezahlung des Gehalts. Für die Komptoir und Lagerangestellte: Achtstündiger Arbeitstag; jährlich zwei Wochen Ferien unter Fortbezahlung des Gehalts. Für sämmtliche Angestellte: Arbeitsruhe an Sonn- und Festtagen; Anstellung sämmtlicher Angestellten vom Verein durch Vorstand und Aufsichtsrath; direkte Salarierung von Seiten des Vereins."

Die Generalversammlung des christlich-sozialen Verbandes der Tabak- und Cigarrenarbeiter - er wurde im Dezember 1899 gegründet - in Krefeld spricht sich gegen die Gründung von katholischen Gewerkschaften aus. Der Verband hat durch eine längere Aussperrung in Kaldenkirchen Mitglieder verloren.

Pfingsten 1902

Der Delegiertentag des Gewerkvereins der Maschinen- und Metallarbeiter in Berlin protestiert gegen jede Übertragung der Arbeitslosenversicherung auf den Staat oder die Kommunen.
Mit 22 gegen 8 Stimmen wird der Revers gegen die Sozialdemokratie beseitigt. Der Delegiertentag erklärt, daß dies aber in keiner Weise die bisherigen Grundanschauungen des Gewerkvereins berühre; er stehe nach wie vor auf dem Boden der freien Privatwirtschaft und genossenschaftlichen Selbsthilfe.

18./20. Mai 1902

Der internationale Kürschnerkongreß in Hamburg lehnt den Aufbau eines internationalen Streikfonds ab, verpflichtet aber alle nationalen Organisationen, einen solchen Fonds einzurichten. Der Kongreß fordert alle Kürschner auf, die Heimarbeit zu bekämpfen.

18./23. Mai 1902

Die Generalversammlung des Zentralvereins der Böttcher in Braunschweig beschließt die Einführung einer Arbeitslosenunterstützung. Dem Zolltarifentwurf wird die schärfste Mißbilligung ausgesprochen. Der Vorstand beantragt, Reichsregierung und Reichstag eine Denkschrift einzureichen, in der auf die schwere Schädigung durch diesen Entwurf für das Böttchergewerbe und die Weinproduktion verwiesen wird.
Organisationsstreitigkeiten mit dem Brauerverband sollen auf dem Gewerkschaftskongreß geklärt werden.

18./24. Mai 1902

Die Generalversammlung des Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter beiderlei Geschlechts in Berlin beschließt die Einführung einer freiwilligen Streikmarke.
Dem Vorstand wird das Vertrauen ausgesprochen, nachdem es mit dem früheren Verbandskassierer über das Verbandsvermögen zu schweren Auseinandersetzungen gekommen war.
An Orten, an denen ein vom Vorstand anerkannter Arbeitsnachweis besteht, dürfen Mitglieder nur durch Vermittlung und Genehmigung dieser Nachweise Arbeit annehmen.

19. Mai 1902

Auf dem Delegiertentag des Verbandes katholischer Arbeitervereine Nord- und Ostdeutschlands werden mit Mehrheit Leitsätze angenommen, nach denen sich die Mitglieder der katholischen Arbeitervereine, um ihre besonderen wirtschaftlichen Interessen zu schützen und zu fördern, zu beruflichen Fachabteilungen zusammenschließen können, die im Gesamtverband der katholischen Arbeitervereine eine gewerkschaftliche Organisation darstellen. Als besondere Aufgaben gelten u.a.: die Mitglieder in allen das Arbeitsverhältnis betreffenden Tagesfragen durch Vorträge, Diskussionen u. dgl. aufzuklären; einen vermittelnden Einfluß bei Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Mitglieder auzuüben; die Durchführung und weitere Umgestaltung der Arbeiterschutzgesetzgebung anzustreben; der Arbeitsnachweis; die Errichtung von Unterstützungskassen für die Mitglieder der Fachabteilungen usw.

19./23. Mai 1902

Der internationale Bergarbeiterkongreß in Düsseldorf spricht sich einstimmig für die Schaffung humaner Unfallgesetze mit ausreichenden Renten aus. Erneut fordern die Bergarbeiter den gesetzlichen Achtstundentag und die Verstaatlichung der Bergwerke.

19./24. Mai 1902

Der Kongreß der Steinarbeiter in Leipzig beschließt, die bisher auf der Basis von Vertrauensmännern arbeitende Organisation in einen zentralen Verband umzuwandeln und sich nun "Zentralverband der Steinarbeiter Deutschlands" zu nennen. Der Sitz des Verbandes wird von Rixdorf nach Leipzig verlegt.
Die Arbeitsschutzverordnung für die Steinindustrie wird als mangelhaft kritisiert, die Zentralleitung beauftragt, besonders auf strikte Durchführung der Verordnung hinzuwirken.

23. Mai 1902

In der Sitzung des Gewerkschaftsausschusses legt C. Legien den Vertretern der Einzelverbände "eine interessante Übersicht über den Wechsel der Mitglieder in den einzelnen Organisationen" vor und weist auf die "kolossale Fluktuation" hin. C. Legiens Frage, "ob die Tabelle in die Gewerkschaftsstatistik und so in die volle Öffentlichkeit kommen" solle, wurde von den Verbandsvertretern negativ beschieden.

26./28. Mai 1902

Die Generalversammlung des christlichen Holzarbeiterverbandes in Köln beschließt, eine Krankengeldzuschußkasse. Der Sitz des Verbandes wird ab 1. Januar 1903 von München nach Köln verlegt.
Anstelle von A. Stegerwald, der Sekretär des Gesamtverbandes werden soll, wird Kurtscheid zum neuen Vorsitzenden gewählt.

31. Mai / 7. Juni 1902

In Stuttgart streiken die Straßenbahner vor allem für ihr Koalitionsrecht, nachdem ihnen verboten worden war, sich dem Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiterverband anzuschließen. Trotz intensiver Unterstützung durch die Gemeindeverwaltung und das württembergische Innenministerium scheitert der Streik an der strikten Weigerung der Straßenbahndirektion, das Koalitionsrecht zu gewähren.

Ende Mai 1902

Bei einem Arbeitskampf werden in Hamburg, Altona, Wandsbek und Harburg ca. 3.000 Maurer und Zimmerer ausgesperrt und der Ortsverband der Maurer gezwungen, seinen Beschluß über ein Verbot der Akkordarbeit aufzuheben.
Vor allem Anhänger der "Freien Vereinigung der Maurer" treten als Streikbrecher auf.

1./6. Juni 1902

Auf dem "Internationalen Textilarbeiterkongreß" in Zürich sind unter den deutschen Delegierten zum ersten Mal auch zwei Vertreter der "christlichen" Textilarbeiterorganisation und ein Vertreter des Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereins der Stuhlarbeiter anwesend.
Dazu erklärt H. Greulich, daß die Differenzierung von Gewerkschaften nach dem Glaubensbekenntnis ein Unding sei, das auf Dauer nicht bestehen kann. Die Arbeitsbedingungen richten sich nicht nach dem Glaubensbekenntnis, ihre Verbesserung ist ein gemeinsames Ziel aller Berufsgenossen und kann nur durch eine einige Organisation erreicht werden. Getrennte Organisationen können dieses Streben nur lähmen und schwer schädigen.
Trotzdem kommt es über die Teilnahme der drei Vertreter zu einer Diskussion. Zwar werden sie zu diesem Kongreß zugelassen, künftig werden aber nur Gewerkschafter zugelassen, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen. Darauf verlassen die beiden christlichen Gewerkschafter den Kongreß. Erneut werden die Akkordarbeit, die Nachtarbeit und Überstunden abgelehnt sowie die Freigabe des Samstagnachmittags, der Achtstundentag und die Errichtung von Arbeitskammern verlangt.
Das internationale Sekretariat soll mit Mitteln der nationalen Organisation einen Streikfonds einrichten. Die Organisation und die Fachpresse der Textilarbeiter aller Länder haben die Pflicht, der Alkoholfrage mehr Aufmerksamkeit als bisher entgegenzubringen. Durch Vorträge und belehrende Artikel soll dahin gewirkt werden, daß der Alkoholgenuß immer mehr eingedämmt wird.
Über die Arbeitszeiten und die Lohnverhältnisse soll das internationale Sekretariat statistische Erhebungen durchführen.

6. Juni 1902

Auf der Sitzung des Gewerkschaftsausschusses der Generalkommission kommt es zu Auseinandersetzungen, in dem sich Adolph v. Elm mit seiner Meinung durchsetzt, daß eine obligatorische Reichsversicherung der Arbeitslosen "zur Zeit eine Gefahr für die gewerkschaftlichen Organisationen" sei, weil deren wichtigstes Bindemittel die Unterstützungseinrichtungen darstellen. Eine obligatorische Reichsversicherung hält v. Elm erst dann für akzeptabel, wenn gleichzeitig eine obligatorische Beitrittspflicht zu den Gewerkschaften bestünde. Von diesem Standpunkt rücken die sozialdemokratischen Gewerkschaften aber bis 1914 wieder ab.

9. Juni 1902

Der "Verband christlicher Maler und Anstreicher" wird gegründet.

16./21. Juni 1902

Der 4. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands in Stuttgart - auf dem 156 Delegierte 58 Zentralverbände vertreten - behandelt neben dem Rechenschaftsbericht der Generalkommission folgende Themen: das Submissionswesen, die Hausindustrie, die Arbeitersekretariate, Arbeitslosenversicherung, Gewerkschaftskartelle, Unterstützungsfonds für Gewerkschaftsbeamte.
Zum ersten Mal nimmt ein Vertreter des Reichsamtes des Inneren an einem Gewerkschaftskongreß teil. Auch die württembergische Regierung und die Gewerbeinspektion ist vertreten. Aus 10 Ländern sind Gewerkschaftsvertreter anwesend.
Der Aufgabenbereich der Generalkommission wird mit dem "Stuttgarter Regulativ" neu festgelegt:
Einberufung und Vorbereitung der Gewerkschaftskongresse; Förderung der gewerkschaftlichen Agitation und des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses zu leistungsfähigen Zentralverbänden; Führen einer gewerkschaftlichen Statistik, insbesondere einer Streikstatistik; Sammlung und Nutzung von Agitationsmaterial für die Gewerkschaften; Herausgabe des "Correspondenzblattes" als Mittel, um sie enger miteinander zu verbinden; Herausgabe anderer geeigneter Publikationen für die Agitation unter den Arbeitern, insbesondere eines Jahresberichts der Generalkommission; Errichtung eines Zentralarbeitersekretariats; Aufklärung der Arbeiter über die Bedeutung der staatlichen Arbeiterversicherung und über die Wahl von Arbeitervertretern zu den in Verbindung mit der Sozialgesetzgebung entstandenen Körperschaften; Förderung der Gründung von Arbeitersekretariaten; Pflege der internationalen Beziehungen zu den Gewerkschaften anderer Länder.
Die Generalkommission konstituiert sich jeweils am Beginn jeder Geschäftsperiode des Gewerkschaftsausschusses in einer gemeinsamen Sitzung beider Gremien, auf der auch die Gehälter für die hauptamtlichen Funktionäre der Generalkommission festgelegt werden. Der Gewerkschaftsausschuß bildet aus seiner Mitte eine dreiköpfige Revisionskommission, die jährlich die Kassengeschäfte der Generalkommission zu überprüfen hat. In den Sitzungen des Gewerkschaftsausschusses haben die Mitglieder der Generalkommission volles und die in ihr arbeitenden Funktionäre beratendes Stimmrecht. Der Gewerkschaftsausschuß wird eine ständige Einrichtung.
Der Sitz der Generalkommission wird nach Berlin verlegt. Der Beitrag der Gewerkschaften zur Generalkommission wird erhöht. Konkurrenzorganisationen zu den bestehenden Gewerkschaften können nicht Mitglied der Generalkommission werden.
Über alle Anträge zu Grenzstreitigkeiten geht der Kongreß zur Tagesordnung über.
Der Kongreß stimmt der Errichtung eines Pensionsfonds für die Gewerkschaftsangestellten zu, der die Unterstützung von Invaliden, Witwen und Waisen und auch die Gewährung von Sterbegeldern bezweckt. Die Gewerkschaften werden ersucht, auf die Beteiligung ihrer Angestellten an diesem Fonds hinzuwirken. Die Beiträge sind zur Hälfte von den Angestellten aufzubringen. Der Kongreß gibt den Gewerkschaften Anregungen zur Gehaltsregelung der Gewerkschaftsangestellten.
Die Generalkommission wird beauftragt, die Arbeitsverhältnisse der Angestellten in Gewerkschaftshäusern zu untersuchen.
Den Gewerkschaftskartellen ist es nicht gestattet, in die einzelnen Zwecke der Zentralorganisationen einzugreifen, insbesondere nicht in das Bestreben, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Das Leipziger Kartell wird wegen seiner Haltung gegen den Buchdruckertarifvertrag ausgeschlossen. Es soll erst wieder zugelassen werden, "wenn es sich den Frankfurter Beschlüssen unterwirft".
Der Kongreß lehnt die Aufnahme von Streikklauseln in Arbeits- und Lieferungsverträge (Submissionsbedingungen) ab. Mit Mehrheit wird die Errichtung eines Zentralarbeitersekretariats beschlossen.
Nach einem ausführlichen Referat mit drastischen Beispielen über die elende Lage der Hausgewerbetreibenden, ihrer Arbeitszeit, Verdiensthöhe und Gesundheitszustand und dem Scheitern aller Organisationsversuche stellt der Kongreß fest, die Hausindustrie sei "mit ihrer unbegrenzten Arbeitszeit, ihren niedrigen Löhnen und ungesunden Arbeitsstätten" nur dazu angetan, die in ihr beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen "wirtschaftlich und geistig zu verelenden". Die Schäden könnten "einzig und allein durch ein vollständiges gesetzliches Verbot der Hausindustrie" behoben werden.
Die Generalkommission wird beauftragt, einen Heimarbeiterschutzkongreß durchzuführen.
Nach einer kontroversen Diskussion erachtet es die Mehrheit des Kongresses als Pflicht von Reich, Staat und Gemeinde, den ohne eigenes Verschulden Arbeitslosen Unterstützung zu gewähren, verwirft jedoch jedes andere System als das auf freier Selbstverwaltung der Arbeiter und auf Gewährung eines Reichszuschusses an Arbeitslosenunterstützung zahlende Gewerkschaften beruhende, und empfiehlt den Gewerkschaften die Einführung der Arbeitslosenunterstützung als Vorbedingung eines solchen Reichszuschusses. Als weitere Voraussetzung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung fordert die Resolution das uneingeschränkte Koalitionsrecht für alle Arbeiter, die Gewährung der Rechtsfähigkeit an die beruflichen Organisationen ohne Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die Vornahme regelmäßiger Arbeitslosenzählungen und die reichsgesetzliche Regelung der Arbeitsvermittlung durch Organisation von Arbeitsbörsen.
Der Kongreß hält es für notwendig, daß die Organisationen mehr Wert als bisher auf die Gewinnung der Arbeiterinnen legen.
Die Agitation unter den Arbeiterinnen soll durch Frauen geschehen.
Gegen die Versuche einzelner Behörden, die Arbeitersekretariate unter Polizeiaufsicht zu stellen, wird protestiert. Der Kongreß empfiehlt den organisierten Arbeitern, ihre Sekretariate in ausgiebiger Weise zu unterstützen und dadurch deren Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Die Delegierten verlangen die Sicherung des Koalitionsrechts für Eisenbahner und Landarbeiter sowie gesetzliche Bestimmungen, daß die Straßenbahner der Gewerbeordnung unterstehen.
Der Vorsitzende des Kongresses W. Bömelburg erklärt - nachdem über Polemiken seitens des Buchdruckerorgans gegen die SPD diskutiert worden war - unter Zustimmung der Delegierten: "Die deutsche Gewerkschaftsbewegung und die deutsche Sozialdemokratie sind eins. Zwei Wege gibt es hier nicht. Die deutschen Gewerkschaften werden niemals ablassen von der Forderung einer grundsätzlichen Umgestaltung der Verhältnisse, weil sie wissen, daß sonst eine endgültige Lösung der sozialen Frage nicht möglich ist."
Der Kongreß protestiert entschieden gegen den geplanten Zolltarif und seine Auswirkungen auf die Arbeitnehmer.
Die Zahl der Mitglieder der Generalkommission wird erweitert. Gewählt werden bei 150 gültigen Stimmen: G. Sabath (136), C. Legien (128), Silberschmidt (121), R. Schmidt (112), A. Knoll (107), E. Döblin (94), A. Cohen (85), H. Kube (83) und J. Sassenbach durch Stichwahl (78).
Emma Ihrer erhält 38 Stimmen.

Auf dem 4. Kongreß der Gewerkschaften in Stuttgart wird die Einführung einer Arbeitslosenversicherung mit Reichszuschüssen unter Selbstverwaltung der Arbeiter gefordert.

17./18. Juni 1902

Die Sekretäre von 12 Landesorganisationen der Gewerkschaften in Stuttgart vereinbaren Regeln über eine gegenseitige Streikunterstützung für die internationalen Beziehungen und die Beitragszahlung für die geschaffene Internationale Zentralstelle. Internationale Gewerkschaftskongresse sollen nicht abgehalten werden, nur regelmäßig jährliche Berichte über Gewerkschaftsbewegungen und die Arbeiterschutzgesetzgebung der Zentralstelle übermittelt und von dieser den 20 Landeszentralen weitergeleitet werden.
Für die Durchführung dieser Aufgaben wird eine internationale Zentrale eingerichtet, die ihren Sitz in Deutschland hat.

23./28. Juni 1902

Die Generalversammlung des Buchdruckerverbandes in München beschließt, daß die Anlage von Kapitalien in mündelsicheren Papieren und ersten Hypotheken zu erfolgen habe.
Neu eingeführt wird eine Arbeitslosenunterstützung für Mitglieder, die gezwungen aussetzen, um Entlassungen zu verhüten, sobald die Aussetzungsdauer mindestens eine Woche beträgt.

29./30. Juni 1902

Der erste Verbandstag des im September 1900 gegründeten Christlich-sozialen Verbandes der nichtgewerblichen Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands in München beschließt eine Krankenzuschußkasse und die Herausgabe eines eigenen Verbandsorgans anstelle des für die kleineren christlichen Verbände erscheinenden "Christlichen Gewerkschaftsblattes". Der Verband ist aus dem Münchener Arbeiterschutz hervorgegangen.

29. Juni / 2. Juli 1902

Auf dem Kongreß der christlichen Gewerkschaften in München vertreten 43 Delegierte 21 Organisationen mit rund 85.000 Mitgliedern.
Der Kongreß empfiehlt die Gründung von Konsumvereinen als ein wichtiges Mittel zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, gleichzeitig auch die allergrößte Vorsicht bei den Gründungen, da Mißerfolge schädlich für die gesamte Gewerkschaftsbewegung wirken müssen.
Der Kongreß bedauert, daß die Beschäftigung von Frauen, vor allem in der Großindustrie, verhältnismäßig zugenommen hat. Er ist jedoch der Auffassung, daß Fabrikarbeit von Arbeiterinnen aus hygienischen, sittlichen und wirtschaftlichen Gründen eingeschränkt werden soll.
Der Kongreß ist entschieden dafür, daß die Gesetzgebung gründlicher in den Arbeiterinnenschutz eingreifen muß als das bisher geschehen ist.
"Die Beschäftigung von Arbeiterinnen in Bergwerken und im Baugewerbe sowie in sämmtlichen Betrieben, deren Eigenart von schädlichem Einfluß in sanitärer und sittlicher Beziehung für die Arbeiterinnen ist, muß gesetzlich verboten werden.
Der gesammte gesetzliche Arbeiterinnenschutz ist nach Möglichkeit auf die Hausindustrie zu übertragen. Ferner ist den Arbeitgebern zu verbieten, den Arbeiterinnen, die im Gewerbebetriebe thätig sind, nach beendigter Arbeitszeit noch Beschäftigung mit nach Hause zu geben.
Da der bisherige Wöchnerinnenschutz von vier bzw. sechs Wochen unzulänglich ist, ist der Kongreß der Meinung, daß Wöchnerinnen während zwei bis vier Wochen vor und während acht Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden sollten.
Der Kongreß ist ferner entschieden der Ansicht, daß die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen möglichst eingeschränkt werden muß. Es muß hier zunächst der achtstündige Maximalarbeitstag, welcher durch stufenweise allmähliche Einschränkung durch Halbtagsbeschäftigung ersetzt werden müßte, eingeführt werden.
Den Gewerbeinspektoren sind möglichst überall Assistenten und Assistentinnen zur Seite zu stellen, die aus dem Arbeiterstande hervorgegangen sind.
Der Kongreß erachtet die gewerkschaftliche Organisation der gewerblich thätigen Arbeiterinnen als eine zwingende Nothwendigkeit, sowohl aus sittlichen, als aus wirthschaftlichen Gründen. Diese Nothwendigkeit ist besonders vorhanden in denjenigen Berufen, wo die billigere weibliche Konkurrenzarbeit in großem Umfange eingedrungen ist und den Werth der Männerarbeit herabgedrückt hat, z.B. in der Textil- und Tabakindustrie. Die Abschaffung aller Fabrikarbeit der verheirateten Frauen wird als Ziel anerkannt, das aber zurzeit nicht zu verwirklichen sei, deshalb soll zunächst der Grundsatz, 'Gleiche Leistungen, gleicher Lohn', durchgeführt werden, um der Herabdrückung des Lohnes durch die Konkurrenz der Frauen entgegenzuarbeiten. Die Arbeiterinnenorganisation soll eine gewisse Selbständigkeit erhalten. Bei der Agitation, welche zwecks Erziehung einer intensiveren Betheiligung der Arbeiterinnen am Gewerkschaftsleben entfaltet werden muß, ist jedoch aus prinzipiellen und taktischen Gründen auf die sittliche Stellung der Frau in der Gesellschaft, zumal in der Familie, und die oft eigenartigen Bedürfnisse der Arbeiterinnen die weitgehendste Rücksicht zu nehmen. Es empfiehlt sich sehr, innerhalb der Organisation baldigst eine hinreichende Zahl von weiblichen Vertrauenspersonen zu ernennen, welche den Vorständen zur Seite stehen. Für jugendliche Arbeiter ist das gesetzliche "Schutzalter" von 16 auf 18 Jahre heraufzusetzen."
Nach heftigen Auseinandersetzungen des Gewerkschaftsausschusses und dem Vorsitzenden des Metallarbeiterverbandes Wieber beschließt der Kongreß mit 29 gegen 6 Stimmen: "So lange der derzeitige christlich-soziale Metallarbeiterverband das persönliche Verhalten und die Kampfesweise seines Vorsitzenden Wieber, die mehrfach gegen den Ausschuß und die Interessen des Gesammtverbandes gerichtet waren, gutheißt, welches seitens der heutigen Leitung geschehen ist, kann der Metallarbeiterverband dem Gesammtverband nicht angehören. In Konsequenz dieses Beschlusses wird der Ausschuß beauftragt, die Bildung eines neuen Metallarbeiterverbandes baldigst in die Wege zu leiten."
Zur Frage der landwirtschaftlichen Arbeiter erklärt der Kongreß: "Die starke Abwanderung der ländlichen Arbeiter in die Industriestädte und ihr Ersatz durch ausländische Arbeiter ist ein ungesunder Zustand, der unser gesammtes nationales Wirthschaftsleben und besonders die Industrie-Arbeiterschaft auf das Empfindlichste schädigt. Die Industrie-Arbeiter werden durch das Überangebot von Arbeitskräften der unorganisierten sozialpolitisch unaufgeklärten Landarbeiter gehindert, dauernd gute Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu erreichen. Auch wird durch den regellosen Zuzug ausländischer Arbeiter der gesammte einheimische Arbeitsmarkt überlastet und auf diese Weise, besonders in Zeiten wirthschaftlichen Niederganges, das Heer der Arbeitslosen vergrößert und die wirthschaftliche Lage der gesammten Arbeiterschaft Deutschlands verschlechtert.
Um jenen übermäßigen Zustrom der Landarbeiter zu steuern, erachtet der Kongreß die Schaffung einer Berufsorganisation der Landarbeiter dringend nothwendig, die auf christlicher Grundlage die wirthschaftliche, geistige und sittliche Hebung des Landarbeiterstandes erstrebt. Zur Ermöglichung einer solchen Berufsorganisation fordert der Kongreß auf das Nachdrücklichste die Beseitigung der Koalitionsverbote, die heute noch für die Landarbeiterschaft bestehen."
Nach einem Referat über "Die Geistesbildung der Arbeiter" bezeichnet der Kongreß in einer Resolution die Förderung der Geistesbildung als Aufgabe der christlichen Gewerkschaften, die durch Vereinstätigkeit, Fachorgan, Bibliotheken und Schriftvertrieb sowie Beteiligung an volkstümlichen Kursen erreicht werden soll.
Auf der anschließenden Generalversammlung wird nach heftigen Diskussionen beschlossen, ab 1. Oktober ein Generalsekretariat mit Sitz in Köln und ein Sekretariat für Süddeutschland in Freiburg zu schaffen.
Mit 26 gegen 9 Stimmen wird der Metallarbeiterverband aus dem Gesamtverband ausgeschlossen, solange er unter der Leitung von Wieber steht.
Wieber hatte Zölle als gegen das Interesse der Arbeiterklasse gerichtete Maßnahmen scharf angegriffen; der Ausschuß sieht dagegen Zölle als politische Frage, die von den Gewerkschaften nicht zu erörtern ist.

Mitte 1902

Nach dem Gewerkschaftskongreß bildet sich ein von der Generalkommission gebildetes Frauen-Agitations-Komitee, dem u.a. Paula Tiede, Ida Altmann und Emma Ihrer angehören.

Der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein der Lederarbeiter und Schuhmacher spricht sich auf seinem Gewerkschaftstag im Gegensatz zur Haltung des Gesamtverbandes für eine alle Lohnarbeiter umfassende Arbeitslosenversicherung aus.
Da zahlreiche Gewerkvereinsmitglieder Mitglied mehrerer Gewerkschaften sind, werden die Statuten geändert.

Nach einer Denkschrift der Generalkommission sind in 51 Gewerkschaften 324 Angestellte ("Beamte") tätig, davon enthalten 285 ein Gehalt, 35 eine Entschädigung. Von 4 Angestellten gibt es keine Angaben.

4./7. Juli 1902

Der internationale Transportarbeiterkongreß in Stockholm erkennt an, daß Streik und Boykott wichtige Waffen im wirtschaftlichen Kampf der Arbeiter aller Länder sind. Der Kongreß ist jedoch der Auffassung, daß bei der Erörterung der Frage, ob diese Waffen national oder international zur Anwendung gebracht werden sollen, die größtmöglichste Vorsicht und Berücksichtigung aller einschlägigen Fragen eine absolute Notwendigkeit ist.
Die nationalen Organisationen verpflichten sich, vor allen Streiks sich gegenseitig zu unterrichten, insbesondere, wenn eine internationale Hilfe erforderlich ist.
Während des Kongresses findet eine Konferenz der seemännischen Organisationen statt, die feststellt, daß die bisherigen Arbeitsschutzmaßnahmen für Seeleute ungenügend sind. Die Seeleute fordern eine internationale Arbeitsschutzkonferenz unter Beteiligung von Seeleuten.

7. Juli 1902

Das Leipziger Gewerkschaftskartell hebt seinen Beschluß vom 5. November 1900 - Nichtanerkennung der den Tarifvertrag unterstützenden Buchdrucker - auf. Damit wird das Gewerkschaftskartell wieder von der Generalkommission anerkannt.

3. August 1902

Vertreter der drei christlichen Textilarbeitergewerkschaften aus Belgien, den Niederlanden und Deutschland beschließen - nach der Diskussion auf dem internationalen Textilarbeiterkongreß in Zürich -, "nur in Spezialfällen Allianzen mit Organisationen mit anderen fundamentalen Prinzipien einzugehen".

8./10. August 1902

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Gärtnervereins in Hannover, an der Vertreter aller drei Gewerkschaftsbünde teilnehmen, beschließt, sich vorläufig keinem dieser Bünde anzuschließen.

10./16. August 1902

Der Verbandstag des Verbandes der Fabrik-, Land-, Hülfsarbeiter und Arbeiterinnen in Offenbach beschließt, über die Einführung der Arbeitslosenunterstützung eine Urabstimmung durchzuführen. Dem Vorsitzenden und dem Kassierer werden je 14 Tage, den Gauvorsitzenden je acht Tage Urlaub gewährt.
Der Vorstand beklagt erneut die starke Fluktuation bei den Mitgliedern, von der in dieser Zeit auch die meisten anderen Gewerkschaften betroffen sind.

16./19. August 1902

Der internationale Kongreß der Lithographen, Steindrucker und Berufsgenossen in Berlin lehnt die Errichtung eines internationalen Streikfonds ab.

25. August 1902

Der Kongreß der Schneider und Schneiderinnen in München verlangt die Ausdehnung aller Versicherungsgesetze auf die Hausindustrie.
Nachdem das Verbot des "Inverbindungtretens" aufgehoben wurde, liegt für die Verbände kein Grund mehr vor, das Gebiet der Sozialgesetzgebung, für deren Durchführung und Erweiterung sie in erster Linie zu wirken haben, von den Beratungen auf den Verbandstagen auszuschließen. Kongresse finden deshalb nur noch nach Bedarf statt.

25./30. August 1902

Der Verbandstag des Verbandes der Schneider, Schneiderinnen und verwandten Berufsgenossen in München beschließt, eine Wöchnerinnenunterstützung einzuführen.
Den Angestellten des Verbandes werden pro Jahr 14 Tage Urlaub gewährt. Der Sitz des Verbandes und der Redaktion wird ab 1. Januar 1903 Berlin.
Zum Vorsitzenden wird Stühmer, zum Redakteur der Zeitung wird G. Sabath gewählt.

31. August / 1. September 1902

Die erste Generalversammlung des Zentralverein der Bureauangestellten in Berlin fordert die Regierungen auf, dem Reichstag einen Gesetzentwurf zur Regelung der Berufsverhältnisse der Büroangestellten vorzulegen.
Der Verein führt eine Arbeitslosenunterstützung ein.
Mitglieder des Vereins können auch Frauen werden. Einstimmig wird der Anschluß an die Generalkommission beschlossen. Sitz des Vereins ist Berlin. Gustav Bauer wird zum Vorsitzenden gewählt.

13./14. September 1902

Die sozialdemokratische Frauenkonferenz in München fordert für alle Arbeiterinnen den gesetzlichen Achtstundentag, für jugendliche Arbeiterinnen die Erhöhung der Altersgrenze auf 18 Jahre, verbindlichen Fortbildungsunterricht, die Abschaffung der Überstundenarbeit, Mutterschutz vier Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt, Zubilligung eines Pflegegeldes, Errichtung von Entbindungsanstalten.
Die Konferenz fordert das Verbot jeglicher Erwerbstätigkeit schulpflichtiger Kinder im Gewerbe, in der Land- und Forstwirtschaft, bei häuslicher Arbeit und im Gesindedienst, Ausdehnung der Schulpflicht auf das vollendete 14. Lebensjahr. Schließlich verlangt die Konferenz das Wahlrecht für Frauen und die Gleichberechtigung der Frauen beim Vereins- und Versammlungsrecht.

14./20. September 1902

Der SPD-Parteitag in München verabschiedet eine umfangreiche Resolution zur Arbeiterversicherung: "Die Versicherungsgesetze des Deutschen Reiches, die hauptsächlich erlassen wurden, die Armenkassen vor Überlastung und die Unternehmer vor Schadenersatz zu bewahren, entsprechen in keiner Beziehung den Anforderungen der Arbeiterklasse. Jedoch ist durch die Erfahrung der Beweis erbracht, daß mit der Versicherung allgemeine Übelstände bekämpft und deren schlimmste wirthschaftliche Folgen gemildert werden können. Deshalb fordert der Parteitag: Ausdehnung der Versicherung auf alle Arbeiter und diesen wirthschaftlich gleichstehenden Personen; Vereinheitlichung der Versicherung; volle Selbstverwaltung durch die Versicherten; Heranziehung aller Klassen zur Tragung der Kosten; Bekämpfung von Volkskrankheiten durch die Arbeiterversicherung; weiteren Ausbau der Unfallversicherung und der Maßnahmen zur Verhütung von Berufskrankheiten insbesondere zu diesem Zweck; Einsetzung von Vertrauenspersonen behufs Kontrolle der Betriebe; die Vertrauenspersonen sind von den Versicherten aus ihren Kreisen zu wählen und aus öffentlichen Mitteln zu besolden; voller Schadenersatz der Verletzten und deren Hinterbliebenen; Unterstützung von Schwangeren, sobald gegen das Ende der Schwangerschaft durch den normalen Schwangerschaftszustand bedingte Anzeichen sich geltend machen, welche die Arbeit erschweren, und von Wöchnerinnen für die Dauer von wenigstens 6 Wochen vom Tage der Entbindung an; Organisation des Arbeitsmarktes; Einführung der Arbeitslosenversicherung; Einführung der Witwen- und Waisenversorgung."
Die Kosten für die Arbeitslosenversicherung sollen je zu einem Drittel Arbeiter, Arbeitgeber und das Reich aufbringen. Der Sozialexperte der SPD Molkenbuhr schlägt auf dem Parteitag vor, der Auflösung der arbeitereigenen Hilfskassen unter bestimmten Bedingungen (endlich) zuzustimmen.
Der Parteitag erkennt rückhaltlos die Gefahren an, die aus einem übermäßigen Genuß alkoholischer Getränke für den Kampf um die politische und wirtschaftliche und damit die physische und geistige Betreuung der Arbeiterklasse entsprängen. Er sei aber nicht in der Lage, die Agitation für die völlige Abstinenz von alkoholischen Getränken oder die Verpflichtung zur Abstinenz von alkoholischen Getränken als eine Aufgabe der Partei oder die Verpflichtung zur Abstinenz als Voraussetzung für die Parteizugehörigkeit zu erklären.

16./19. September 1902

Der erste Verbandstag des Zentralverbandes der Zivilmusiker in Hamburg fordert die Unterstellung der gesamten Musikerberufe unter die Gewerbe-, Arbeitsschutz- und Versicherungsgesetze. Der Lehrlingsausbeutung in Musikschulen und bei Stadtkapellen muß gesetzlich Einhalt geboten werden. Der Verbandstag fordert ein Verbot der gewerblichen Tätigkeit der Militärmusiker, weil sie ein schwerer Eingriff in das Erwerbsleben der hart um ihre Existenz ringenden Zivilmusiker darstellt.

22. September 1902

Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für soziale Reform in Köln wird Helene Simon von der Kölner Polizeibehörde untersagt, ihr Referat über die Notwendigkeit der Verkürzung der Arbeitszeit für Frauen zu halten. Die Behörde erklärt darüberhinaus die Teilnahme von Frauen als unzulässig. "Damen" dürfen nur in einem abgeschlossenen Raum den Verhandlungen beiwohnen und müssen sich jeder Beifalls- oder Mißfallensäußerungen enthalten.
Die Mehrzahl der Teilnehmer befürwortet einen gesetzlichen Zehnstundentag und die Verminderung der Arbeitszeit für Frauen.

22./24. September 1902

Auf der Jahrestagung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz in Köln wird der Zweck des Internationalen Arbeitsamtes neu formuliert: Es ist ein wissenschaftliches Institut. Es hat die ihm von der Vereinigung zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen und wird strengste parteipolitische Neutralität wahren. Die Tagung befürwortete das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und des weißen Phosphors sowie den Gebrauch des Bleiweißes so weit wie möglich einzuschränken.

1. Oktober 1902

Die "Deutsche Arbeitgeber-Zeitung" erscheint zum ersten Mal.
Sie soll die Waffe des "organisierten Arbeitgebertums" sein. "Allen Arbeitgebern, den größeren wie den kleineren, den industriellen wie den Handwerkern und Kaufleuten, ist das Bestreben nach einer Abwehr der Gefahr gemeinsam, welche durch den sozial-politischen Übereifer wohlmeinender, aber einseitiger und kurzsichtiger Reformatoren im Vereine mit der unablässigen Wühlarbeit der sozialdemokratischen Agitation den Fortbestand der Industrie und des Gewerbes zum unberechenbaren Schaden nicht nur der Arbeitgeber, sondern der Arbeitnehmer selbst bedroht", heißt es seitens der Arbeitgeber zum Erscheinen dieser Zeitung.

12. Oktober 1902

Der "Zentralverband christlicher Arbeiter und Arbeiterinnen der keramischen Industrie" wird gegründet.

1. November 1902

Der Vorstand des Bergarbeiterverbandes beliefert seine Mitglieder nicht mehr mit der "Oswiata", sondern beschließt, die Seite des Verbandsorgans, die bisher "feuilletonistischen" Inhalt hatte, in polnischer Sprache erscheinen zu lassen.
Die "Oswiata" erscheint weiter.

Der aus Opposition zur Tarifpolitik des Buchdruckerverbandes gegründete Verein der Buchdrucker und Schriftgießer tritt wieder dem Verband bei.
Die "Buchdrucker-Wacht" stellt ihr Erscheinen ein.

2./3. November 1902

Die Generalversammlung der Gärtner-Vereinigung in Hamburg lehnt endgültig den Übertritt zum "Allgemeinen Deutschen Gärtnerverein" ab und beschließt den Ausbau des eigenen Unterstützungswesens mit der Einführung einer Reise- und Arbeitslosenunterstützungskasse.

14. Dezember 1902

Der Reichstag nimmt mit 202 gegen 100 Stimmen die Gesetzesvorlage über die Erhöhung der Zolltarife an. In einem Aufruf "An das arbeitende Volk Deutschlands" bezeichnet die SPD-Fraktion den neuen Zolltarif als eine der schwersten Schädigungen für die Lebenshaltung und die wirtschaftliche Entwicklung der großen Mehrheit des deutschen Volkes, insbesondere der arbeitenden Klassen.

Ende 1902

Bei Verhandlungen mit einem Unternehmer in Ponitz (Thüringen) stellen Brauereiarbeiter zum ersten Mal die Forderung nach einer tarifvertraglichen Festlegung von Urlaub.

Die 60 der Generalkommission angeschlossenen Gewerkschaften haben rund 733.200 Mitglieder, davon 28.220 weibliche. Das ist ein Organisationsgrad von 14,42%. Die größten Gewerkschaften sind die der Metallarbeiter mit 128.840 (24,11%), die der Maurer mit 82.220 (34,65%), die der Holzarbeiter mit 70.390 (22,56%), die der Bergarbeiter mit 41.900 (11,19%) und die der Textilarbeiter mit 38.160 (6,38%).
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Notenstecher und der Formstecher mit je 289, die der Gärtner mit 312 (0,55%), die der Büroangestellten mit 371 und die der Masseure mit 388 Mitgliedern.
Die Gewerkschaften mit den meisten weiblichen Mitgliedern sind die der Textilarbeiter mit 6.650, die der Tabakarbeiter mit 5.530 von 17.830 und die der Fabrikarbeiter mit 3.485 von 33.650.
Von den Einnahmen gaben die Gewerkschaften rund 18% für die Streikunterstützungen, rund 14% für die Arbeitslosenunterstützungen und je rund 8% für die Krankenunterstützungen und die Verbandszeitungen aus.

Die Streikstatistik der Generalkommission weist für 1902 insgesamt 861 Streiks und Aussperrungen mit rund 55.710 Beteiligten aus.
Von den 861 Streiks waren 289 Angriffsstreiks, von denen 117 erfolgreich, 71 teilweise erfolgreich, 88 ohne Erfolg verliefen. Von 13 ist das Ergebnis unbekannt.
Bei 185 Streiks war Lohnerhöhung das Ziel.
572 der Streiks waren Abwehrstreiks, von denen 233 erfolgreich, 85 teilweise erfolgreich und 208 erfolglos waren. Von 16 Streiks ist das Ergebnis nicht bekannt.
277 Streiks wurden gegen Lohnreduzierungen geführt.

Die 19 Gewerkvereine haben rund 103.000 Mitglieder.
Die größten Gewerkvereine sind die der Maschinenbau- und Metallarbeiter mit rund 40.300, die der Fabrik- und Handarbeiter mit rund 21.190 und die der Kaufleute mit rund 7.700 Mitgliedern. Die kleinsten Gewerkvereine sind die der Vergolder mit 9 (!), die der Reepschläger mit 42 und die der Schiffzimmerer mit rund 190 Mitgliedern.
Der neu gegründete Gewerkverein der Frauen hat 690 Mitglieder.


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