TITLE/CONTENTS

Teildokument:
Franz Osterroth / Dieter Schuster
Chronik der deutschen Sozialdemokratie - Band 1

Zeitraum: 1877 - 1890

hier finden Sie Einträge zu folgenden Daten:

1877
3. Jan. 1877
3. Jan. / 13. Mai 1877
10. Jan. 1877
27. Jan. 1877
11. April 1877
27. / 29. Mai 1877
10. Aug. 1877
9. / 15. Sept. 1877
19. Sept. 1877
1. Okt. 1877
18. Okt. 1877
11. Nov. 1877
1. Dez.1877
1878
18. Jan. 1878
26. Jan. 1878
24. / 25. Febr. 1878
Frühjahr 1878
März 1878
15. März 1878
24. April 1878
Anfang Mai 1878
11. Mai 1878
23./24. Mai 1878
2.Juni 1878
11.Juni 1878
Juni 1878
30. Juli 1878
13. Aug. 1878
Sept. 1878
14. Okt. 1878
19. Okt. 1878
19. Okt. 1878
21. Okt. 1878
November 1878
19. Nov. 1878
29. Nov. 1878
15. Dez. 1878
Anfang 1879
3. Jan. 1879

15. März 1879
30.Juni 1879
August 1879
1. August 1879
17. Sept. 1879
28. Sept. 1879
21. Okt. 1879
2. März 1880
27. April 1880
4. Mai 1880
20. / 23. Aug. 1880
24. Okt. 1880
Nov. 1880
9. bis ca. 17. Dez. 1880
16. Febr. 1881
27. Juni 1881
27. Okt. 1881
17. Nov. 1881
22. Nov. 1881
10. Dez. 1881
31. Dez. 1881
1882
15. März 1882
3. Mai 1882
29. Mai 1882
13. Aug. 1882
17. Aug. 1882
19. / 2l. Aug. 1882
1883
Jan. 1883
Anf. März 1883
14. März 1883
29. März bis2. April 1883
April 1883
22. Mai 1883
Okt. / Nov. 1883
8. Dez. 1883
29. Dez. 1883
2. Jan 1884
l. April 1884

26. April 1884
12. Mai 1884
6. Juli 1884
16. Sept. 1884
18. Sept. 1884
Anf. Okt. 1884
28. Okt. 1884
26. Nov. 1884
Dez. 1884
29. Jan. 1885
April 1885
21.Juni 1885
Anf. Juli 1885
1886
18. Febr. 1886
31. März 1886
11. April 1886
1. Mai 1886
11. Mai 1886
Mai/Juni 1886
26. Juli bis4. Aug. 1886
16. Sept. 1886
9. Dez. 1886
16. Dez. 1886
1887
21. Jan. 1887
26. Jan. 1887
15. Febr. 1887
21. Febr. 1887
3. März 1887
17. u. 28. Mai 1887
15. Juli 1887
30. Aug. 1887
2. Okt. 1887
2./6. Okt. 1887
1888
9. Febr. 1888
13. Febr. 1888
17. Febr. 1888
2. März 1888

15. April 1888
18. April 1888
15.Juni 1888
1. Okt. 1888
1889
28. Febr. 1889
18. März 1889
3. Mai 1889
24. Mai 1889
3. Juli 1889
14./20. Juli 1889
20. Juli 1889
18. Aug. 1889
23. Okt. 1889
26. Okt. 1889
7. Dez.1889
30. Dez. 1889
25. Jan. 1890
4. Febr. 1890
20. Febr. 1890
15./29. März 1890
20. März 1890
23. März 1890
1. Mai 1890
8. Mai 1890
28. Juni 1890
6. Aug. 1890
8. Aug. 1890
27. Sept. 1890
1. Okt. 1890
12./18. Okt. 1890
Nov.1890
16./17. Nov. 1890



1877 - 1890

1877

Im Laufe des Jahres bringen die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten mehrere Gesetzentwürfe zum neuen Gewerbegesetz ein, in denen der zehnstündige Arbeitstag, die Wahl von Gewerbekammern und -gerichten, die Anstellung von Fabrikinspektoren, die gesundheitspolizeiliche Überwachung der Arbeitsräume und die Befreiung der gewerkschaftlichen Organisationen von den reaktionären Vereinsgesetzen gefordert werden.

3. Jan. 1877

A. Bebel spricht in einer Volksversammlung über »Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum Sozialismus« und fordert zum ersten Mal die Frauen auf, bei dem kommenden Reichstagswahlkampf aktiv mitzuarbeiten.

3. Jan. / 13. Mai 1877

F. Engels veröffentlicht im »Vorwärts« den ersten Teil seiner Arbeit »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«.

10. Jan. 1877

Bei der Reichstagswahl kandidiert die Partei in 175 Kreisen und erhält 493 447 Stimmen, das sind 9,1 Prozent der Gesamtstimmenzahl. Die Stimmenzahl ist gegenüber der letzten Wahl um 36 Prozent gestiegen. Nach ihrer Stimmenzahl ist die Sozialdemokratie die viertstärkste Partei geworden. Bei einer besseren Wahlkreiseinteilung müßte die Partei 36 Mandate erhalten, so bekommt sie nur 12, sie hat gegenüber 1874 drei Sitze gewonnen. Berlin und Dresden senden zum ersten Mal sozialdemokratische Abgeordnete in den Reichstag.

27. Jan. 1877

Das Berliner Stadtgericht verbietet den Sozialistischen Arbeiterverein für den Geltungsbereich des preußischen Vereinsgesetzes und verurteilt einige Sozialdemokraten, darunter A. Geib, zu mehrwöchigen Gefängnisstrafen.

11. April 1877

Die sozialdemokratischen Abgeordneten, unterstützt von vier bürgerlichen, reichen den Entwurf eines Arbeiterschutzgesetzes im Reichstag ein. In ihm wird verlangt: Ein Vorgehen gegen Trunkunwesen, Lohneinbehaltung, Gefängnisarbeit für Privatunternehmer und Mißstände im Lehrlingswesen; der 9-Stunden-Tag; für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren acht Stunden; Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit mit ganz bestimmten Ausnahmen; Verbot bestimmter Arbeiten für Arbeiterinnen (unter der Erde, bei Hochbauten); für Schwangere eine Schonzeit von drei Wochen und Wöchnerinnen von sechs Wochen; Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren; obligatorische Fach- und Fortbildungsschulen bis zum 18. Lebensjahr; Gleichheit der Kündigungsfrist für Unternehmer und Arbeiter; obligatorische Gewerbegerichte - paritätisch besetzt - und Gewerbekammern.

27. / 29. Mai 1877

Der Parteikongreß findet erneut in Gotha statt. 32 000 Mitglieder aus 251 Orten haben 95 Delegierte entsandt. Tagesordnung: Sozialismus und Kleinbürgertum (A. Kapell; M. Neißer). Zur Debatte stehen u. a. Organisations- und Pressefragen. Die Zahl der Parteiorgane ist inzwischen auf 41 gestiegen. Der »Vorwärts« hat 12 000 Abonnenten; 14 Druckereien sind Eigentum der Partei.
Der Kongreß beschließt, von einer formellen Organisation der Partei vorläufig Abstand zu nehmen. Den Parteimitgliedern wird es freigestellt, sich nach den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zu organisieren, um die Anwendung der bestehenden Vereinsgesetze zu vermeiden. Eine längere Debatte entspinnt sich über die Artikelserie von F. Engels »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft«. Der Kongreß einigt sich auf einen Kompromiß A. Bebels nachdem J. Mosts Auffassung, die Artikel von F. Engels seien für die meisten Leser des »Vorwärts« völlig ohne Interesse, keine Mehrheit gefunden hatte, die Veröffentlichung im »Vorwärts« nicht fortzusetzen, sondern sie in einer Broschüre oder in der vorgesehenen wissenschaftlichen Beilage des »Vorwärts« zu veröffentlichen. Er beschließt, ab 1. Oktober 1877 eine wissenschaftliche Revue herauszugeben.

In das Zentralwahlkomitee werden G. W. Hartmann, H. Brasch, K. Derossi, I. Auer und A. Geib gewählt, zum Sitz der Kontrollkommission wird Bremen bestimmt.

10. Aug. 1877

R. Hilferding in Wien geboren.

9. / 15. Sept. 1877

Internationaler Sozialistenkongreß in Gent. 45 Delegierte. W. Liebknecht vertritt die deutsche Sozialdemokratie. Im Mittelpunkt des Kongresses stehen die Auseinandersetzungen mit den Anarchisten. Ein Solidaritätspakt mit ihnen wird abgelehnt.

19. Sept. 1877

Die Sozialdemokraten beteiligen sich zum ersten Mal an den Landtagswahlen in Sachsen. W. Liebknecht wird im Wahlkreis Amt Stollberg gewählt. Er ist somit der erste Sozialdemokrat, der in einer vom Zensuswahlrecht bestimmten Wahl gewählt wird. Seine Wahl wird nicht anerkannt, da er noch nicht drei Jahre lang sächsischer Staatsangehöriger ist. In einer Nachwahl erobert der Rechtsanwalt O. Freytag den Wahlkreis. O. Freytag verteidigte u. a. A. Bebel, W. Liebknecht und A. Hepner im Hochverratsprozeß 1872.

1. Okt. 1877

K. Höchberg gibt in Berlin aus eigenen Mitteln die sozialistische Halbmonatsschrift »Die Zukunft« heraus. Sie erscheint bis zu ihrem Verbot im November 1878. Ihr Programmartikel wird von K. Marx heftig angegriffen.

18. Okt. 1877

A. Bebel wird in einer Revisionsverhandlung wegen Beleidigung O. v. Bismarcks zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem im ersten Prozeß Staatsanwalt H. v. Tessendorff neun Monate Gefängnis beantragt hat.

11. Nov. 1877

Anstelle der verbotenen Parteiorganisation wird in Berlin der »Verein zur Wahrung der Interessen der werktätigen Bevölkerung Berlins« gegründet.

1. Dez.1877

Die sächsische 2. Kammer lehnt einen Antrag O. Freytags auf Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts, die Abschaffung des Zensus und die Streichung der Bestimmungen, daß das Wahlrecht erst mit dem 30. Lebensjahr und einer dreijährigen Staatsangehörigkeit verbunden ist, fast einstimmig ab.

1878

F. Engels' »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« erscheint als Buch.

18. Jan. 1878

Der Hofprediger A. Stöcker tritt zum ersten Male mit seiner gegen die Sozialdemokratie gerichteten christlich-sozialen Arbeiterpartei hervor, der nur sehr mäßiger Erfolg beschieden ist. Sie weist später immer stärker antisemitische Züge auf. A. Stöcker findet vornehmlich im Kleinbürgertum Anklang.

26. Jan. 1878

Das Gewerkschaftsblatt »Pionier« veröffentlicht eine von A. Geib zusammengestellte Statistik, nach der 26 gewerkschaftliche Zentralverbände und fünf Lokalverbände bestehen, die in etwa 1300 Orten mehr als 49 000 Mitglieder zählen.

24. / 25. Febr. 1878

Eine Gewerkschaftskonferenz in Gotha diskutiert eine Zentralisierung der Gewerkschaften und beschließt, eine weitere Konferenz nach Magdeburg einzuberufen.

Frühjahr 1878

Die Sozialdemokraten bringen im Reichstag folgenden Antrag ein: »Alle Einwohner des Deutschen Reiches haben das Recht, ohne polizeiliche Anmeldung oder Genehmigung zu jeder Zeit und in jedem Orte - unter freiem Himmel wie in geschlossenen Räumen - sich zu versammeln und Vereine zu politischen Zwecken zu gründen. Alle Vereins- und Versammlungsgesetze der deutschen Einzelstaaten sind aufgehoben.«

Der Antrag wird im Reichstag nicht behandelt.

März 1878

Nach einer Untersuchung des liberalen Politikers L. Bamberger existieren 75 Parteiblätter mit über 135 000 Abonnenten. »So ist Deutschland die Pflanzschule für die Ausbreitung des Sozialismus in der übrigen Welt geworden.«

15. März 1878

Die Leitung des Berliner Vereins teilt in der »Berliner Freien Presse«, dem sozialdemokratischen Tageblatt, mit, daß sie sich künftighin auch an den Berliner Kommunalwahlen, trotz der Schwierigkeiten durch das Dreiklassenwahlrecht, beteiligen werden.

24. April 1878

Der Redakteur P. Dentler ist trotz seines schwerkranken Zustandes nicht aus der Haft - er war zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt - entlassen worden und an einem Blutsturz gestorben. Nachdem es bereits beim Begräbnis des am 7. März 1878 gestorbenen Organisators der Berliner sozialistischen Bewegung, A. Heinsch, zu einer großen Demonstration gekommen war, schreibt nun die bürgerliche »Magdeburger Zeitung«: »Wer spricht noch von Arbeiterbataillonen Berlins angesichts dieses Aufgebots? Das sind Regimenter, Brigaden, Divisionen, ja mehr, das sind ganze Armeekorps, welche ihrem sicherlich um die Sache hochverdienten Toten die letzte Ehre erweisen.«

Anfang Mai 1878

Das Zentralwahlkomitee der Partei ruft einen Parteikongreß für den 15. bis 18. Juni nach Gotha ein. Als Punkt 3 der Tagesordnung soll die Stellung der Sozialdemokratie zu Staats- und Gemeindebetrieben behandelt werden. Anlaß sind die Diskussionen, die Eisenbahnen in Deutschland in Reichsbesitz zu übernehmen und das Tabakmonopol einzuführen. Der Kongreß findet nicht statt.

11. Mai 1878

Der Klempnergeselle M. Hödel schießt »Unter den Linden« in Berlin auf Wilhelm I., ohne ihn zu treffen. Der Attentäter ist ein geistig und körperlich zerrütteter Mensch, der einmal einem sozialdemokratischen Verein angehört hat, aber nach kurzer Zeit ausgeschlossen worden war. In Berlin war er auch der Partei A. Stöckers beigetreten. M. Hödel wird später hingerichtet. Nach dem Attentat fordert O. v. Bismarck sofort ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Bereits am 17. Mai wird dem Bundesrat ein Gesetzentwurf vorgelegt, dem dieser zustimmt.

23./24. Mai 1878

Beratung des Entwurfes des »Gesetzes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen« im Reichstag. Das Ausnahmegesetz wird mit 251 gegen 57 Stimmen abgelehnt. Nur die beiden konservativen Fraktionen und drei nationalliberale Professoren, darunter der Historiker H. v. Treitschke, sprechen sich dafür aus. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärt: »Der Versuch, die Tat eines Wahnsinnigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung abgeschlossen ist, zur Ausführung eines lange vorbereiteten Reaktionsstreiches zu benutzen und die >moralische Urheberschaft< des noch unerwiesenen Mordattentates auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwälzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst. . . vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen. . .« Es sei mit der Würde der Sozialdemokraten nicht vereinbar, an der Debatte über das Gesetz teilzunehmen.

2.Juni 1878

K. Nobiling verwundet »Unter den Linden« in Berlin mit einem Schuß den Kaiser schwer. Er selbst erliegt einige Zeit später einem Selbstmordversuch. Später wird behauptet, K. Nobiling habe noch gestanden, sozialistischen Tendenzen zu huldigen und sozialdemokratische Versammlungen besucht zu haben. Nach diesem Attentat beginnt in ganz Deutschland, besonders in Preußen, eine umfangreiche Hetze gegen die Sozialdemokraten.

11.Juni 1878

Der Reichstag wird aufgelöst, da O. v. Bismarck mit Stimmenverlusten der liberalen Parteien bei den kommenden Wahlen rechnet und damit die Freunde eines Ausnahmegesetzes gestärkt werden. Während des Wahlkampfes gehen Polizei und Gerichte äußerst scharf gegen die Sozialdemokraten vor: Haussuchungen, Verhaftungen, Anklagen und Versammlungsauflösungen. Der nach Gotha einberufene Parteikongreß wird verboten. H. v. Treitschke fordert die Unternehmer auf, sozialdemokratische Arbeiter zu entlassen. Der »Vorwärts« veröffentlicht wochenlang das Motto: »Laßt Euch nicht provozieren! Man will schießen!«

Juni 1878

Die Sozialdemokraten beschließen, nur da Kandidaten aufzustellen, wo Chancen auf deren Wahl bestehen.

30. Juli 1878

Bei der Reichstagswahl werden für die Sozialdemokratie 437158 Stimmen abgegeben, das sind nur 56289 weniger als 1877. Immer noch sind es 7,6 Prozent der Gesamtstimmenzahl, die auf sie entfallen; sie ist damit die fünftstärkste Partei geworden. Nach der Hetze und den politischen Übergriffen während des Wahlkampfes ist das ein bedeutender Erfolg.
In Berlin steigt die Stimmenzahl von 31 522 auf 56 147. In Breslau wird zum ersten Mal ein Mandat gewonnen. Die Sozialdemokratie zieht mit neun Abgeordneten in den neuen Reichstag ein. Die Liberalen verlieren 39 Sitze.

13. Aug. 1878

Ein neuer Entwurf eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie wird von der Regierung dem Bundesrat vorgelegt, der ihn annimmt. Darauf wird er am 9. September im Reichstag eingebracht.

Sept. 1878

Nach Beendigung der ersten Lesung des Gesetzes am 17. September beraten in Hamburg Fraktion und Parteiausschuß über die nach Inkrafttreten des Gesetzes zu ergreifenden Maßnahmen.
A. Geib schlägt die Auflösung der Partei vor, noch bevor das Gesetz in Kraft getreten sei, was nach lebhaften Auseinandersetzungen beschlossen wird. A. Geib tritt zurück. A. Bebel übernimmt das Amt des Kassierers. Die Zentralstelle wird nach Leipzig verlegt.

14. Okt. 1878

Der »Vorwärts« veröffentlicht eine Kundgebung, daß es in wenigen Tagen keine Organisation der Gesamtpartei mit einheitlicher Leitung mehr geben werde. »Parteigenossen! Schulter an Schulter könnt Ihr in nächster Zeit nicht mehr stehen. Eine neue Zeit - eine neue Kampfesart - das sagt alles. Und nun guten Mutes wie immer!«

19. Okt. 1878

Der Reichstag nimmt nach langen Debatten im Plenum und in einer Kommission mit 221 gegen 149 Stimmen der Sozialdemokraten, des Zentrums und der Fortschrittspartei das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« an. Der erst als Mitglied der Kommission vorgesehene A. Bebel wird nicht gewählt. W. Bracke erklärt im Reichstag: »Wir pfeifen auf das Gesetz.«
Nach dem Gesetz können die Landespolizeibehörden sozialistische Vereine und Verbindungen jeder Art, insbesondere genossenschaftliche Kassen, sowie Druckschriften, Versammlungen und Sammlungen verbieten. Verstöße gegen die Verbote, die Teilnahme an verbotenen Vereinen, die Verbreitung verbotener Druckschriften werden mit schweren Strafen bedroht: »Berufsmäßige Agitatoren« und Verurteilte können aus bestimmten Gebieten ausgewiesen werden. Gastwirten, Buchdruckern und Buchhändlern usw. kann die Gewerbeerlaubnis entzogen werden. O. v. Bismarcks Versuch, den Sozialdemokraten das aktive und passive Wahlrecht zu entziehen, scheitert am Widerstand des Reichstages. So bietet der Reichstag während der Dauer des »Sozialistengesetzes« die einzige Möglichkeit, legal sozialistische Auffassungen zu vertreten. Die Dauer des Gesetzes ist zunächst bis zum 31. März 1881 festgesetzt worden, kann aber immer verlängert werden.

19. Okt. 1878

Das Zentralwahlkomitee erläßt einen Aufruf: »An die Parteigenossen«, den der »Vorwärts« am 21. Oktober veröffentlicht und in dem es u. a. heißt: »Nicht gewillt, erst die polizeiliche Auslegung des Wortes >Umsturz< abzuwarten, da der alte Begriff Umsturz hinreichend >untergraben< ist, um jede Auslegung desselben zu ermöglichen, haben wir beschlossen, das Zentralwahlkomitee selbst aufzulösen. Mit heutigem Tage erfolgt dessen Abmeldung bei der Behörde und ist folglich der Rest einer centralistischen Parteiorganisation in Deutschland verschwunden ... Einig in der Taktik auch zur Zeit der Bedrängnis, das ist Gewähr für eine bessere Zukunft!«

21. Okt. 1878

Das Ausnahmegesetz wird im »Reichsanzeiger« veröffentlicht und damit rechtskräftig, nachdem der Bundesrat das Gesetz gegen die Stimme von Reuß ä.L. angenommen hat.
Sofort nach Inkrafttreten setzt eine heftige Verfolgung der Sozialdemokraten und ihrer Presse ein. Von den politischen Zeitungen gelingt es nur zweien, ihre Existenz zu erhalten. Sie hatten rechtzeitig ihren Titel geändert und geben sich betont parteipolitisch neutral. Die Parteimitglieder halten in Gesangvereinen, Kegelklubs und Unterstützungsvereinen weiterhin Kontakt. Die Führung der Partei wird auf die Reichstagsfraktion übertragen.
Auch die Gewerkschaften entgehen nicht Unterdrückungsmaßnahmen.

November 1878

Eine Zusammenstellung der bis zu diesem Zeitpunkt auf Grund des Sozialistengesetzes erlassenen Verbote ergibt: 153 Vereine, 40 periodische und 213 nicht-periodische Druckschriften. Davon entfallen allein auf Preußen 44 Vereine, 15 periodische und 91 nicht-periodische Druckschriften, auf Bayern 4 Vereine, 2 periodische, 15 nicht-periodische Druckschriften; auf Sachsen 39 Vereine, 13 periodische, 15 nicht-periodische Druckschriften; auf Hessen 33 Vereine.

19. Nov. 1878

Die Sozialdemokratie beteiligt sich zum ersten Mal an den Kommunalwahlen in Berlin. Mandate gewinnt sie nicht.

29. Nov. 1878

Die Berliner Polizei weist auf Grund des am 28. November über Berlin verhängten kleinen Belagerungszustandes 67 Sozialdemokraten aus. In einem Aufruf mahnen sie ihre Parteigenossen: »Keine Gewalttätigkeiten, achtet die Gesetze, verteidigt aber innerhalb des Rahmens derselben Eure Rechte! Laßt Euch nicht provozieren!«

15. Dez. 1878

Trotz aller Behinderungen erzielen die Sozialdemokraten bei Kommunalwahlen in Leipzig gute Erfolge.

Die erste Nummer von »Die Laterne« - herausgegeben von K. Hirsch - gedruckt in Brüssel, erscheint in Westentaschenformat. Sie soll als Ersatz für die verbotenen Parteizeitungen nach Deutschland geschickt werden. Doch sie hat keinen Erfolg und stellt am 29. Juni 1879 ihr Erscheinen wieder ein.

Anfang 1879

A. Bebels Buch »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« erscheint und erlebt trotz eines Verbreitungsverbotes unter dem Sozialistengesetz acht Auflagen. Es wird mit anders bedruckten Buchumschlägen versehen.

3. Jan. 1879

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach London ausgewandert, gründet J. Most mit Unterstützung von Mitgliedern des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins die »Freiheit«. Nach einiger Zeit entwickelt sich die »Freiheit« immer stärker zum Organ anarchistischer Bestrebungen. J. Most richtet bald gehässige Angriffe gegen Sozialdemokraten in Deutschland.

15. März 1879

Marie Juchacz in Landsberg (Warthe) geboren.

30.Juni 1879

Bis zu diesem Tag werden im ganzen 647 Verbote erlassen; verboten werden 217 Vereine, 5 Kassen, 127 periodische und 278 nicht-periodische Druckschriften.

August 1879

In Zürich erscheint das von K. Höchberg finanzierte und unter dem Pseudonym L. Richter herausgegebene »Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«. Darin haben A. Schramm und K. Höchberg einen Artikel veröffentlicht »Rückblicke auf die sozialistische Bewegung«, Kritische Aphorismen von ***, in dem sie an der bisherigen Politik und Haltung der Partei heftige Kritik üben. (Als der dritte Stern wird zu Unrecht E. Bernstein genannt; vielmehr stammt die Grundlage des Artikels von einem Studienfreund K. Höchbergs, K. Flesch.) Der Artikel wird heftig kritisiert, besonders von K. Marx und F. Engels.

1. August 1879

A. Geib, geboren am 10. August 1842 in Duchroth/Rheinpf., in Hamburg gestorben. 30 000 Hamburger Arbeiter geleiten den Toten in einer eindrucksvollen Demonstration zu Grabe.

17. Sept. 1879

K. Marx und F. Engels richten ein von F. Engels verfaßtes umfangreiches Schreiben an A. Bebel und die Reichstagsfraktion, in dem sie gegen die Duldung und Unterstützung opportunistischer Parteimitglieder, die die Partei in eine kleinbürgerliche Reformpartei zu verwandeln suchen, heftig protestieren. Gegenüber dem geplanten »Sozialdemokrat« sind K. Marx und F. Engels zunächst sehr abweisend eingestellt. Sie lehnen jede Mitarbeit ab.

28. Sept. 1879

Die erste Probenummer des »Sozialdemokrat«, Internationales Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge, erscheint in Zürich, wo zu dieser Zeit sehr viele Sozialdemokraten wohnen, u. a. E. Bernstein und K. Kautsky. Redakteur ist G. v. Vollmar, von der 2. Nummer 1881 an E. Bernstein. Während des Sozialistengesetzes wird der »Sozialdemokrat«, der einmal wöchentlich erscheint, in immer größerer Auflage nach Deutschland geschmuggelt und geschickt, in den letzten Jahren sogar zum Teil in Deutschland gedruckt, ohne daß es der Polizei trotz größter Anstrengung gelingt, die Verteilung des Blattes zu verhindern. Diese Aufgaben werden von J. Motteler und J. Belli mit seiner »roten Feldpost« mit großer Phantasie und großem Organisationstalent gemeistert. Nach drei Monaten werden bereits 3600 Exemplare gedruckt, Mitte der achtziger Jahre sind es 12 000.

21. Okt. 1879

Im ersten Jahr des Sozialistengesetzes werden 244 Vereine, 184 periodische und 307 nicht-periodische Zeitungen und Zeitschriften verboten.

2. März 1880

I. Auer wird in Glauchau-Meerane bei einer Nachwahl mit 8225 gegen 7288 bürgerliche Stimmen in den Reichstag gewählt. Trotz der großen Notlage innerhalb der Arbeiterschaft verzichten viele Arbeiter auf öffentliche Unterstützungen, um dadurch ihr Wahlrecht nicht zu verlieren.

A. Bebel erklärt im Reichstag, »sollte es dahin kommen, daß irgendeine Macht deutsches Gebiet erobern wollte, werde die Sozialdemokratie gegen diesen Feind gerade so gut Front machen, wie jede andere Partei«.

27. April 1880

W. Bracke, geboren am 29. Mai 1842 in Braunschweig, dort auch gestorben. Er war 1865 Vorsitzender der Braunschweiger Gruppe des ADAV, gründete 1871 den »Volksfreund« und wurde dessen Schriftleiter; seit 1877 MdR. Die Polizei hat das Tragen von Traueremblemen im Zuge und jede Rede am Grabe verboten, doch gestaltet sich das Begräbnis wieder zu einer friedlichen aber eindrucksvollen Demonstration der Sozialdemokraten.

Bei einer Nachwahl im 2. Hamburger Wahlkreis wird der Sozialdemokrat G. W. Hartmann trotz der Unterdrückung jeder Wahlagitation, Verhaftung des Wahlkomitees und Beschlagnahme des Wahlfonds mit rund 3000 Stimmen Mehrheit gewählt. Der Hamburger Wahlkreis ist der erste, der unter dem Sozialistengesetz neu erobert wird.

4. Mai 1880

Der Reichstag nimmt mit 191 gegen 94 Stimmen den Gesetzentwurf an, das Sozialistengesetz bis zum September 1884 zu verlängern. Das Verlangen der Regierung, das Gesetz bis zum 31. März 1886 zu verlängern, wird dagegen abgelehnt.

Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete W. Hasselmann begrüßt die Attentate russischer Nihilisten und Anarchisten. Die Fraktion distanziert sich von ihm. W. Hasselmann wandert bald darauf nach den USA aus.

20. / 23. Aug. 1880

In Schloß Wyden im Kanton Zürich findet der erste geheime Kongreß der Sozialdemokratie nach Erlaß des Sozialistengesetzes statt. 52 Delegierte und einige ausländische Gäste sind in Wyden versammelt. Die organisatorische Vorbereitung liegt in den Händen von J. Motteler. Tagesordnung: allg. Bericht über die Parteiverhältnisse (A. Bebel); die Spaltungsversuche in der Partei (Angelegenheit J. Most u. W. Hasselmann) (I. Auer; A. Bebel); Bericht über das Verhalten der Abgeordneten im Reichstag (W. Liebknecht); Organisationsfragen; die Presse. Bericht über den Stand des »Sozialdemokrat« (J. Motteler). Der Kongreß tadelt sehr heftig das Verhalten von J. Most und W. Hasselmann, den Wortführern anarchistischer Bestrebungen. Er stellt fest, daß beide nicht mehr zur Partei gehörig zu betrachten seien.

Der Kongreß beschließt, das Wort »gesetzlich« aus dem »Gothaer Programm« zu streichen. Da die Partei rechtlos, gesetzliches Wirken ihr unmöglich gemacht worden sei, habe das Wort »gesetzlich« jeden Sinn verloren. Die Partei strebe nun mit allen Mitteln nach ihrem Ziel.

Den Parteigenossen wird empfohlen, sich aus agitatorischen und propagandistischen Rücksichten mit allen Kräften an den Reichstags- und Landtagswahlen zu beteiligen. Auf Antrag von I. Auer wird der Reichstagsfraktion die offizielle Parteivertretung übertragen: die Organisation an den einzelnen Orten bleibt den dort lebenden Genossen überlassen. Der »Sozialdemokrat« wird als offizielles Parteiorgan anerkannt.

Seit Inkrafttreten des Sozialistengesetzes hat die Partei an Beiträgen und Spenden rund 37 310 Mark eingenommen. Davon sind rund 27 650 Mark für die verschiedenen Unterstützungszwecke verwendet worden.

24. Okt. 1880

Über Hamburg und Umgebung wird der »kleine Belagerungszustand« verhängt. Sofort werden 75 Personen ausgewiesen, unter denen sich I. Auer, W. Blos und J. H. W. Dietz befinden. Im Lauf der Jahre steigt die Zahl der aus Hamburg Ausgewiesenen auf 350.

Nov. 1880

Nachdem G. v. Vollmar seine Stelle als Redakteur beim »Sozialdemokrat« gekündigt hat, um nach Deutschland zurückzukehren, wird K. Hirsch provisorisch zum neuen Redakteur gewählt.

9. bis ca. 17. Dez. 1880

A. Bebel und E. Bernstein, später auch P. Singer, fahren nach London, um sich mit K. Marx und F. Engels zu treffen. Die Parteidifferenzen und die Haltung des »Sozialdemokrat« werden eingehend erörtert.

16. Febr. 1881

H. Vogel in Oberortelshofen (Franken) geboren.

27. Juni 1881

An diesem Tag tritt der von der sächsischen Regierung auf Drängen von Preußen über die Stadt und die Amtshauptmannschaft Leipzig verhängte kleine Belagerungszustand zunächst für ein Jahr in Kraft, doch wird dieser »Zustand« regelmäßig verlängert. A. Bebel, W. Liebknecht, W. Hasenclever und weitere Mitglieder der Partei, darunter einige, die bereits Berlin verlassen mußten, werden sofort ausgewiesen.

27. Okt. 1881

Bei den Reichstagswahlen erhält die Sozialdemokratie 311961 Stimmen = 6,1 %, das sind 125 197 Stimmen weniger als 1878. Dennoch ist es ein großer Erfolg für die Partei, da sie den Wahlkampf nur unter großen Behinderungen - polizeilichen Verboten, Verhaftungen und anderen Schikanen - führen konnte. Zwölf Sozialdemokraten kommen in den neuen Reichstag. Entscheidend wird das Zentrum im Reichstag mit 23,2% dafür abgegebenen Stimmen. Der Berliner »Times«-Korrespondent berichtet, daß man besonders in den »hohen und höchsten Regionen« über die Stärke der Sozialdemokratie bestürzt sei.

A. Bebel unterliegt in drei Stichwahlen. Er gelangt erst 1883 wieder in den Reichstag.

17. Nov. 1881

Der Reichstag wird mit einer kaiserlichen Botschaft anstelle der üblichen Thronrede eröffnet, in der der Kaiser zuversichtlich äußert, daß der Reichstag seine Mitwirkung zur Heilung sozialer Schäden im Wege der Gesetzgebung nicht versagen werde, und zwar durch Repression sozialistischer Ausschreitungen und Förderung des Wohles der Arbeiter. Damit beginnt der Versuch der Regierung, durch eine Reihe sozialer Gesetze - Unfall-, Alters- und Krankenversicherung - die Arbeiter stärker an den bestehenden Staat zu binden. Die Handhabung des Sozialistengesetzes jedoch führt nicht zu einer Versöhnung der Arbeiter gegenüber dem Staat, sondern zu wachsendem Mißtrauen und großer Erbitterung.

22. Nov. 1881

Der Bundesrat verlängert den kleinen Belagerungszustand über Berlin wiederum um ein Jahr. Gleichzeitig gibt er bekannt, daß bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt aus Berlin 155, aus Hamburg und Umgebung 195 und aus Leipzig und Umgebung 70 Sozialdemokraten ausgewiesen worden seien.

10. Dez. 1881

W. Hasenclever greift im Rahmen der Debatte über einen Rechenschaftsbericht, betreffend die Ausführung des Sozialistengesetzes, die Praxis der Regierung als rigoros und unnötig hart an. Die Abgeordneten der liberalen Fortschrittspartei sprechen sich für die Abschaffung des Gesetzes aus.

31. Dez. 1881

Gründung des Verlages J. H. W. Dietz in Stuttgart; J. H. W. Dietz war 1880 aus Hamburg ausgewiesen worden.

1882

Noch sind 39% aller Berufstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt. Das sind genau soviel wie in Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr zusammen.

Erst drei von 1000 Industriebetrieben sind Unternehmen mit mehr als 50 Arbeitern.

15. März 1882

Das Reichsgericht entscheidet, daß die Verteilung sozialdemokratischer Wahlzettel strafbar sei.

3. Mai 1882

Die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten beantragen ergebnislos, alle Ausnahmegesetze aufzuheben, zum Beispiel das Jesuitengesetz, den Kanzelparagraphen im Strafgesetzbuch, den Diktaturparagraphen für Elsaß-Lothringen und das Sozialistengesetz.

29. Mai 1882

In Gelsenkirchen wird der erste evangelische Arbeiterverein gegründet. 1900 gibt es 95 Vereine mit 28 000 Mitgliedern.

13. Aug. 1882

Zahlreiche Sozialdemokraten werden aus Berlin ausgewiesen. Bei ihrer Abreise kommt es zu Demonstrationen.

17. Aug. 1882

G. v. Vollmar veröffentlicht im »Sozialdemokrat« den ersten Teil eines Aufsatzes: »Aufhebung des Ausnahmegesetzes«, in dem er die Auffassung vertritt, die Aufhebung des Sozialistengesetzes werde der Partei keine Vorteile bringen, weil dann eine Verschärfung der allgemeinen Gesetzgebung beginnen werde. A. Bebel greift diese Auffassung G. v. Vollmars an.

19. / 2l. Aug. 1882

In Zürich findet eine Konferenz der Reichstagsabgeordneten mit Redaktion und Verwaltung des »Sozialdemokrat« sowie I. Auer und A. Bebel statt. Die Taktik der Partei und organisatorische Fragen werden dabei diskutiert.

Auf Anregung von A. Bebel wird die Errichtung eines Parteiarchivs beschlossen, das von H. Schlüter aufgebaut und verwaltet wird.

1883

Erneute Wirtschaftskrise, die bis 1886 dauert.

Es erscheinen eine Reihe zunächst getarnter Parteizeitungen: In Hamburg »Gerichtszeitung«, dann »Bürgerzeitung«, dann »Hamburger Echo«. In Leipzig »Leipziger Volksblatt«, »Der Wähler«, in Dresden »Sächsisches Wochenblatt«, dann »Sächsische Arbeiterzeitung«, in Nürnberg »Fränkische Tagespost«; in München »Süddeutsche Post«, später »Münchner Post«. Ferner der »Karlsruher Volksfreund«, das »Offenbacher Abendblatt«.

Jan. 1883

In Stuttgart erscheint die erste Nummer der theoretischen Monatsschrift »Die Neue Zeit«. Herausgeber ist J. H. W. Dietz. Die Redaktion liegt bei K. Kautsky. »Die Neue Zeit« erscheint zunächst monatlich.

Anf. März 1883

F. Engels' Broschüre »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« wird in Hottingen b. Zürich veröffentlicht.

14. März 1883

K. Marx, geboren 5. Mai 1818 in Trier, Studium und Promotion, Journalist und Redakteur, Oktober 1843 Emigration nach Paris und Brüssel, seit 1844 mit F. Engels befreundet, 1847 Gründung des »Bundes der Kommunisten«, 1848/49 Leiter der »Neuen Rheinischen Zeitung«. Nach Ausweisung emigriert K. Marx 1849 über Paris nach London; Mitarbeiter an der »New-York Daily Tribüne« bis 1862, Ausarbeitung seiner ökonomischen Lehre, 1864 führender Kopf der Internationalen Arbeiterassoziation (l. Internationale), enger Kontakt mit A. Bebel, W. Bracke und W. Liebknecht, in London gestorben.

29. März bis
2. April 1883

In Kopenhagen findet ein Parteikongreß statt. 60 Delegierte sind erschienen. Tagesordnung u. a.: Allg. Bericht über die Situation der Partei; Bericht über die Tätigkeit der Reichsabgeordneten; die Taktik der Partei und die Haltung des »Sozialdemokrat«.
Der Kongreß erklärt, bei der sogenannten Sozialreform könne man nach den bisherigen Erfahrungen weder an die ehrlichen Absichten noch an die Fähigkeiten der herrschenden Klasse glauben, sondern sei überzeugt, daß die sogenannte Sozialreform nur als taktisches Mittel benutzt werde, um die Arbeiter vom wahren Weg abzulenken. Es sei aber Pflicht der Parteivertreter in den Parlamenten, bei allen auf die ökonomische Lage des Volkes gerichteten Bestrebungen, gleich welchen Motiven sie entsprängen, die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen, ohne auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu verzichten.
Der Kongreß billigt die Haltung des »Sozialdemokrat«. Er verpflichtet die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Kandidaten, sich an das Programm zu halten und Parteidisziplin zu üben.
Auf der Rückreise werden unter anderem I. Auer, A. Bebel, J. H. W. Dietz, K. Frohme, K. Ulrich, L. Viereck und G. v. Vollmar vorübergehend verhaftet.

April 1883

Gertrud Guilleaume-Schack gründet 16 Arbeiterinnenvereine und gibt als deren Vereinsorgan »Die Staatsbürgerin«, die erste sozialistisch orientierte Frauenzeitschrift Deutschlands, heraus. Die Vereine werden bald aufgelöst.

22. Mai 1883

Der Reichstag nimmt gegen die Stimmen der Sozialdemokratie und der Linksliberalen den Gesetzentwurf über die Krankenversicherung der Arbeiter an. Die Beiträge werden zu zwei Dritteln von den Arbeitern, zu einem Drittel von den Unternehmern aufgebracht. Die Versicherung gewährt freie ärztliche Behandlung, Arznei und Krankengeld.

Die Sozialdemokraten hatten vor allem kritisiert, daß die Versicherungspflicht auf die städtischen Lohnarbeiter beschränkt bleibe und fordern die Selbstverwaltung der Kassen.

Okt. / Nov. 1883

Im Hamburg und in Berlin wird der kleine Belagerungszustand um ein weiteres Jahr verlängert.

8. Dez. 1883

Zum ersten Mal beteiligen sich die Sozialdemokraten an den Kommunalwahlen in Württemberg.

29. Dez. 1883

In Berlin werden zum ersten Mal 5 Sozialdemokraten als Stadtverordnete gewählt.

2. Jan 1884

Die erste Ausgabe von »Der Wahre Jacob«, ein politisch-satirisches Blatt, erscheint im Verlag J. H. W. Dietz.

l. April 1884

Die erste Nummer des »Berliner Volksblatt« kommt heraus. Die Sozialdemokratie versucht damit eine legale Zeitung aufzubauen.

26. April 1884

Mit einer Novellierung des Gesetzes über die freien Hilfskassen werden die Befugnisse der Kassen beschränkt und die Rechte der Aufsichtsbehörden erweitert. Die Hilfskassen haben Ende 1885 über 730 000 Mitglieder.

12. Mai 1884

Der Reichstag stimmt mit 189 gegen 157 Stimmen einer Verlängerung des Sozialistengesetzes um weitere zwei Jahre zu. Die Kommission hat mit zehn gegen zehn Stimmen für eine Ablehnung plädiert. Gegen das Gesetz spricht sich die Mehrheit der Deutsch-Freisinnigen-Fraktion und die des Zentrums aus. Bei den Beratungen setzt der Minister R. v. Puttkamer die anarchistischen Attentate mit den Zielen der Sozialdemokratie gleich. A. Bebel entgegnet ihm darauf: Die Anarchisten seien nur möglich geworden durch das Sozialistengesetz, und die Väter des Sozialistengesetzes seien zugleich die Väter der Anarchisterei.

6. Juli 1884

Das erste Unfallversicherungsgesetz tritt in Kraft. Die Sozialdemokraten hatten gegen das Gesetz gestimmt, weil nicht alle Arbeiter in die Haftpflicht einbezogen werden und die Unternehmer nicht die ganze Prämie zu zahlen brauchen.

16. Sept. 1884

Nach einem Beschluß des Chemnitzer Landgerichts wird gegen die Teilnehmer am Kopenhagener Parteikongreß eine erneute Untersuchung eingeleitet.

18. Sept. 1884

Der Bundesrat beschließt die Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes für Berlin, Hamburg und Umgebung sowie Leipzig und Umgebung für ein weiteres Jahr.

Anf. Okt. 1884

F. Engels, »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen« erscheint.

28. Okt. 1884

Die Sozialdemokraten erringen bei den Reichstagswahlen große Erfolge. 549 990 Stimmen = 9,7 % werden für sie abgegeben, das sind 76 % mehr als 1881. Sie gewinnen insgesamt 24 Mandate. Der Wahlkampf hatte diesmal nicht wieder unter so starker polizeilicher Behinderung zu leiden. Der Reichstag hatte zudem beschlossen, daß die Anmeldung einer Wahlversammlung durch einen Sozialdemokraten und mit einem sozialdemokratischen Redner nicht unter die Bestimmungen des Sozialistengesetzes falle. Mit der Leitung des Wahlkampfes waren A. Bebel, I. Auer, W. Hasenclever, C. Grillenberger und W. Liebknecht beauftragt. Im Wahlmanifest hatte sich die Partei gegen die Schutzzollpolitik, Zünfteleien und Kolonialschwärmerei gewandt.
Das Zentrum behält bei der Wahl seine dominierende Stellung, die Deutsch-Freisinnigen verlieren zahlreiche Stimmen und Mandate. Nach diesem Wahlerfolg der Sozialdemokraten werden die Bestimmungen des Sozialistengesetzes wieder schärfer angewandt; nach der kaiserlichen Botschaft von 1881 war eine »milde Praxis« durchgeführt worden.

26. Nov. 1884

O. v. Bismarck erklärt im Reichstag: »Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe, und wenn nicht eine Menge sich vor ihnen fürchtete, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren.«

Dez. 1884

In der Partei, vor allem in der Reichstagsfraktion, beginnen heftige Auseinandersetzungen um die Haltung zur sog. Dampfersubventionsvorlage, d.h. ob die vorgesehene Subventionierung von Dampferlinien nach Asien, Australien u. Afrika als eine reine Verkehrsfrage oder als eine mit der Außenpolitik des Reiches eng zusammenhängende Frage zu behandeln ist. Die letztere Auffassung einer Minderheit unter A. Bebel, W. Liebknecht und G. v. Vollmar setzt sich schließlich durch. Am 23. März 1885 nimmt der Reichstag, gegen das geschlossene Votum der sozialdemokratischen Fraktion, die Vorlage an.

29. Jan. 1885

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion reicht einen Arbeiterschutzgesetzentwurf ein. Darin fordert sie unter anderem: den Zehnstundentag, Jugend- und Frauenschutz, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, die Einrichtung eines Reichsarbeitsamtes, Gründung von Arbeitskammern. Der Reichstag berät am 11. März über den Entwurf. In der Kommission wird das Reichsarbeitsamt abgelehnt, die befürwortete Vermehrung der Fabrikinspektoren vom. Bundesrat abgelehnt, die Resolution über die obligatorische Einführung von paritätisch besetzten Gewerbegerichten dem Reichskanzler überwiesen.

April 1885

Die Mehrheit der Reichstagsfraktion spricht dem »Sozialdemokrat« das Recht ab, die Haltung der Fraktion während der Dampfersubventionsdebatte zu kritisieren. Sie verlangt die Kontrolle über die Zeitung, muß aber auf starken Druck der Parteimitglieder diese Forderung zurücknehmen.

21.Juni 1885

K. Höchberg, geboren 8. September 1853 in Frankfurt a. M., Philosophiestudium, Herausgeber von »Die Zukunft« 1877/78, »Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« 1879/81, unterstützte die SPD mit beachtlichen finanziellen Mitteln, in Zürich gestorben.

Anf. Juli 1885

Der von F. Engels bearbeitete 2. Band von »Das Kapital« erscheint. Das erste Heft der »Sozialdemokratischen Bibliothek«, Sammlung von Abhandlungen über Theorie und Geschichte des Sozialismus: »Gesellschaftliches und Privat-Eigentum«, ein Beitrag zur Erläuterung des sozialistischen Programms, wird im Verlag der Volksbuchhandlung Hottingen-Zürich veröffentlicht; von E. Bernstein verfaßt, erscheint aber anonym. Es folgen unter anderen K. Marx: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß in Köln; A. Bebel: Unsere Ziele; W. Wolff: Die schlesische Milliarde; F. Lassalle: Arbeiterprogramm; J. Dietzgen: Die Zukunft der Sozialdemokratie; F. Engels: Zur Wohnungsfrage; W. Liebknecht: Hochverrat und Revolution.
Ab 1888 werden die Hefte in London von der German Cooperative Publishing Co. herausgegeben.

1886

Eine neue Belebung der Wirtschaft beginnt.

Trotz starker Behinderungen sind bereits wieder über 80 000 Arbeiter in 35 Gewerkschaften organisiert.

18. Febr. 1886

Im Reichstag enthüllt P. Singer, daß ein Polizist F. Ihring-Mahlow sich unter dem falschen Namen Mahlow in einen Berliner Arbeiterverein eingeschlichen habe, um die Vereinsmitglieder zu provozieren. P. Singer wird daraufhin am 3. Juli aus Berlin ausgewiesen, doch das Landgericht spricht am 12. Oktober zwei Sozialdemokraten frei, die angeklagt waren, P. Singer das Material zu seiner Erklärung gegeben zu haben, weil dessen Mitteilungen wahr gewesen seien.

31. März 1886

Die Verlängerung des Sozialistengesetzes um weitere zwei Jahre wird mit 173 gegen 146 Stimmen beschlossen.

11. April 1886

Innenminister R. v. Puttkamer erläßt eine Zirkularverfügung - den sogenannten »Streikerlaß« - über das Verhalten der Behörden bei Arbeitseinstellungen. Gegen Streiks, von denen anzunehmen ist, daß sie durch die sozialdemokratische Agitation angestiftet sind oder auch in ihrem weiteren Fortgange der Leitung derselben verfallen, die somit ihren wirtschaftlichen Charakter abstreifen und einen revolutionären annehmen, soll mit voller Stärke vorgegangen werden.

1. Mai 1886

In Industriestädten der USA beginnt ein von der Amerikanischen Arbeiter-Föderation angeregter Streik für den Achtstundentag. Die Führer der Chicagoer Arbeiterbewegung werden zum Tode verurteilt.

11. Mai 1886

Die preußische Regierung erläßt eine Bekanntmachung, nach der auf Grund des Sozialistengesetzes in Berlin und Umgebung Versammlungen, außer Wahlversammlungen, in denen öffentliche Angelegenheiten erörtert werden sollen, der schriftlichen Genehmigung der Ortspolizeibehörde bedürfen. Auf Grund dieser Bekanntmachung werden allein in Berlin im Mai 47 Versammlungen polizeilich verboten, 11 aufgelöst. Der »Sozialdemokrat« warnt die Parteimitglieder, Gewalttätigkeiten zu begehen.

Mai/Juni 1886

Auf Grund des § 8 des Vereinsgesetzes, nach dem Frauen nicht Mitglieder von politischen Vereinen sein dürfen, werden in Berlin mehrere Arbeiterinnenvereine geschlossen, darunter der »Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen«.

26. Juli bis
4. Aug. 1886

Vor dem Landgericht in Freiberg/Sachsen sind I. Auer, A. Bebel, J.H.W. Dietz, K. Frohme, St. Heinzel, Ph. H. Müller, C. Ulrich und G. v. Vollmar angeklagt, an einer geheimen Verbindung teilgenommen zu haben. Diese geheime Verbindung wird in den Kongressen von Wyden und Kopenhagen gesehen. Das Freiberger Gericht verurteilt I. Auer, A. Bebel, K. Frohme, C. Ulrich, L. Viereck und G. v. Vollmar zu je neun, die übrigen zu je sechs Monaten Gefängnis. Diesem »Geheimbundprozeß« folgen bald zahlreiche weitere Prozesse, nachdem die Staatsanwälte in einer Zirkularverfassung auf das Urteil hingewiesen wurden und ihnen aufgetragen worden ist, überall in gleicher Weise gegen die Sozialdemokraten vorzugehen.

16. Sept. 1886

Im Rechenschaftsbericht der sächsischen Regierung zur Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes für Leipzig und Umgebung wird der außerordentliche Aufschwung des Fachvereinswesens festgestellt. In Leipzig sei die Zahl dieser Vereine von 21 auf 35 gestiegen. Diese Fachvereine ständen im engsten Zusammenhang mit der Sozialdemokratie, zum Teil seien sie sogar Schöpfungen und Organe derselben.

9. Dez. 1886

J. Ph. Becker, geboren 20. März 1809 in Frankenthal, Bürstenbinder, Handwerksmeister, Teilnehmer an der Revolution 1848/49, in die Schweiz emigriert, 1866-1871 Herausgeber von »Der Vorbote«, in Genf gestorben.

16. Dez. 1886

Über Stadt- und Landkreis Frankfurt a. M. und Hanau, den Kreis Höchst und den Obertaunuskreis wird der kleine Belagerungszustand verhängt.

1887

Im Verlag J. H. W. Dietz erscheint das erste Buch der »Internationalen Bibliothek«: E. B. Aveling: Die Darwinsche Theorie. Als zweites K. Kautsky: Karl Marx' ökonomische Lehren (1887).

21. Jan. 1887

In dem gegen 35 Frankfurter Sozialisten geführten Prozeß wegen Teilnahme an einer geheimen Verbindung werden Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr verhängt.

26. Jan. 1887

In Danzig werden zahlreiche Sozialisten wegen Teilnahme an einer geheimen Verbindung verhaftet. Das gleiche geschieht Anfang Februar auch in Magdeburg und in Freiburg/Breisgau.

15. Febr. 1887

Über Stettin mit Grabow, Altdamm und den umliegenden Amtsbezirken wird auf ein Jahr der kleine Belagerungszustand verhängt. Nach der polizeilichen Auflösung einer sozialdemokratischen Wahlversammlung war es zu Zusammenstößen gekommen, bei denen auch Militär eingriff.

21. Febr. 1887

Nach einem Wahlkampf voller Polizeieingriffe vergrößern die Sozialdemokraten ihren Stimmenanteil gegenüber der letzten Reichstagswahl, verlieren aber 13 Mandate, da in den Stichwahlen die Freisinnigen in den meisten Fällen für die konservativen oder nationalliberalen Kandidaten stimmen. Die Sozialdemokratie erhält 763 128 Stimmen, das sind 10,1 % der gültigen Stimmen. Bei einer gerechten Wahlkreiseinteilung hätten sie rund 40 Mandate erhalten müssen. Sieger der Reichstagswahlen sind Konservative und Nationalliberale, aber auch das Zentrum gewinnt Stimmen und bleibt stärkste Partei mit 22,6 %. Die freisinnige Partei verliert erneut.

3. März 1887

In der Thronrede zur Eröffnung des Reichstages wird ein weiterer Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung angekündigt.

17. u. 28. Mai 1887

In Magdeburg und Danzig werden zusammen 51 Sozialdemokraten wegen Teilnahme an einer geheimen Verbindung zu Gefängnisstrafen zwischen neun Monaten und zwei Wochen verurteilt.

15. Juli 1887

Die Polizei verhaftet in Berlin das aus sieben Personen bestehende Zentralkomitee, das die Spitze der geheimen Organisation der Berliner Sozialdemokratie bildet.

30. Aug. 1887

In Altona werden fünf Sozialdemokraten, angeklagt an einer geheimen, staatsgefährlichen Verbindung teilgenommen zu haben, zu je fünf Monaten Gefängnis verurteilt.

2. Okt. 1887

Die erste Nummer des »Hamburger Echos« erscheint.

2./6. Okt. 1887

In St. Gallen (Schweiz) findet ein Parteikongreß der Sozialdemokratie statt mit 79 Delegierten, darunter 74 aus Deutschland. Tagesordnung: Rechenschaftsbericht des Vorstandes der Reichstagsfraktion (A. Bebel); Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten in Reichstag und Landtag (A. Bebel, W. Hasenclever, P. Singer); Stellung der Partei zu den Reichssteuer- und Zollfragen in Verbindung mit der Sozialreform der Regierung (I. Auer, K. Grillenberger); Stellung zu den bevorstehenden Wahlen (W. Liebknecht); Antrag auf Einberufung eines internationalen Arbeiterkongresses für 1888 (A. Bebel); Stellung der Sozialdemokratie zu den Anarchisten (W. Liebknecht).

Der Parteitag bestätigt seine Stellung zur parlamentarischen Tätigkeit. Das Hauptgewicht sei auf die kritische und agitatorische Seite zu legen, die positive gesetzgeberische Tätigkeit nur unter der Voraussetzung zu pflegen, daß über die Klassenlage der Arbeiter in politischer wie sozialer Hinsicht keine Illusion geweckt werde.

Der Parteitag distanziert sich erneut scharf von der Theorie und Praxis des Anarchismus und bezeichnet diese als antisozialistisch. Schutzzölle und indirekte Steuern werden abgelehnt.

Mit keiner »Bourgeois-Partei« sollen künftig, auch nicht bei Stichwahlen, Wahlkompromisse eingegangen werden. Für 1888 wird in Übereinstimmung mit französischen und englischen Sozialisten die Einberufung eines internationalen Arbeiter-Kongresses in Aussicht genommen, um gemeinsame Schritte für eine internationale Arbeiterschutz-Gesetzgebung zu besprechen. Der Parteitag setzt eine Kommission zur Überarbeitung des Parteiprogrammes ein: I. Auer, A. Bebel und W. Liebknecht.

1888

»Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik«, Vierteljahrsschrift (später Zeitschrift) zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder, herausgegeben von H. Braun, erscheint zum ersten Mal. Vom 19. Band an (1904) wird die Redaktion von W. Sombart, M. Weber, E. Jaffé übernommen. Seitdem erscheint die Zeitschrift unter dem Titel »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«.

Der redigierte Sonderabdruck aus »Die Neue Zeit« (April/Mai 1886) von F. Engels' Aufsatz »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« wird veröffentlicht.

9. Febr. 1888

Der Reichstag verabschiedet einen Gesetzentwurf - eingebracht von den Konservativen und Nationalliberalen -, die bisherige dreijährige Legislaturperiode auf fünf Jahre zu verlängern.

13. Febr. 1888

Das preußische Abgeordnetenhaus nimmt den Antrag der Kartellparteien - Konservative und Nationalliberale - auf Einführung der fünfjährigen Legislaturperiode an.

17. Febr. 1888

Der Reichstag nimmt, nachdem die Kommission für das Sozialistengesetz alle vorgeschlagenen Verschärfungen seitens der Regierung (Verlängerung bis 30. September 1893, höhere Strafen für sozialdemokratische Agitatoren, Entzug der Staatsangehörigkeit) abgelehnt hat, die Vorlage auf Verlängerung des Sozialistengesetzes auf zwei Jahre an. P. Singer legt bei den Beratungen neues Beweismaterial über Polizeispitzel und -provokateure vor.

2. März 1888

Vor dem Berliner Landgericht werden sechs Sozialdemokraten wegen der Teilnahme an geheimen Verbindungen zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt.

15. April 1888

J. Dietzgen, geboren 9. Dezember 1828 in Blankenberg bei Köln, Lohgerber, sozialistischer Philosoph, in den USA gestorben. Er schrieb unter anderem: »Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit« .

18. April 1888

Auf Druck der deutschen Regierung weist die Schweiz die Redaktion und Verwaltung des »Sozialdemokrat«, E. Bernstein, J. Motteler, H. Schlüter und L. Tauscher aus. Zahlreiche Sympathiekundgebungen werden abgegeben. Schweizer Bürger sichern zunächst das Weitererscheinen der Zeitung.

15.Juni 1888

Wilhelm II. wird nach dem Tod von Wilhelm I. (9. März 1888) und Friedrich III. Deutscher Kaiser.

1. Okt. 1888

Der »Sozialdemokrat« wird in London herausgegeben. Als Konkurrenz gegen ihn werden in Deutschland Arbeiterzeitungen mit neutraler Tendenz geduldet.

1889

Die ersten Hefte der von M. Schippel herausgegebenen »Berliner Arbeiterbibliothek« erscheinen. Zu den Autoren gehören M. Schippel, P. Ernst, P. Kampffmeyer und Clara Zetkin.

28. Febr. 1889

Eine Konferenz von Vertretern sozialistischer Parteien, von der deutschen Sozialdemokratie nach Den Haag einberufen, beschließt einen Internationalen Arbeiterkongreß nach Paris einzuberufen, der »allen Arbeitern und Sozialisten der verschiedenen Länder offensteht«.

18. März 1889

Die Berliner »Volkszeitung« - Redakteure sind F. Mehring und G. Ledebour - wird wegen eines Leitartikels zum 18. März auf Grund des Sozialistengesetzes verboten. Das Verbot wird durch Entscheid der Reichskommission am 10. April 1889 aufgehoben.

3. Mai 1889

Der größte deutsche Streik im 19. Jahrhundert beginnt im Ruhrgebiet. Um den 10. Mai streiken rund 100 000 Bergarbeiter. Die Bergarbeiter fordern die achtstündige Schicht. Militär wird entsandt. Es kommt zu einigen blutigen Zusammenstößen. Wilhelm II. warnt bei einem Empfang einer Bergarbeiter-Delegation die Bergarbeiter energisch vor jeder Verbindung mit sozialdemokratischen Kreisen, denn »für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit einem Reichs- und Vaterlandsfeind«.

Am 10. Mai treten die Bergarbeiter in Waldenburg/Schlesien, am 13. Mai die bei Aachen und im Saargebiet und in der zweiten Hälfte des Monats die niederschlesischen Bergleute in den Streik. Mitte des Monats streiken über 100 000 Mann, das sind 90 % der Bergarbeiter. Anfang Juni werden die Streiks beendet, nachdem es zu Kompromissen zwischen den Forderungen der Bergarbeiter und den Grubenbesitzern gekommen ist.

24. Mai 1889

Der Reichstag nimmt den Gesetzentwurf über die Invaliditäts- und Altersversicherung gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, des Freisinns und der Mehrheit der Zentrumsfraktion an. Die Gewährung einer Invalidenrente ist an den Nachweis der Erwerbsunfähigkeit und erst nach fünfjähriger Beitragszahlung möglich. Altersrente wird ab dem 70. Lebensjahr und nach dreißigjähriger Beitragszahlung gewährt.

Die Sozialdemokratie hatte die Herabsetzung der Altersgrenze auf 65 statt 70 Jahre, eine ausreichende Entschädigung der vorübergehend oder dauernd Arbeitsunfähigen, eine gerechtere Lastenverteilung zwischen Unternehmern und Arbeitern sowie eine freiere Selbstverwaltung der Versicherten verlangt. Das Gesetz tritt am 1. Januar 1891 in Kraft.

3. Juli 1889

W. Hasenclever, geboren am 19. April 1837 in Arnsberg/Westfalen, Lohgerber, 1866 Sekretär des ADAV, 1. Juli 1871 Präsident des ADAV, 1875/76 Vorsitzender der SDAP, 1876-78 Redakteur des »Vorwärts«, 1869-1871 und 1874-1888 MdR, in Berlin gestorben.

14./20. Juli 1889

Nachdem es zwischen den verschiedenen Richtungen, vor allem bei den französischen und englischen Sozialisten, zu keiner Einigung gekommen war, werden in Paris am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille zwei internationale Arbeiterkongresse mit derselben Tagesordnung eröffnet. An dem von der deutschen Sozialdemokratie unterstützten Kongreß nehmen rund 400 Delegierte, darunter 82 Deutsche, teil. Er wird zum Gründungskongreß der II. Internationale.

Tagesordnung: Berichterstattung über die Lage der Arbeit und die sozialistische Bewegung in den verschiedenen Ländern (u. a. V. Adler, A. Bebel); Diskussion über die Abschaffung der stehenden Heere und die allgemeine Volksbewaffnung (E. Vaillant u. a.); Diskussion über die Mittel und Wege, um die Forderungen des Arbeitsschutzes zu verwirklichen (u. a, A. Bebel); Diskussion über die internationale Kundgebung zum 1. Mai 1890 (R. F. Lavigne).

Die Delegierten fordern, um sich von den Anarchisten abzugrenzen, die Entwicklung und Stärkung der politischen Arbeiterparteien, die für die Eroberung der politischen Macht kämpfen. Sie fordern ferner die Abschaffung des stehenden Heeres, die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung und erklären den Frieden als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiterbewegung. Auf Antrag des Franzosen R. F. Lavigne nimmt der Kongreß eine Resolution an: »Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem Tag die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen. . .« Da eine solche Kundgebung bereits von der American Federation of Labor für den 1. Mai 1890 beschlossen worden war, wird der 1. Mai angenommen. Die Durchführung wird den einzelnen Parteien überlassen.

Für den Kongreß ist die Schaffung einer wirksamen Arbeiterschutz-Gesetzgebung für alle Länder mit moderner Produktion eine unabwendbare Notwendigkeit. Als Grundlage dafür betrachtet der Kongreß u. a.: den Achtstundentag, Verbot der Kinderarbeit unter 14 Jahren und der Nachtarbeit für Frauen; eine mindestens 36 Stunden zusammenhängende Ruhezeit pro Woche; Verbot der Industrien und Arbeitsmethoden, welche für die Arbeiter besonders schädlich sind; eine umfassende staatliche Kontrolle. Außerdem erklärt der Kongreß: Es ist Pflicht aller Arbeiter, die Arbeiterinnen als gleichberechtigte Mitkämpferinnen anzusehen und dem Grundsatz, gleicher Lohn für gleiche Leistungen - auch in bezug auf die Arbeiterinnen - zur Geltung zu verhelfen.

Die Abstimmung auf den internationalen Kongressen erfolgt nach Ländern.

20. Juli 1889

Das Deutsche Reich kündigt den Niederlassungsvertrag mit der Schweiz, da die Schweiz Deutschen Wohnrecht gegeben habe ohne deutsches Leumundszeugnis und nichts unternommen habe, um die von ihr aus betriebene heftige und umfangreiche sozialdemokratische Agitation zu verhindern.

18. Aug. 1889

200 Delegierte beschließen die Gründung des Verbandes zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen. Aus ihm entwickelt sich der Deutsche Bergarbeiterverband.

23. Okt. 1889

Das Wahlprogramm der Sozialdemokraten für die kommenden Reichstagswahlen wird veröffentlicht. Die Fraktion werde die Regierungen und herrschenden Klassen drängen, für eine wirksame internationale Arbeiterschutz-Gesetzgebung im Sinne der Beschlüsse des internationalen Arbeiterkongresses einzutreten. Sie werde ferner den Kriegsschürereien und Nationalitäten-Verhetzungen entgegentreten. Es komme vor allem darauf an, der jetzigen reaktionären Reichstagsmehrheit das Heft aus der Hand zu nehmen, da die Lasten, die speziell die Arbeiterklasse benachteiligten, sonst ins schier Unerträgliche steigen würden.

26. Okt. 1889

Der Entwurf eines neuen Sozialistengesetzes sieht wesentliche Verschärfungen vor, darunter den Wegfall der Geltungsdauer des Gesetzes.

7. Dez.1889

Die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages teilt mit, daß dem zentralen Wahlkomitee A. Bebel, K. Grillenberger, W. Liebknecht, H. Meister und P. Singer angehören.

30. Dez. 1889

Von 87 wegen Geheimbündelei zum Zwecke der Verbreitung des »Sozialdemokrat« angeklagten Elberfelder Sozialdemokraten werden 44 zu Gefängnisstrafen von durchschnittlich drei Monaten verurteilt.

25. Jan. 1890

Der Reichstag lehnt mit 169 gegen 98 Stimmen das Sozialistengesetz ab. Mit Nein stimmt auch die konservative Fraktion wegen der von der Reichstagskommission wiederhergestellten beschränkten Geltungsdauer des Gesetzes.

Die sozialdemokratischen Parteimitglieder veranstalten nach der Ablehnung spontane Freudenfeiern.

Die Bilanz des Gesetzes ergibt das Verbot von 155 periodischen und 1200 nicht periodisch erscheinenden Drucksachen bzw. -schriften, darunter die umfangreiche Broschürenliteratur, rund 900 Ausweisungen, davon 500 Familienväter, 1000 Jahre Gefängnis, zu denen 1500 Personen verurteilt waren.

4. Febr. 1890

Zwei Wochen vor den Reichstagswahlen veröffentlicht der »Reichsanzeiger« zwei kaiserliche Erlasse, in denen sich der Kaiser für einen weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungs- und -schutzgesetzgebung ausspricht. Es sollen gesetzliche Bestimmungen geschaffen werden, nach denen Vertreter der Arbeiterschaft an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten mit den Arbeitgebern beteiligt werden sollen. Diese Erlasse wurden gegen den Widerstand 0. v. Bismarcks ausgearbeitet und veröffentlicht.

20. Febr. 1890

Bei den Reichstagswahlen erringt die Sozialdemokratie einen großen Erfolg. Auch die anderen Oppositionsparteien, Freisinnige und Süddeutsche Volkspartei, erzielen beachtliche Stimmengewinne. Die Konservativen und Nationalliberalen erleiden starke Verluste. Für die Sozialdemokraten werden rund 1,4 Millionen Stimmen, über 600 000 Stimmen mehr als 1887, abgegeben. Damit entfallen fast 20 % aller Stimmen auf die Sozialdemokratie. Sie ist so die stärkste Partei in Deutschland geworden; doch sie erobert nur 35 Mandate. Bei gerechter Stimmenwertung müßte sie 78 Mandate erhalten. In den Stichwahlen haben die Freisinnigen meist die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützt. Das sozialdemokratische Zentralkomitee hat entgegen dem Beschluß von St. Gallen die Mitglieder aufgefordert, in den Stichwahlen die Kandidaten der Oppositionsparteien zu unterstützen, um möglichst viele Gegner des Sozialistengesetzes in den Reichstag zu bringen,

15./29. März 1890

Eine von der deutschen Regierung einberufene internationale Arbeiterschutzkonferenz tagt ohne nennenswertes Ergebnis in Berlin.

20. März 1890

Entlassung 0. v. Bismarcks; Nachfolger wird General L. v. Caprivi.

23. März 1890

Berliner Parteimitglieder fordern im »Berliner Volksblatt« die Arbeitsniederlegung am 1. Mai. Die Reichstagsfraktion spricht sich am 13. April für Arbeitsruhe dort aus, wo dies ohne Schwierigkeiten möglich ist.

1. Mai 1890

Die Arbeitsniederlegung zahlreicher Arbeiter in Hamburg wird mit einer großen durch den Arbeitgeber-Verband Hamburg-Altona vorbereiteten Aussperrung beantwortet.

Auch in anderen Orten in Deutschland wird demonstriert oder gestreikt.

8. Mai 1890

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion fordert in einem Entwurf eines Arbeiterschutz-Gesetzes für alle Arbeiter über 16 Jahre den zehnstündigen Arbeitstag, vom 1. Januar 1894 ab den neunstündigen und vom 1. Januar 1898 ab den Achtstundentag. Die Sozialdemokratie verlangt auch die Errichtung von Arbeitsämtern, Arbeitskammern und kostenlosen Arbeitsnachweisen.

28. Juni 1890

Der Reichstag beschließt die Errichtung von Gewerbegerichten. Die Schiedsstellen werden dadurch erweitert. Sie sind jetzt auch für Bergarbeiter, Arbeiter staatlicher Betriebe und Heimarbeiter zuständig.

6. Aug. 1890

In Erfurt wird der »Gesamtverband der evangelischen Vereine Deutschlands« gegründet. Zu seinen Zielen gehört die Bekämpfung der Sozialdemokratie. 1907 zählt der Verband über 90 000 Mitglieder, zu denen noch die rund 35 000 Mitglieder von evangelischen Arbeitervereinen zu rechnen sind, die nicht dem Gesamtverband angeschlossen sind.

8. Aug. 1890

In Berlin wird die »Freie Volksbühne« gegründet. Ihre Mitbegründer sind B. Wille, W. Bölsche, 0. E. Hartleben J. Hart, C. Schmidt, C. Baake, Ottilie Baader, 0. Brahm, C. Wildberger. Als erstes Stück wird H. Ibsens »Stützen der Gesellschaft« aufgeführt.

27. Sept. 1890

Die letzte Nummer des »Sozialdemokrat« wird veröffentlicht. Es erscheinen 60 Parteizeitungen mit rund 250 000 Abonnenten, 41 gewerkschaftliche Zeitungen mit 200 000, »Die Neue Zeit« mit 2500 Abonnenten, ein Unterhaltungsblatt in Hamburg, »Der Gesellschafter«, mit 19000 und zwei Witzblätter mit über 107 000 Abonnenten.

1. Okt. 1890

Erster Tag ohne Sozialistengesetz. »Die Neue Zeit« wird Wochenschrift. Der Zweck des Sozialistengesetzes, die Arbeiter der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften zu entfremden, wird nicht erreicht. Im Gegenteil. Dieses Gesetz hat besonders negative Folgen für die weitere Haltung der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen gegenüber dem Staat. Es hat die Ansätze einer Integration der Arbeiterschaft in den bestehenden Staat für Jahrzehnte zunichte gemacht. Das Gesetz stellt die sozialdemokratische Arbeiterschaft als »vaterlandslose Gesellen« außerhalb der Legalität. Daraus erwächst eine vielfach von Haß erfüllte Staatsfeindschaft. Die bewußte Ausschaltung eines großen Teils der Arbeiterschaft überzeugt diese, daß die Arbeiterbewegung bei ihrem Kampf um Emanzipation auf keine Bundesgenossen rechnen kann. Sie ist in wachsendem Maße mit K. Marx der Auffassung, daß ihre Befreiung das Werk der Arbeiterklasse selbst sein müsse.

In den von K. Kautsky und E. Bernstein popularisierten Lehren und Begriffen von K. Marx und F. Engels finden die Arbeiter in zunehmendem Maße das System, das ihnen die Hoffnung für den Sieg der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vermittelt.

Gerade nach den Erfahrungen des Sozialistengesetzes konzentriert sich die Sozialdemokratie, diesen Sieg auf parlamentarischem Weg zu erringen. Die Partei ist dabei besonders bedacht, nicht ungesetzlich zu handeln, da noch lange die Furcht vor einem erneuten Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung besteht.

12./18. Okt. 1890

Der erste Parteitag der Sozialdemokratie nach Aufhebung des Sozialistengesetzes tagt in Halle mit 413 Delegierten und 17 ausländischen Gästen.

Tagesordnung: Die Organisation der Partei (I. Auer); das Programm der Partei (W. Liebknecht); die Parteipresse (l. Auer und A. Bebel); die Stellung der Partei zu Streiks und Boykotts (K. Grillenberger und K. Kloß).

Die Agitation bei den allgemeinen Wahlen und die Tätigkeit der gewählten Abgeordneten im Reichstag sind nach A. Bebels Überzeugung das Allerwesentlichste und das wirksamste Agitationsmittel für die großartige Entwicklung der Partei unter dem Sozialistengesetz gewesen. Die Partei habe alle Ursache, die bisherige Taktik auch fernerhin beizubehalten.

Der Parteitag nimmt ein neues Organisationsstatut an: Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ist jede Person, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei nach Kräften unterstützt. Aus vereinsrechtlichen Gründen wird die Organisation auf dem Vertrauensmännersystem aufgebaut. Der Arbeiterwahlverein in den Wahlkreisen und Städten ist meistens die lokale Organisation. Die Vertrauensmänner müssen in öffentlichen Versammlungen gewählt werden.

Oberste Vertretung der Partei ist der Parteitag. Mitglieder des Reichstages und der Parteileitung haben in ihm in allen die parlamentarische und die geschäftliche Leitung der Partei betreffenden Fragen nur beratende Stimme. Die Parteileitung besteht aus zwölf Personen: Zwei Vorsitzenden, zwei Schriftführern, einem Kassierer und sieben Kontrolleuren. Sitz der Parteileitung ist Berlin. Zum offiziellen Parteiorgan wird das »Berliner Volksblatt« bestimmt, mit der Auflage, vom 1. Januar 1891 unter dem Titel »Vorwärts - Berliner Volkszeitung, Central-Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« zu erscheinen. Der Parteivorstand wird beauftragt, dem nächsten Parteitag den Entwurf eines revidierten Parteiprogramms vorzulegen.

Streiks und Boykotts werden als unumgängliche Waffen der Arbeiterklasse anerkannt, dazu sollen sich die Arbeiter gewerkschaftlich organisieren, möglichst in zentralen Verbänden. Der Parteitag empfiehlt allen Parteigenossen kräftige Unterstützung der gewerkschaftlichen Bestrebungen. Die parlamentarischen Vertreter werden beauftragt, dafür einzutreten, daß das volle Koalitions- und Vereinsrecht erreicht wird.

Erste und oberste Aufgabe der Parteipresse muß sein, die Arbeiter aufzuklären und zum Klassenbewußtsein zu erziehen; bei Gründung von neuen Parteiblättern Vorsicht walten zu lassen und zu prüfen, ob die Existenz aus eigenen Mitteln gegeben ist und vor allem, daß die notwendigen geistigen, technischen und administrativen Kräfte zur Leitung eines Blattes vorhanden seien. In die Wahlagitation sei einzutreten für den Reichstag, die Landtage oder die Gemeindevertretungen, wo immer Erfolgsaussichten bestehen.

Der 1. Mai ist dauernd ein Feiertag der Arbeiter.

Die Reichstagsfraktion soll wie bisher die prinzipiellen Forderungen der Sozialdemokratie gegenüber den bürgerlichen Parteien und dem Klassenstaat rücksichtslos vertreten, ebenso aber auch die auf dem Boden der heutigen Gesellschaft möglichen Reformen erstreben, ohne über die Bedeutung dieser positiven gesetzgeberischen Tätigkeit für die Klassenlage der Arbeiter in politischer wie ökonomischer Hinsicht Illusionen zu wecken.

Während der Beratungen kommt es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Delegierten der in Opposition zur sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stehenden »Jungen«.

In den Parteivorstand werden bei 368 gültigen Stimmen gewählt: als Vorsitzende: P. Singer (368), A. Gerisch (357), als Schriftführer: I. Auer (368), R. Fischer (364), als Kassierer: A. Bebel (367), W. Liebknecht wird als Chefredakteur des offiziellen Parteiorgans bestätigt und nimmt als solcher mit beratender Stimme an den Parteivorstandssitzungen teil. Als Kontrolleure werden gewählt: E. Dubber (359), F. Herbert (339), F. Ewald (336), A. Kaden (326), A. Jacobey (294), G. Schulz (168), C. Behrend (159).

Kurz nach dem Parteitag wird die Parteibuchhandlung »Vorwärts« zur Förderung des Vertriebes und der Neuherausgabe der Parteiliteratur gegründet.

Nov.1890

In der Zentrumspresse wird ein »Aufruf an das katholische Volk« veröffentlicht, in dem die Gründung des »Volksvereins für das katholische Deutschland« angekündigt wird. Sein Zweck sei es, »die Irrtümer und Umsturzbestrebungen auf sozialem Gebiet zu bekämpfen und die christliche Gesellschaftsordnung zu verteidigen«. Die Zentrale des Vereins wird Mönchen-Gladbach.

16./17. Nov. 1890

In Berlin tagt eine Gewerkschaftskonferenz. Bei Ende des Sozialistengesetzes bestehen - trotz aller Verfolgungen - 58 Zentralverbände mit 3872 Zweigvereinen und rund 300 000 Mitgliedern. Eine Kommission wird beauftragt, einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß einzuberufen und ein Organisationsstatut auszuarbeiten. Die Kommission konstituiert sich als Generalkommission. Vorsitzender wird C. Legien. Mitglieder: A. v. Elm, A. Dammann, K. Kloß, Th. Glocke, Th. Schwartz, Emma Ihrer. Sitz der Kommission wird Hamburg.


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